Heft 2/2024 - Kulturkämpfe


Die eigene Betroffenheit richtig universalisieren

Ein Gespräch mit der Philosophin Susan Neiman über ihr Buch Links ist nicht woke

Katharina Hausladen


Sprachregelungen und identitätspolitische Zuständigkeiten, wie sie die Wokeness-Bewegung fordert, beklagen längst nicht mehr nur Neotraditionalisten und Rechtspopulisten wie Donald Trump oder Elon Musk. Auch viele Autor*innen, die sich nachdrücklich als links verstehen, kritisieren die Anerkennungs- und Mitsprachekämpfe der Woken. Während die Rechten jede Form von Political Correctness als einen Angriff auf die Meinungs- und Redefreiheit ansehen, wollen einige Linke in der woken Berufung auf Minderheitenrechte zumindest einen Doppelstandard erkennen: Herrschafts- und Unterdrückungsgeschichten, die im partikularen Interesse einer einzigen Minderheit erzählt würden, drohten die soziale Frage und damit einen spezifisch linken Universalismus nach Art der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Blick zu verlieren. Zu den derzeit wohl bekanntesten Vertreter*innen einer so verstandenen Kritik am woken Denken gehört die Philosophin Susan Neiman. In ihrer Streitschrift Links ist nicht woke (Hanser Verlag 2023), einem der Erfolgsbücher des vergangenen Jahres, verurteilt sie die woke Rhetorik als „Stammesdenken“ von links mit dem Preis einer realen Spaltung der globalen Linken.

Katharina Hausladen: Wie Sie in Ihrem Buch Links ist nicht woke schreiben, wurde der Wokeness-Begriff ursprünglich von PoC als subkultureller Slogan gegen Rassismus eingesetzt – erstmals 1938 in Leadbellys Blues-Klassiker „Scottsboro Boys“, fast ein Jahrhundert später dann als Hashtag #staywoke im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung. Allerdings hat sich die Verwendung des Woke-Wortes seither stark gewandelt: von der emanzipatorischen Selbst- zur abwertenden Fremdzuschreibung. Zudem wird der Begriff mittlerweile von rechts wie von links verwendet. „Awake, not woke“ lautete ein Slogan von Trump, während die Erweckungsrhetorik unter Linken sehr unterschiedliche Reaktionen auslöst: Den einen gilt sie als libertäre Farce, das heißt als nicht links genug, den anderen ist sie zu links. Warum halten Sie dennoch am Wokeness-Begriff fest, wo mittlerweile nicht mehr eindeutig zu sein scheint, wer damit gemeint ist? Worin unterscheiden sich die „Woken“ beispielsweise von den „Liberalen“?

Neiman: Der Begriff „woke“ ist schwer zu definieren, weil er inkohärent ist. Er speist sich aus traditionell linken Emotionen: Wir wollen auf der Seite der Unterdrückten sein, wir wollen die Wunden der Geschichte heilen oder wiedergutmachen. Das sind alles Dinge, die traditionell zum links-liberalen Selbstverständnis gehören, und diese Emotionen teile ich auch. Was woke Menschen nicht realisieren, ist, dass die Ideen, die sie unterstützen, sich aus sehr reaktionären Theorien speisen. Dieser absolute Gegensatz zwischen Ideen und Emotionen ist das, was diesen Begriff so schwer definierbar macht. Hinzu kommt, dass es, seitdem „woke“ ein Schimpfwort geworden ist, kaum noch Menschen gibt, die sich als „woke“ definieren wollen.
Was den Liberalismus-Begriff angeht: Es gibt ernsthafte Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen Begriff von „liberal“ und der Art und Weise, wie er im Rest der Welt verwendet wird. In den USA ist er absolut schwammig, und da wäre fast jede*r deutsche*r Politiker*in, mit Ausnahme der AfD, mit inbegriffen. Ich musste Leuten oft erklären, dass Angela Merkel weiter links stand als Bernie Sanders, in dem Sinn, dass sie einen Sozialstaat voraussetzte so wie jede*r europäische*r Politiker*in, wovon Bernie Sanders nicht einmal zu träumen wagt. In der zweiten, erweiterten Ausgabe des Buches, die gerade auf Englisch erschienen ist, habe ich noch ein bisschen deutlicher herausgearbeitet, was links von liberal unterscheidet: der Glaube daran, dass soziale Rechte wirklich Rechte sind und nicht Begünstigungen oder benefits, wie man in den USA sagt.

