Bis Naomi Klein in Doppelganger ein Fotoposting von „der anderen Naomi“ auf der rechten Social-Media-Plattform Gettr beschreibt, in dem diese ihre erste Langwaffe als „manageable“ und „ladylike“ bewirbt, ist viel geschehen. Eindrücklich stellt die wortreiche Autorin auf über 400 Seiten Aufzeichnungen und Analyseansätze zusammen, wie die Verwechslungen mit der ehemals feministischen Literaturwissenschaftlerin und erfolgreichen Autorin, heute einflussreichen rechten Verschwörungsdenkerin Naomi Wolf während Occupy Wall Street ihren Anfang nahmen und wie sie sich insbesondere während der Pandemie in den sozialen Medien intensivierten. Wolf sieht Klein optisch nicht schockierend ähnlich, hat sich in den 1990er-Jahren mit feministischen Themen einen Namen gemacht und stieg in der Clinton-Ära in das Establishment auf, bevor sie während der Pandemie ihre politischen Allianzen radikal wechselte und Desinformation zu Masken und Impfausweisen verbreitete. In zehn oder 20 Jahren, wenn die individuellen Erinnerungen verblasst und die Tweets nicht mehr auffindbar sind, wird diese Beschreibung ein substanzielles Dokument sein, denn Klein schildert Wolfs plattformübergreifend dokumentiertes Abdriften anhand zahlreicher Postings, Fox-News-Auftritte, YouTube-Videos und Podcasts, darunter The War Room des international agierenden neofaschistischen Propagandisten Steve Bannon. Ausführlich legt sie dar, wie sich die Themen von Wellness-Influencer*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Impfgegner*innen und Neofaschist*innen überschnitten, ein Phänomen, das William Callison und Quinn Slobodian als „Diagonalismus“ bezeichnet haben. Für Klein sind Verschwörungsinfluencer*innen Doppelgänger*innen des investigativen Journalismus, und Wolf ist „the impresario of the technique“.
Zugleich nutzt die Autorin – bekannt durch ihre globalisierungskritische Branding-Kritik in dem Bestseller No Logo und die Kritik an neoliberalen Wirtschaftsformen in The Shock Doctrine – das aktuelle Buch, um ihre Erfahrungen zu reflektieren und den Inhalt der Bücher auf seine Tauglichkeit für eine Zeitgeistkritik zu prüfen. So befasst sich ein Kapitel damit, wie sie ihre eigene Brand – die sie seit No Logo geworden ist – vor Verwechslungen schützen kann. Denn mittlerweile ist es in Social Media üblich, dass User*innen ihr „digitales Doppel“ zur Markenbildung nutzen, das allerdings auch geklaut werden kann (Klein empfiehlt den Netflix-Film Cam). Durch KI entstehen digitale Versionen einer (feindlich oder kommerziell gestimmten) Doppelgängerschaft: Deepfakes, biometrische Anwendungen und Avatare der „Grief tech“-Industrie. Mit Freud beschreibt sie das Unheimliche an Doppelgänger*innen: „the thing that becomes unfamiliar is you.“ Doppelgänger*innen fungieren literarisch als Warnungen bzw. Vorboten und dienen Klein als Grundlage, um die zeitgenössische „Doppelgängerkultur“ zu untersuchen, insbesondere „the fascist clown state that is the ever-present twin of liberal Western democracies“. Auf der Beobachtungsebene räumt sie zum Teil ein, dass Wolf eine symptomatische Atmosphäre (geisterhaft leere Städte während der Lockdowns) zwar gefühlsmäßig erfasst, aber die falschen, wenngleich viral erfolgreichen Schlüsse („inhuman“) daraus zieht, während Klein in ihren Büchern den Hyperindividualismus und die Strukturen des Kapitalismus kritisiert.
Wie affiziert sie zwischendurch von ihrem Forschungsgegenstand war, verdeutlicht etwa eine Szene während eines Familienurlaubs in Neuseeland: Klein nutzte die erste Gelegenheit bei einer Autofahrt, um verpasste Podcast-Folgen mit „der anderen Naomi“ nachzuholen. Wegen Situationen wie dieser möchte man beim Lesen der Autorin bisweilen empfehlen, Überlegungen wie jene von Mary Shnayien zum wissenschaftlichen Umgang mit rechtem Content zu bedenken.1 Schließlich geht es Klein um persönliche Bewältigungsstrategien, und damit läuft sie Gefahr, die affektive Wirkung des Untersuchungsgegenstands zu wiederholen und an die Leser*innen weiterzugeben. Trotz teils umfänglicher Wiedergabe der Mitteilungen von Wolf managet Klein das meist gut, nicht deren Stil zu imitieren und stattdessen auf die verwendeten Strategien (Branding, historische Analogie, Spiegelung) hinzuweisen, die Unbestimmtheit der Worte („freedom“, „slavery“) herauszustreichen und eine wissenschaftliche Einordnung (Simone Browne, Barbara Ehrenreich, Rodrigo Nunes und andere) vorzunehmen. Klein fügt immer wieder eigene Analysen ein, etwa von „racial role-playing“ in Bezug auf die Verdrehung (und Aneignung) von Unterdrückung, Protest und Symbolen. Insgesamt bietet Doppelganger eine zweifache Analyse an: zum einen eine (Kultur-)Geschichte der Doppelgängerfigur und deren persönlichen, psychologischen und datenkapitalistischen Dimensionen (das Datensubjekt als „digital golem“, Wolf als „dumbpelgänger“); zum anderen die Beschäftigung mit historischen und aktuellen politischen „Doppelungen“. So denkt sie etwa an die nationalsozialistischen Verdrehungen der sozialpolitischen Errungenschaften im Roten Wien oder an Palästina als Israels „Schattenland“. Doppelganger war gerade einmal einen Monat vor dem 7. Oktober erschienen – für Klein daher ein Anlass, das Israel-Palästina-Kapitel zum Doppelgängereffekt auf ihrer Homepage gratis zu veröffentlichen.
Am Ende löst sie das Doppelgängermotiv zugunsten eines Appells für die Anerkennung eines ökologisch-materialistischen „second body“ (Daisy Hildyard) auf, um zu ihrer eigenen Agenda – dem Klimawandel – zurückzukehren. Zugleich hatte sich Wolf zuletzt so stark radikalisiert – siehe Kauf einer Langwaffe –, dass damit die Jahre der Verwechslungen vorüber scheinen.
1 Mary Shnayien, Sichere Räume, reparative Kritik. Überlegungen zum Arbeiten mit verletzendem Material, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 26 (1/2022), S. 54–65.