Heft 2/2024


Kulturkämpfe

Editorial


Ein lang anhaltender Jahre Krieg in der Ukraine, seit mehr als acht Monaten auch Krieg in Nahost – und wir reden von „Kulturkämpfen“? Sind wir dem Ernst der Lage in irgendeiner Form gewachsen, wenn wir den – vergleichsweise milden – Scharmützeln im Feld der Kunst den zentralen Platz einräumen? Und muss nicht jedes kulturelle Ansinnen unweigerlich verblassen, wenn man an die unerbittliche reale Gewalt, egal, von wem verübt, und deren unvorstellbare Opfer denkt? Was kann Kunst in diesem Zusammenhang ausrichten, außer zu einer Art immunisierenden Selbsterbauung – wir aufgeklärte Weltbürger*innen hier, barbarische Zivilisationsverächter*innen anderswo – beizutragen? Darf oder soll Kultur überhaupt ein Wort wie „Kampf“ im Munde führen, wo dessen Semantik doch gerade eine horrende realweltliche Überfrachtung erfährt?
Es gibt hier nichts zu beschönigen, und jeder künstlerische Ansatz muss sich aktuell die Frage stellen, wie er sich zu dieser gewaltinfizierten Gemengelage verhalten soll. Partei ergreifen, reflexiv abwägen, größere Kontexte mitbedenken oder schlichtweg ignorieren und weitermachen wie bisher? Das Spektrum ist breit und führt zurück zum eingangs erwähnten Stellvertreterphänomen des Kulturkampfs, oder besser: der Kulturkämpfe, wie diese Ausgabe betitelt ist. Als legitimer Grund für diese Themenwahl mag gelten, dass sich auch durch die Haltungen zu Krieg und Terror unvermeidlich Bruchlinien ziehen, die bisweilen kulturkampfartige Dimensionen aufweisen. Und mehr noch: dass unterschiedlichste Zivilisationsvorstellungen, von konkreteren politischen Motiven einmal abgesehen, in diese Auseinandersetzungen involviert sind. Die „Culture Wars“ (als welche diese Form des Dissenses in den 1980er-Jahren in den USA bezeichnet wurde) ziehen sich bis tief in die Reaktionen gerade auch auf die kriegerischen Konflikte unserer Zeit hinein. Und sie sorgen dafür, dass im Hinblick auf alle möglichen Phänomene – Klima, Pandemie, etc. – umgehend Spaltung und Unversöhnlichkeit zutage treten, anstatt tiefgreifendere Reflexionen anzustoßen.
Die oberflächliche Symptomatik von Separation und reflexhafter Abwehr verdeckt hier, was tatsächlich auf dem Spiel steht, nämlich ein gangbares Aufrechterhalten des demokratischen Prozesses. So sehr die Szenarien in einzelnen Ländern und Regionen auch differieren mögen, so sehr hat sich über die Jahre – oftmals absichtlich in den Vordergrund gespielt – eine hartnäckige Front gegen die liberale Demokratie herauszubilden begonnen. Diese Front pflegt vielerlei Wahlverwandtschaften über geografische und kulturelle Grenzen hinweg und findet sich um ein zentrales Motiv herum vereint: das eines ethnonationalistischen, illiberalen Autoritarismus, der sich anmaßt, im Namen eines abgegrenzten, autochthonen „Volkes“ gegen alles davon Abweichende bzw. nicht den mehrheitlichen Maßstäben Entsprechende vorzugehen.
Ein zu diesem Zweck reaktiviertes Werkzeug ist das Feld der Kultur, oder genauer gesagt: eines neu in Stellung gebrachten Kulturkampfs, der aktuell in mannigfachen Gewändern auftritt. Von den USA über Südamerika bis hin zu verschiedenen europäischen Ländern – nicht zu vergessen Österreich – hat sich die dafür bemühte Rhetorik auf eine Gegnerschaft einzuschießen begonnen, deren angebliche Macht für jegliche Art von sozialer Fehlentwicklung verantwortlich gemacht wird: minoritäre Gruppierungen, irreguläre Migration, normabweichende Sexualitätsmuster, „Gender-Wahnsinn“, und nicht zu vergessen: das Gespenst eines allgegenwärtigen „Wokeness-Terrors“ – all diese „Bedrohungen“ werden häufig ins Treffen geführt, wenn es darum geht, die Illusion eines „gesunden Volksempfindens“ oder den „Hausverstand normaler Durchschnittsbürger*innen“ zu beschwören.
Die Ausgabe Kulturkämpfe fragt nach den Hintergründen und konkreten Motiven dieser Form von Feinbildgenerierung; nach aktuellen Ausformungen der „Culture Wars“ ebenso wie nach den ideologischen Beweggründen, politische Agenden stellvertretend in das Feld der Kunst zu transferieren. So rekapituliert Patricia Grzonka in ihrem Beitrag eine Reihe von Fällen, in denen sich Haltungen zum Nahostkonflikt lähmend auf das Gegenwartskunstgeschehen auszuwirken begonnen haben. Ana Teixeira Pinto wirft ein fokussiertes Schlaglicht darauf, wie leicht kritische Kunst- und Wissenschaftsbereiche unter eine Art Generalverdacht (den des Antisemitismus) geraten können – mit der Folge, prophylaktisch gecancelt zu werden. Demgegenüber untersucht Süreyyya Evren, welche Sensibilitäten im westlich geprägten Kunstbetrieb mehr gelten als andere, welche Ungleichgewichte hier herrschen, die nur selten explizit thematisiert werden.
Die allgemeineren ideologischen Hintergründe aktueller Kulturkämpfe werden in den Beiträgen von Fadi Toufiq, Joshua Simon und der Gruppe Total Refusal ausgeleuchtet. Toufiq legt sein Augenmerk auf die kontinuierliche Ausbreitung des ethnonationalistischen Denkens, während kulturelle Manöver vielfach nur Ablenkungen darstellen, um vom wahren Kern dieser Gesinnung abzulenken. In eine ähnliche Kerbe schlagen Joshua Simon, der die Gefahr des neuen Faschismus vor allem im Fahrwasser der zunehmenden Digitalisierung ortet, und Total Refusal, die kulturkämpferische Ansinnen als Folgeerscheinungen eines weiterhin ungebremsten Kapitalismus betrachten. Schließlich machen die Philosophinnen Susan Neiman und Ewa Majewska im Interview deutlich, wie sich dem vielbeschworenen Wokeness-Syndrom eine tragfähigere Universalität entgegenstellen lässt (Neiman) oder inwiefern, auf den polnischen Kontext bezogen (Majewska), feministische Bestrebungen konkrete Erfolge gegen den rechtsextremen Autoritarismus verbuchen haben können.
Über all dem schwebt die dunkle Ahnung, dass die avanciertere Kunst der Gegenwart in nicht allzu ferner Zukunft einem noch stärkeren neoreaktionären Kreuzfeuer ausgesetzt sein könnte. Welche probaten Mittel sie aufbieten kann, um derlei antidemokratischen Umtrieben nicht vollends zu erliegen, lässt sich nicht rezepthaft verschreiben. Nichtsdestotrotz hoffen wir, mit dieser Ausgabe situative Denkanstöße in diese Richtung zu geben.