Hausladen: Bei „liberal“ hatte ich vor allem an „linksliberal“ gedacht, also an den Vorwurf, dass identitätspolitische Forderungen von manchen Linken als libertär, als mit Blick auf die soziale Frage nicht weit genug gehend angesehen werden. „Liberal“ wäre damit der Feindbegriff einer bestimmten Vorstellung von linker Politik.

Neiman: Ich finde den Begriff „Identitätspolitik“ grundfalsch. Er setzt voraus, was erst bewiesen werden muss. Nämlich, dass unsere Identitäten festgelegt, wesentlich determiniert sind durch diese zwei Kategorien, die wir uns nicht aussuchen: ethnische Herkunft und Geschlecht. Das ist wirklich absurd. Das ist eine Verarmung des Menschen.

Hausladen: Der Begriff „Identitätspolitik“ ist auf jeden Fall kompliziert. Man könnte stattdessen von „Identitätskonstruktion“ sprechen. Dennoch: Fällt für Sie jeder Streit um Mitsprache, Sichtbarkeit und Anerkennung von minorisierten Personengruppen unter Wokeness-Verdacht?

Neiman: Nein, ich glaube, man muss heute einfach mehr aufpassen, was man tut. Ich bin die letzte Person, die verneinen würde, dass Rassismus und Sexismus immer noch eine große Rolle spielen. Ich könnte stundenlang über Sexismus in Deutschland sprechen, der zum Teil schlimmer ist als in einigen anderen Ländern. Und ich sehe da einen Fortschritt, es gibt mehr Präsenz von Frauen, weil man darauf achtet, in der kulturellen und intellektuellen Welt. Ich sehe auch mehr Präsenz, selbst in Deutschland, von PoC. Und prinzipiell finde ich das richtig. Und ich würde immer versuchen, zum Beispiel was mein Programm als Direktorin im Einstein-Forum angeht, dass es divers ist. Aber wenn wir Leute anstellen oder einladen nur aufgrund deren …

Hausladen: Unterdrückungskategorien?

Neiman: … Unterdrückungskategorien, dann werden die Leistungen von Frauen und Braunen und Schwarzen Menschen nicht wirklich ernst genommen. Das ist sowas von verachtend den unterdrückungskategorisierten Menschen gegenüber, und dabei werden Rassismus und Sexismus noch verstärkt.

Hausladen: Zumal diese Kategorien Unterschiedliches bedeuten können. „Frau“ heißt nicht in jedem Kontext das Gleiche, genauso wie „jüdisch“ oder „Schwarz“. Außerdem tauchen solche Kategorien nie isoliert auf. Aber kommen wir noch einmal auf die Forderungen zu sprechen, die Sie in Ihrem Buch unmittelbar mit dem Projekt der Linken verknüpfen. Sie nennen drei notwendige Bedingungen: Universalismus, Gerechtigkeitsstreben und Fortschrittsdenken. Wie hängen diese drei zusammen und welche Art von Fortschritt ist hier gemeint? Ich frage das deshalb, weil sich gerade aus linker Perspektive zahlreiche Gründe gegen die mit dem Kapitalismus verknüpfte Ideologie von Wachstum und Aufschwung, also von ökonomischem Fortschritt anführen lassen. Aber auch als moralische Kategorie stellt Fortschritt kein Gut an sich dar. Im Gegenteil: Wenn man bedenkt, dass die Selbstbeschreibung von Ländern des Westens wie zum Beispiel Deutschland als „fortschrittlich“ nur allzu oft durch die Konstruktion eines als rückständig erachteten Anderen – etwa Nicht-Europäer*innen oder Ostdeutsche – legitimiert wurde, und zwar mit dem Ziel, diesem so konstruierten Anderen scheinbar universelle Werte unter dem Deckmantel von Modernität und Emanzipation beizubringen, dann stellt sich die Frage, wer darüber entscheidet, welche Werte universell gültig sein sollen. Ist Fortschritt nicht doch eine verzichtbare Größe für die Linke?

