Heft 1/2024 - Artscribe


Giulia Andreani – L’Improduttiva UND Andreas Gursky – Visual Spaces of Today

29. Oktober 2023 bis 10. März 2024
Collezione Maramotti, MAST / Reggio Emilia, Bologna

Text: Jochen Becker


Reggio Emilia/Bologna. Terra di Motori („Land der Motoren“) im Hinterland von Bologna ist nicht nur Heimat von Edelmarken wie Ferrari, Lamborghini, Maserati oder Ducati, sondern auch zahlreicher „Hidden Champions“ der Maschinen-, Textil-, Lebensmittel- und Tourismusindustrie. Mit der fotografischen Malerin Giulia Andreani – um ihre Arbeiten soll es vor allem gehen – und dem malerischen Fotokünstler Andreas Gursky waren zwei parallele Ausstellungen im Maschinenraum der norditalienischen Boom-Region Emilia zu sehen.
G.D., eine vor 100 Jahren gegründete Motorradfabrik, die als Coesia Group nun weltweit Verpackungsmaschinen herstellt, finanziert auf ihrem Firmengelände das prächtige Fotomuseum MAST für Kunst, Experiment und Technologie. Zum Doppelgeburtstag – 100 Jahre Firmenjubiläum und zehn Jahre Ausstellungscampus – wurde eine umfangreiche Gursky-Werkübersicht eingerichtet. MAST tritt dabei wie ein öffentliches Museum auf, ist jedoch stark nach dem Gusto der Inhaberin und mehrfachen Milliardärin Isabella Seràgnoli hin ausgerichtet.
Auf Gerhard Richter, einen anderen Düsseldorfer Großmeister, bezieht sich Giulia Andreani und führt dessen auf Fotografien basierende Methode in historisch-kritische Untiefen. Denn auch Richters sexistisch anmutendes Gemälde Kleiner Liegender Akt von 19671 hängt in der museal anmutenden Collezione Maramotti, beheimatetet auf dem Werksgelände der in Reggio Emilia und etwa 30 Bahnminuten von Bologna entfernten Modemarke MaxMara. Der Akt entstand nach einem schwarz-weißen Amateurbild im Kontext der damaligen Ausstellung Sex und Massenmord. Die Wechselausstellung der italo-französischen Malerin ist umgeben von Malerei und Skulpturen der westlichen Nachkriegshemisphäre, ausgiebig gesammelt vom verstorbenen Firmenpatriarch Achille Mamarotti.
Andreanis vordergründig farblose Gemälde sind handgemacht wie früher Handabzüge, die in der Dunkelkammer mühsam abgewedelt wurden, um gewünschte Effekte zu erzielen. Sie werden „in ein neues Entwicklerbad getaucht“ und basieren auf Recherchen sowie einer etwa an der „Schneiderin“ Hannah Höch geschulten Collagetechnik. Die stitches – unsichtbar bei Gurskys Photoshop-Montagen – werden mit tintigen Pinselstrichen gerade noch erahnbar übermalt. Indem Andreani alles in Payne’s Grey überführt – einer altmeisterlich anmutenden Farbmischung aus Preußischblau, gelbem Ocker und Karminrot –, sind ihre archivhaften Bilder auf sanfte Modulationen der Aquarellmalerei heruntergebrochen. William Payne bezeichnete sie als „die Farbe der Dämmerung“. Große Formate der Überwältigung bleiben hier die Ausnahme und passen sich so der historischen Schwarz-Weiß-Fotografie und deren prädigitalen Kleinformaten an. Andreanis Bilder erinnern an altertümliche Sepia-Abzüge, was ihnen trotz „Sonntagsmaler“-Gestus so auch einen symbolisch-kulturellen Mehrwert verleiht.
Die aktuelle Ausstellung widmet sich vor allem der Geschichte des Orts während der Zeit des Faschismus, wozu Andreani auch das lokale Institut für das Studium des Widerstands und der zeitgenössischen Gesellschaft konsultierte. Aus Fragmenten der Geschichte entwickelt die Künstlerin in ihrer „Malerei mit Fotografie“ gespenstische Bilder von unsichtbar Gemachten wie etwa die Sieben Heiligen in der ehemalige Irrenanstalt von San Lazzaro, oder die Abwesenheit der Männer im Zweiten Weltkrieg. Vorher versuchte der faschistische Staat noch, die Frauen aus der Fabrikarbeit hinauszudrängen. So schrieb Mussolini 1934 im Zeitungsbeitrag „Maschine und Frau“, dass Arbeit von der Fortpflanzung ablenke: „Desorientierte und vor allem arbeitslose Männer geben schließlich die Familie auf. Heute sind Maschinen und Frauen die beiden Hauptursachen für Arbeitslosigkeit.“
