Leipzig. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden nach einem erfolglosen Aufstand englische protestantische Siedler*innen nach Irland gebracht. Während die englische Herrschaft zuvor weitgehend nominell war, markierte diese Besiedlung von Ulster einen Wendepunkt hin zu einer aggressiveren kolonialen Haltung, die in den folgenden zwei Jahrhunderten zu einem massiven Exodus der Ir*innen führte. Sarah Pierces Installation Pathos of Distance (2015) befasst sich mit der persönlichen Geschichte einiger der rund neun Millionen Ir*innen, die die Insel seit dem 17. Jahrhundert in einer Massenmigrationsbewegung verließen. Im Zuge dieser Bewegung wurden irische Migrant*innen zunächst unwissentlich rekrutiert, um die Expansion des britischen Empire zu unterstützen, und später in den amerikanischen Bürgerkrieg oder amerikanisch-mexikanischen Krieg verwickelt.
Joanna Hiffernan war ein irisches Model, das in Gustave Courbets Jo, la belle Irlandaise (1865–66) zu sehen ist und von James McNeill Whistler, ihrem Partner, in seinem berühmten Porträt Symphony in White, No. 1: The White Girl (1861–63) gemalt wurde. Das Gemälde bricht mit den Konventionen, indem es Jo, eine irische Immigrantin aus der Arbeiterklasse in London, im Stil und Maßstab der großen Porträtmalerei darstellte, die den Wohlhabenden und Aristokrat*innen vorbehaltenen war. Edward de Lacy Evans verließ Irland als Frau, erreichte sein Ziel aber als Mann. Während der Reise nach Victoria, Australien, glaubten die Mitreisenden, Evans, der mit einigen weiblichen Passagieren eine Liebesbeziehung hatte, sei ein Mann, der sich als Frau ausgab, und nicht eine Frau, die zu einem Mann wurde. Evans biologisches Geschlecht wurde aufgedeckt, als er nach einem Nervenzusammenbruch in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde.
James Barry führte ein besseres Trans-Leben. Er erwarb einen medizinischen Abschluss und machte eine Karriere als Chirurg. Sein biologisches Geschlecht wurde erst bei der Obduktion seines Leichnams festgestellt. Die persönlichen Biografien der Figuren von Sarah Pierce überschneiden sich manchmal auch mit der kollektiven Geschichte. Das St. Patrick’s Battalion war eine Gruppe unglücklicher irischer Soldaten, die während des mexikanisch-amerikanischen Kriegs für Mexiko kämpften. Nachdem die Männer von der US-Armee gefangen genommen worden waren, wurden 50 von ihnen wegen Verstoßes gegen das Militärrecht an drei verschiedenen Tagen durch den Strang hingerichtet. Zusammengenommen stellen diese Hinrichtungen die größte Massenhinrichtung in der Geschichte der Vereinigten Staaten dar.
In Pathos of Distance hängen oder lehnen all diese „widerspenstigen Ir*innen“ als Skizzen, Porträts oder epische Gemälde an Möbeln, die aus dem Fundus des Leipziger Opernhauses stammen – zum Teil neben- oder übereinandergestapelt, als ob sie nur darauf warten, irgendwohin gebracht zu werden. Die gesamte Installation liest sich wie ein Lagerraum der Geschichte: voll mit Gegenständen, für die wir keine Verwendung haben, die wir aber aufgrund emotionaler Bindung oder bürokratischer Trägheit nicht loswerden können. Bemerkenswert ist der Eindruck eines sehr selbstbestimmten Lebens – bei Barry und Evans, dasselbe gilt aber auch für Hifferman und dem gefangen genommenen St. Patrick’s Battalion. Ihre Lebenswege haben zudem etwas entschieden Modernes, ja Zeitgenössisches an sich. Doch Sarah Pierce versucht nicht, den vorherrschenden (kunst-)historischen Konsens zu ändern, indem sie unbesungenen Held*innen oder zentralen, aber marginalisierten Figuren eine Art verspätete Anerkennung zuteilwerden lässt, und sie versucht auch nicht, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen oder zu sühnen. Vielmehr weist die Künstlerin, um es mit Sara Ahmed zu sagen, mit ihrer Geste auf Wege hin – politische Wege, berufliche Wege, soziale Wege –, die schwächer wurden, weil sie nicht beschritten wurden.