Neiman: Das ist ein Klischee, und es ist auch ignorant. Ich habe gerade einen längeren Text über Frantz Fanon geschrieben, in dem ich zeige, auch mithilfe der Bücher von Ato Sekyi-Otu, den ich in Links ist nicht woke zitiere, dass das Quatsch ist. Fanon, der ein Heiliger der postkolonialen Theorie ist, war ein Universalist. Er war absolut gegen die Idee, dass man in „Schwarzen“, „weißen“ oder „europäischen“ Werten denkt. Proto-faschistische Regierungen im sogenannten Globalen Süden denken so. Modi oder Mugabe haben auch gesagt: Menschenrechte sind westliche Kategorien, die für uns nicht gelten – ihr seid alle Kolonialisten und habt uns nichts mehr zu sagen. Sekyi-Otu behauptet genau das Gegenteil: Es ist eine Frechheit zu glauben, dass wir die Europäer*innen brauchten, um einen bestimmten Begriff von „Mensch“ und „Menschenrecht“ zu entwickeln.
Aber nochmals zum Begriff des Fortschritts: In Bezug auf ökonomisches Wachstum wissen wir alle inzwischen, wie problematisch dieser ist. Aber das ist nicht der Fortschritt, von dem die Aufklärer*innen gesprochen haben. Wachstum ist leider immer noch ein positiv besetzter Begriff, er klingt besser als „Nachhaltigkeit“, aber ich denke, dass wir hier überhaupt ganz neue Begriffe brauchen. Es werden Milliarden für Werbung ausgegeben, die dazu da ist, uns davon zu überzeugen, immer noch mehr Schrott zu kaufen. Das meine ich sicher nicht mit „Fortschritt“.

Hausladen: In Ihrem Buch nehmen Sie eine begriffliche Unterscheidung zwischen physischer und intelligibler bzw. sprachlich verfasster Gewalt vor. Sie führen diese Unterscheidung im Zusammenhang Ihrer Diskussion von Foucaults Machtbegriff ein. Für Foucault waren „Gründe“, so schreiben Sie, „nichts als reine Rationalisierungen, die wiederum Machtansprüche verhüllten“. Wenn nun aber Vernunft, wie Sie gegen Foucault einwenden, „lediglich Werkzeug und Ausdruck von Macht“ ist, wird auch die „Unterscheidung zwischen ‚von jemandem überredet oder von ihm geschlagen zu werden‘ […] fadenscheinig“.

Neiman: Sie haben das gleich in „sprachliche Gewalt“ übersetzt. Empfinden Sie das als Gewalt, wenn Sie eine lange sachliche Diskussion mit jemandem haben, der*die Sie überzeugt, Ihre Meinung zu ändern oder etwas zu lesen, wo Sie dann denken: Aha, das sehe ich jetzt anders. Ist das Gewalt? Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Foucault in unser begriffliches Leben eingedrungen ist.

