Wolfsburg. Money to find, so lautete der Titel einer frühen Videoarbeit von Anna Witt, damals noch Kunststudentin, die sie 2003 in der hauseigenen Galerie an der Akademie der Bildenden Künste in München zeigte. Es ging dabei um die schiere Gier: Witt ließ in einer kurzen Aktion eine Handvoll Menschen eine Wohnung totalverwüsten, nur weil dort ein paar versteckte Geldscheine auf glückliche Finder*innen warteten. Während einer Residency in Moskau konnte sie 2012 ihr Erstlingsvideo in einem Museum reinszenieren – unter heutigen politischen Bedingungen absolut undenkbar. Zuverlässig gingen eingeladene Russ*innen ohne Rücksicht auf Verluste in der Rauminstallation, die einer typisch postsowjetischen Behörde nachempfunden war, zu Werke, auf ihrer Suche nach versteckten 15.000 Rubel, damals umgerechnet etwa 300 Euro, die sie natürlich behalten durften. Anna Witt schuf Dutzende weiterer Videos, in denen es um grundsätzliche Fragen des menschlichen Zusammenseins geht, um Denkmuster oder Routinen, die gemeinsam abgelegt werden können und in neuen Ritualen ihre Ausdrucksform finden. Als Gedanke immer dabei: die Partizipation und wie künstlich oder besser: künstlerisch geschaffene Situationen überwunden werden können. „Für mich war wichtig, die aktionistische Kapazität von Kunst seit den 1990er-Jahren dort anzusetzen, wo sich die Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft vermischen“, erklärte sie 2011 in einem Interview ihre Methodik. Heute spricht sie von einer „kollektiven performativen Praxis“, fragt man sie nach einer Definition ihrer Arbeit.
Seit diesem Wintersemester ist Anna Witt eine von drei Stipendiatinnen des Dorothea-Erxleben-Programms der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste. Deutschlandweit einzigartig soll jüngeren, bereits anerkannten Künstlerinnen durch eine zweijährige Qualifizierungs- und Lehrtätigkeit der Sprung auf eine Professur ermöglicht werden. Witt, derzeit in Berlin lebend und wöchentlich einpendelnd, ist dankbar für diese Kontinuität, denn sie erlaubt es ihr, sich auf ihre aktuellen Arbeiten konzentrieren zu können.
Und die Künstlerin hat einiges vor. Sie wird bis November 2024 für eine Ausstellung in der nGbK eine von sechs ortsbezogenen künstlerischen Auftragsarbeiten liefern, die sich unter dem Titel Salt. Clay. Rock. aus lokaler Perspektive mit der nuklearen Energieproduktion und ihrer globalen Dimension beschäftigen. Das deutsch-ungarische Gemeinschaftsprojekt wird von der deutschen Kulturstiftung des Bundes gefördert und steht natürlich im Spannungsfeld des divergenten Umgangs mit der Atomenergie. Denn während Deutschland am 15. April 2023 seine letzten drei Kernkraftwerke außer Betrieb nahm – aber immer noch kein Konzept für ein atomares Endlager vorweisen kann –, vertrauen Ungarn und weitere Länder Ost- wie auch Westeuropas auf den fortgesetzten Betrieb, gar den Ausbau ihrer Nuklearanlagen. Witt recherchiert derzeit in Gorleben, einer einst hochpolitisierten Region Norddeutschlands, weil sie Ende der 1970er-Jahre als Standort für ein vorläufiges nukleares Entsorgungszentrum und mögliches Endlager bestimmt wurde. Atomkraftgegner*innen errichteten das Hüttendorf Republik Freies Wendland, Protestcamps dehnten sich in das Niemandsland der innerdeutschen Grenze aus und sorgten für Irritationen zwischen Bonn und Ost-Berlin. Später lieferten die Blockaden der Castor-Transporte zum Atomlager spektakuläre Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstrant*innen. Welche Bilder dieser Aktionen sind in Erinnerung geblieben, welche politische Wirkung hatten sie, aber auch: wie gehen nachfolgende Generationen damit um?, das sind Fragen, die Anna Witt aufwirft. In ihrem Seminarangebot an der HBK Braunschweig werden anschließend Studierende das Thema weiter vertiefen.
Im August des heurigen Jahres wagt sich Anna Witt wieder an eine Live-Performance. In der Reihe Smart Nursing des Salzburger Kunstvereins ist sie eine von drei beauftragten Künstlerinnen. Sie wird mit Pflegekräften des Uniklinikums der Stadt den Wandel hin zur digitalisierten Pflege erforschen und darstellen. International gefragt scheint ihr der Umgang mit Menschen verschiedener Nationen, Berufsfelder oder sozialer Gruppen stets zu gelingen. Rücksicht und Vertrauen, sagt sie, sind Voraussetzung für die Zusammenarbeit im Experiment, ohne einzugreifen oder gar für aktivistische Ziele zu instrumentalisieren. Beispielhaft für ihre Arbeit und überzeugend war Witts Einzelausstellung im Kunstverein Wolfsburg um den Jahreswechsel. Unter dem Titel Workers Forum zeigte sie vier Videoarbeiten, zwei ältere und zwei Neuproduktionen, in denen sie Arbeitssituationen untersucht: darunter etwa die Bedingungen in der japanischen Automobilindustrie oder die Optimierung des menschlichen Körpers für spezielle Tätigkeiten. In ihrem ortsbezogenen, 2023 für den Kunstverein verfassten Video Bücken Heben Einlagern demonstrieren Lehrlinge der Klasse für Fachlageristik einer lokalen Berufsschule die körperliche Anstrengung ihres Gewerks und seine monotone Wiederholung. In der Praxis werden deshalb vielerorts bereits Exoskelette eingesetzt, technisch unterstützende, prothesenartige Apparaturen, die den Körper ermächtigen, einseitige Belastungen über einen langen Arbeitstag zu meistern. Witt ging mit den Jugendlichen ins leere Becken des ehemaligen Hallenbads, heute ein Veranstaltungsort in Wolfsburg, und ließ sie dort mit diesen Hilfen spielerisch interagieren und in einer Art mechanischer Choreografie zusammenfinden.