Auch die Bilder von dem spanischen Bürgerkrieg knapp entkommenen George Orwell rufen kollektive Erinnerungen wieder hervor. Anhand des Kontexts – also Bildunterschrift, kuratorische Rahmung, begleitende Interviews oder bald erscheinender Katalog – lassen sich verschiedene Ebenen herauslesen. Zur Eröffnung kam eine Führung in das beeindruckende stadtgeschichtliche Archiv hinzu, wo zwei Mitarbeiterinnen einige der Bildquellen auf langen Tischen aufgebaut hatten.
Die in Paris lebende italienische Künstlerin, klassisch geschult an der Kunstakademie in Venedig und mit Fokus auf (ost-)deutsche Kulturproduktion, kanalisiert Bilderfluten und Archivfunde durch Wiederverwendung, Kondensierung und Verdichtung der Motive auf Leinwand. Die Grauzonen der Übermalung und von Verschlierungen changieren zwischen dokumentgleicher Präzision und wässrigem Grauschleier, bis Tränenbäche aus den Augen zu fließen scheinen. Ein detailliert herausgearbeitetes und provokativ lächelndes Gesicht auf dem zentralen Gemälde L’improduttiva (Die Unproduktive/n) aus der genau hier ansässigen Schneiderschule von Guila Mamarotti, Mutter des Firmengründers, verstärkt den direkten Blick der Arbeiterin hin zur Betrachter*in. Sie legt – auch in der Selbstermächtigungsgeste gegenüber männlich konnotierter Fabrikarbeit – zugleich eine Spur der Verweigerung. Männliche Künstlerreferenzen von Gerhard Richter über Jörg Immendorff bis zu Neo Rauch werden zwar als Fährten ausgelegt. Doch die „feminist painter/researcher“, vertreten vom einst für seine „Hetzler-Boys“ bekannten Galeristen, bricht die männlich konnotierte Gewalt von Sex und Massenmord elegant im feministischen oder neuerdings bunt maskierten Blick, der von der Leinwand ausgeht und auf sie zurückwandert.
Während sich also im Firmengelände von MaxMara eine Auftragsarbeit der Zeit unter Mussolini widmet, schwärmt die Präsidentin von MAST, wie die „Entwicklung der Maschinenbauindustrie den Grundstein für die Entstehung einer modernen Konsumgesellschaft“ legte, indem die „Produkte durch neue, farbenfrohe, leichte und haltbare Materialien bereichert und durch hochwertiges Design aufgewertet wurden, was den Weg für eine wohlhabende Gesellschaft ebnete, die bereit war, die Kriegszeit hinter sich zu lassen“. Pasolini, dessen Archiv im Studienzentrum der Cinemathek seiner Heimatstadt Bologna aufbewahrt wird, würde sich im Grab umdrehen angesichts dieser geschichtsvergessenden Übertünchung des real existierenden Faschismus durch die bunte Warenwelt.
Gerade weil der Fotoapparat und der damit einhergehende Entwicklungsprozess selbst der Industriewelt entstammt, ist dieses Terra di Motori ohne den Bezug auf die vom regionalen Meisterfotografen Luigi Ghirri über Dekaden festgehaltenen Industrie- und Agrarlandschaften nicht denkbar. Während die erratischen Tafelbilder des malerischen Fotokünstlers Andreas Gursky etwas mit dem Kodak-Hochhaus von 1995 an die Maschinennähe des Fotografischen erinnern, unterlaufen die protokollierenden Bildserien der fotografischen Malerin Giulia Andreani eine Sammlungspolitik, die Fotografie eigentlich kategorisch ausschließen möchte. „Roland Barthes analysiert die Fotografie als etwas ziemlich Tödliches“, äußerte sie in einem Interview. Durch ihre albträumende Malerei kommen Totgeglaubte, verwaist in dunklen Kammern, zurück ins Leben.