Hausladen: Ein anderes Beispiel: Wenn eine Frau als „Göre“ oder als „hysterisch“ bezeichnet wird, weil sie einem Mann widerspricht, dann wirkt dieser Sprechakt realitätsbildend: Er kann auf Kosten der psychischen Gesundheit der Frau gehen, aber auch auf Kosten ihrer sozialen Stellung. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass sich in dieser Abwertung ein normativer Anspruch ausdrückt, welche Rollen Frauen in der Gesellschaft haben sollen, also ob es als legitim gilt, dass Frauen zum Beispiel am Arbeitsmarkt benachteiligt werden oder schlechtere Zugangsvoraussetzungen zu Bildung haben. Kurzum: Es gibt einen theoretischen Mehrwert, diese beiden Sphären der Macht – die materielle und die symbolische – mit Blick auf konkrete Formen der sozialen Benachteiligung zusammenzudenken. Und Foucault hat das, neben anderen, getan.

Neiman: Ich weiß genau, wovon Sie reden. Aber ich würde das eher als sexistisch und nicht als Gewalt bezeichnen, denn die Gewalt liegt nicht an der Sprache selbst, sondern daran, dass man Regeln des Dialogs, die unter vernünftigen Menschen eingehalten werden sollen, bei Frauen oft zu befolgen vergisst.

Hausladen: Nicht jeder Sprechakt ist gewaltförmig, aber ich meine doch, es gibt gewaltförmige Sprechakte. Die Frage nach den beiden Dimensionen von Macht hatte ich deshalb gestellt, weil ein Zusammendenken der beiden hilfreich sein könnte, wenn es um einen materialistischen Begriff von Ausbeutung oder Ungerechtigkeit geht. Wo also setzt Ihre Kritik an Foucaults Machtbegriff an?

Neiman: Bei Foucault ist die Macht so allumfassend, dass es überhaupt keinen Platz für Gerechtigkeit gibt. Er hält jede Form von Gerechtigkeit für eine Scheingerechtigkeit, die nur ein noch subtilerer Ausdruck von Machtinteressen ist. Und das ist ein grundsätzlicher Punkt bei Foucault, den ich ablehne und von dem mich wundert, warum so viele Menschen, die sich fortschrittlich nennen – Foucault hat übrigens auch keinen Begriff von Fortschritt –, da mitgehen; anders gesagt: dass jeder Versuch, sich politisch oder sozial zu engagieren, auf eine Form von Machtausübung reduziert wird. Das erinnert stark an den reaktionären Carl Schmitt. In vielen Rezensionen meines Buches in Deutschland hieß es: Wie kann die Frau im gleichen Atemzug von Schmitt und Foucault sprechen? Ich war gerade in Chile, wo das Buch ein Bestseller ist. Dort kennen sich die Leute sehr gut mit Chantal Mouffe und Ernesto Laclau aus, die man als linke Schmittianer*innen ansehen kann. Es war für die Leute dort überhaupt nicht absurd, Foucault und Schmitt zusammenzubringen, doch für Deutsche ist das weitgehend unbekannt.

Hausladen: Darin klingt an, dass es Ihnen nicht nur um das, was Foucault geschrieben hat, geht, sondern auch um eine bestimmte Rezeption seines Denkens. Es ist eine diskursanalytisch motivierte Kritik, die Sie hier formulieren. Ich kann dieser Kritik insofern zustimmen, als ich sagen würde, dass ein spezifisch maskulines und von einem gewissen Heroismus getragenes Transgressionsdenken im Gefolge von 68 nach wie vor in Foucault einen geistigen Vater findet. Unter dem Eindruck der derzeitigen Verschiebung des demokratischen Diskurses durch populistische Rhetorik ist Transgression allerdings kein guter Berater. Die Anhänger*innen von AfD, Lega, Fidesz oder FPÖ wollen ja auch ständig jemandem an den Kragen. Trotzdem muss man sich die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Foucault seine Vernunftkritik vorgebracht hat, vor Augen halten: die Bedrohung durch den Faschismus und die soziale Not nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Charles de Gaulles Résistance-Mythos, der nur wenig Raum für abweichende Narrative ließ. Krankheit wurde in der Regel naturalisiert, Homosexualität pathologisiert, überhaupt stand eine repressive Politik des Körpers auf der Tagesordnung. Foucaults Kritik am Ideal der Vernunft als Mittel des Erkenntnisgewinns ist so gesehen eine Kritik an der epistemischen Gewalt der Legitimierung solcher Normalisierungsstrategien.