Die Ausstellung Scene of the Myth ist die erste Retrospektive der in Dublin lebenden amerikanischen Künstlerin Sarah Pierce, die für das Irish Museum of Modern Art in Dublin (IMMA) produziert wurde und nun in Leipzig zu sehen ist. Mit ihrem längeren chronologischen Bogen tritt die Arbeit Pathos of Distance in einen Dialog mit einem Gesamtwerk, das ich als „paraeducational“1 bezeichnen würde, ein Begriff, den die Künstlerin geprägt hat, um ihre Auseinandersetzung mit der Kunsterziehung und der Notwendigkeit zu beschreiben, ständig neu zu verhandeln, was Wissen ausmacht und wie sich Wissen konstituiert.
In Campus (2011) greift sie einen anderen historischen Bruch auf, der sich nicht gut mit den Meistererzählungen verträgt. Während die Bürgerrechtsbewegung in den USA in der Antivietnamkriegsbewegung aufgeht, wird die Universität von Pittsburgh zum Schauplatz eines Zusammenstoßes zwischen Schwarzem Aktivismus und weißem Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Die Black Action Society (BAS) will nicht nur die Außenpolitik, sondern auch die Innenpolitik verändern. Diese archivierten Materialien werden vor dem Hintergrund einer Reihe großer roter Vorhänge präsentiert, die von der Decke hängen und den*die Besucher*in in eine bestimmte Richtung drängen. Sie hindern einen nicht daran weiterzugehen, aber es wäre unhöflich. Auch hier fällt einem Sara Ahmed ein, die die Funktionsweise von „Macht als Richtungsweiser“ beschreibt, „als eine Möglichkeit, Körper in eine bestimmte Richtung zu lenken, so dass sie in eine bestimmte Richtung blicken, auf eine Zukunft zusteuern, der man ein Gesicht gibt“2. Eine weitere Arbeit, Towards a Newer Laocoön (2012), befasst sich mit einem kontroversen Moment in der Geschichte des National College of Art and Design in Dublin (NCAD) im Jahr 1969: Die Studierenden waren auf der Suche nach neuen Wegen und überzeugt, jegliche sie daran störende Hindernisse aus dem Weg räumen zu müssen. Dies führte zur Beschädigung der Laocoön-Skulpturengruppe der Akademie. Sarah Pierce zeigt fünf Tische mit Zeitungsausschnitten (aus der Sammlung National Irish Visual Arts Library (NIVAL) und NCAD), auf denen der „Streit in der Kunsthochschule“ zusammen mit Fragmenten eines zerbrochenen Frieses beschrieben wird.
Lost Illusions (2013) befasst sich ebenfalls mit Kunstwerken, die zum Schauplatz von Bedeutungskonflikten wurden. 1989 wurde She will ride her skirt ... (1987) des kanadischen Künstlers Mark Lewis von einer Gruppe von Künstlerinnen, die die Sammlung des Banff Centre besuchten, mutwillig zerstört. Der Künstler warf ihnen daraufhin Zensur vor. 1994 wurde die Leiterin der gemeinnützigen Galerie Mercer Union, Sharon Brooks, zusammen mit dem Künstler Eli Langer beschuldigt, Kinderpornografie auszustellen. Die Galerie wurde von der Sittenpolizei der Metropolitan Toronto Police durchsucht. Pierce stellt den umfangreichen Schriftverkehr zu diesen beiden Fällen mit Keramikarbeiten aus – von Künstlerinnen, die im Laufe der Jahre im Banff-Zentrum zu Gast waren, und welchen, die sie selbst hergestellt hat. Auch hier wirken die aufgeworfenen Kontroversen fast unheimlich aktuell. Und auch hier macht Sarah Pierce anhand von Objekten, und indem sie in Details kaum vergessener Geschichten hineinzoomt, sehr schön deutlich, wie soziale Welten organisiert, desorganisiert und reorganisiert werden und wie Institutionen bestimmte Körper – Arbeit, Wissen, Politik –ins Leben rufen, während andere unbearbeitet bleiben.
Übersetzt von Redaktion
[1] Paraeducation Department (2004) ist auch der Titel eines Projekts mit Studierenden an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB). Sarah Pierce hat es zusammen mit Annie Fletcher für das IMMA entwickelt.
[2] Sara Ahmed, Living a Feminist Life. Durham: Duke University Press 2017.