Neiman: Was Sie gerade genannt haben, das mit der Pathologisierung von Homosexualität etc., das stimmt schon, damit hat er sich beschäftigt. Aber weder zum Faschismus noch zum Kolonialismus hat er ernsthaft gearbeitet. Das war alles Sartre. Ich fange gerade an, interessanterweise über Fanon, nochmals über Sartre nachzudenken. Es wird sehr oft stillschweigend etwas, was transgressiv aussieht, auf jemanden oder etwas projiziert, wo das überhaupt nicht stimmt. Wir hatten zum Beispiel neulich einen Gast bei uns im Einstein-Forum, der von der „Dialektik der Aufklärung und des Kolonialismus“ sprach. Und ich habe gesagt: Entschuldigung, wo in der Dialektik der Aufklärung gibt es ein Wort über Kolonialismus?

Hausladen: Allerdings hat die Dialektik der Aufklärung gezeigt, dass Aufklärung auch in ihr Gegenteil umschlagen kann.

Neiman: Das war die These von Adorno und Horkheimer, ich bezweifle allerdings, dass sie die These wirklich bewiesen haben. Doch das Buch ist heute nicht mehr so verbreitet wie etwa Foucault. Foucault wird einfach vorausgesetzt, er ist der meistgelesene Autor der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Hausladen: Nochmal zu Foucaults Vernunftkritik: Kann das Betroffensein von sozialen Ungleichheitsverhältnissen nicht aufmerksam machen für die falschen Vernunftgründe, mit denen diese Ungleichheiten legitimiert werden?

Neiman: Das kann tatsächlich der Fall sein, wenn man die eigene Betroffenheit richtig universalisiert. Wenn jemand nur über die eigene Betroffenheit spricht oder dafür einsteht – es gibt hier bestimmt auch Gegenbeispiele, das will ich nicht ausschließen –, dann handelt diese Person nicht politisch oder im Auftrag der Gerechtigkeit, sondern nur dahingehend, die eigene Machtposition zu verbessern. Die Revolutionäre oder Aktivist*innen, die ich am meisten verehre, haben die eigene Unterdrückung oder Marginalisierung immer kritisiert mit Blick auf die Diskriminierung von anderen. Erst auf diese Weise kann ein Gerechtigkeitsanspruch entstehen.

Hausladen: Debatten wie diese werden derzeit auch im Kunstfeld geführt. Denn auch der Kunst- und Kulturbetrieb bleibt von den Kriegen in der Ukraine und in Gaza nicht unberührt: ökonomisch, da sich das Kriegsgeschehen negativ zum Beispiel auf die Kaufbereitschaft von Sammler*innen auswirkt, aber auch sozial, da die Diskussionen – von der Waffenstillstandsforderung über den Impact der deutschen Staatsräson bis zur Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik – zum Teil ein hohes Eskalationspotenzial haben. Das liegt gewiss am Ernst der Lage: Viele Tausende Menschen sind aktuell von Ermordung, Vertreibung, Hunger und fehlender sanitärer Hilfe betroffen. Mitunter scheint es aber auch so, als müssten sich die Künste – ihre Institutionen und Akteur*innen ebenso wie die Werke selbst – in besonderer Weise zu diesen Kriegen und ihren Auswirkungen verhalten, ja, womöglich sogar Lösungen präsentieren, wo die Politik dem Vorwurf nach versagt. Weit davon entfernt, diese Situation als „Kulturkampf“ zu bezeichnen, nehme ich die aktuelle Lagerbildung im Kunstfeld samt kampfähnlicher Rhetorik trotzdem als derart verhärtet wahr, dass ich mich frage, wie sich aus diesem Dissens gemeinsame Forderungen gegen den realen Rechtspopulismus und Neofaschismus formulieren lassen. Wie bewerten Sie diese Situation?

Neiman: Im Augenblick sind die Seiten in der Tat sehr verhärtet. Besonders in einem Wahljahr schaue ich sehr genau darauf, was in den USA passiert. Und Hoffnung auf eine gute Lösung fällt mir schwer. Ich habe mich entschieden, in Deutschland eine Weile keine Interviews mehr zu diesem Thema zu geben, weil alles, was ich im Herbst dazu gesagt habe, falsch dargestellt wurde. Ich meine die sogenannte Kunstfreiheit- oder Antisemitismus-Debatte, die ich völlig daneben fand. Denn es geht nicht darum, ob Kunstfreiheit oder der Kampf gegen Antisemitismus wichtiger ist, sondern ob bestimmte Sachen, die in einigen Kreisen als antisemitisch verstanden werden, tatsächlich antisemitisch sind. Es gab Leute, die sich hier eingemischt haben, darunter viele Antisemitismus-Beauftragte, die einen sehr unausgearbeiteten Begriff von Antisemitismus hatten, die nicht fähig waren zu sehen, wie zum Beispiel die Regierung in Israel damit spielt und den Begriff instrumentalisiert. Alles, was der jetzigen Regierung Israels nicht passt, wird als antisemitisch verschrien, das ist Strategie. Nach dem 7. Oktober hat Joe Biden das Richtige gesagt, als er nach Tel Aviv geflogen ist. Er hat gesagt: „Ich verstehe eure Wut, ich verstehe eure Trauer, aber macht bitte nicht den gleichen Fehler, den wir nach 9/11 gemacht haben.“ Diese Rede war historisch. Ich habe ein paar amerikanische Historiker*innen gefragt, ob es je einen amerikanischen Präsidenten gegeben hat, der die US-Außenpolitik im Ausland so scharf kritisiert hat. Da hat Biden wirklich ein Tabu gebrochen. Bidens Rat zu folgen ist jedoch nicht in Netanyahus Interesse, nicht nur, weil er im Amt bleiben und nicht in den Knast gehen möchte. Er kennt sich sehr gut aus mit der amerikanischen Politik und hofft natürlich, dass Trump gewählt wird. Und das macht mir fast am meisten Angst. Gleichzeitig gibt es viele Fälle von Antisemitismus. Ich habe es selbst erlebt, und fast jede*r Jüd*in, den*die ich kenne, hat es erlebt. Aber diese verzweifelte, bedingungslose Unterstützung von Israel schürt den Antisemitismus auf der Welt. Es gibt empirische Studien, die belegen, dass der Antisemitismus immer dann, wenn Israels aggressive Kriegsführung ein mediales Thema ist, ansteigt. Und es gibt sehr viele Jüd*innen, die empört sind über den Gaza-Krieg. Was überhaupt nicht heißt, dass die Hamas, wie Judith Butler das gemacht hat, als eine emanzipatorische Bewegung bezeichnet werden kann – sie müsste doch wissen, was die Hamas mit Frauen und Homosexuellen macht. Ich war nie in Gaza, aber mit Freund*innen, die Friedensaktivist*innen sind, im Westjordanland, und die Verhältnisse dort sind verheerend. Aber die Hamas als linke Freiheitsbewegung zu sehen, das ist woke und nicht links.

Hausladen: Welche Funktion würden Sie der Kunst in diesem Zusammenhang beimessen?

Neiman: Zu sagen, dass gute Kunst immer unpolitisch ist, ist eine Vereinfachung, die übersieht, dass die Behauptung, es gäbe keine Ideologie mehr, natürlich selbst eine Ideologie ist. Allerdings glaube ich, dass gute Kunst zum Teil ideologisch motiviert sein kann, die Ideologie aber transzendieren muss. Eine Funktion von Kunst ist es gerade, den Universalismus zu fordern, etwas zu formulieren, das uns alle anspricht.