Heft 2/2024 - Netzteil


Eher einschüchternd

Poetics of Encryption möchte Verbindungen zwischen physischem Raum und der virtuellen Welt hinter dem Monitor ausloten

Tilman Baumgärtel


Warum wählt man den Spitznamen „Blondie“ als Passwort für das Internet? Hinter dem unscheinbaren Wort kann eine ganze Lebensgeschichte stecken, wie die Arbeit Secret Worlds and Related Stories (2013–16) der finnischen Künstlerin Jona Kinna zeigt. Kinna hat sich die Geschichten erzählen lassen, die hinter der Wahl von Passwörtern stecken; diese Erinnerungen werden in der Videoarbeit von Teenager*innen vorgelesen. „Blondie“, so erfährt man, steht für eine Zeit im Leben der Userin, als sie mitten in der Pubertät steckte, mit diesem Spitznamen von anderen Jugendlichen gehänselt wurde und den Namen als Passwort für ein soziales Netzwerk wählte, in dem sie die Liebesaffären ihres Exfreunds verfolgte und darüber viele Tränen vergoss. Was eigentlich ein nur für Computer verständlicher Code sein sollte, der den Zugang zu einer Maschine möglich macht und reglementiert, erscheint hier als Emblem einer Daseinsphase voller starker Gefühle und tiefer Bezüge zu einer Lebenswirklichkeit jenseits von Rechnern und den Datenflüssen zwischen diesen.
Besser könnte man das Thema der Ausstellung Poetics of Encryption im Berliner KW Institute for Contemporary Art kaum zusammenfassen: Es geht um die Verbindung zwischen dem physischen Raum und der virtuellen Welt hinter dem Monitor, wie Kurator Nadim Samman bei der Eröffnung betonte; um eine Welt, in der unsere Bewegungen durch den öffentlichen Raum von Google Maps und Transport-Apps wie Uber, unser Bedürfnis nach Gemeinschaft von sozialen Medien und unser Gefühlsleben von Dating-Apps gesteuert werden – und die ganze Infrastruktur inklusive der dabei entstehenden Daten auf den Servern von profitorientierten amerikanischen IT-Firmen liegen. „In vielen Bereichen verlassen wir uns auf digitale Hilfsmittel. Aber nur selten verstehen wir, wie sie tatsächlich funktionieren“, heißt es im Pressetext zur Ausstellung. „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit unserer relativen Machtlosigkeit gegenüber undurchschaubaren Systemen abzufinden. Wie macht sich dieses persönliche und politische Drama im kulturellen Bereich bemerkbar?“
Man merkt solchen gemeinverständlichen Formulierungen an, dass es hier ganz offensichtlich darum geht, der Kunst, die sich mit Technologien beschäftigt, den Schrecken zu nehmen. Denn in Deutschland ist es immer noch eine kleine Sensation, wenn ein Ausstellungshaus des traditionellen Kunstbetriebs sich mit Medien- und Netzkunst beschäftigt. International haben Museen wie das Whitney eine eigene Sammlung von Netzkunst auf ihrer Website und trauen sich wenigstens gelegentlich an Kunst, die sich mit Computern und dem Internet beschäftigen – mit Ausstellungen wie zuletzt Coded: Art Enters the Computer Age im Los Angeles County Museum, Supermarket of Images im Jeu de Paume in Paris, Snap and Share im San Francisco Museum of Modern Art oder Electronic Superhighway in der Whitechapel Gallery in London.
Im deutschsprachigen Bereich, in dem ein wichtiger Teil der Infrastruktur für Medienkunst angesiedelt ist, fremdelt die traditionelle Kunstwelt bis heute mit dieser Art von Kunst und überlässt sie gerne spezialisierten Institutionen wie dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe oder dem Haus der Elektronische Künste (HEK) in Basel bzw. Festivals wie der Ars Electronica in Linz oder der Transmediale in Berlin. Wenn sich einmal ein Traditionsmuseum auf digitale Kunst einlässt, dann muss das Thema mindestens 20 Jahre auf dem Buckel haben, wie bei der Glitch-Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München, die sich dann allerdings über überdurchschnittlich guten Besuch freuen kann.
Umso höher sind daher die Erwartungen, wenn sich eine Institution wie das KW in Berlin doch einmal an eine große Ausstellung mit digitaler Kunst wagt – und es mag kein Zufall sein, dass diese nicht unter einem deutschen Leiter stattfand, sondern unter dem Holländer Krist Gruijthuijsen, der in seinen acht Jahren an dem Haus ein ungewöhnliches und abwechslungsreiches Programm geboten hat und mit dieser Ausstellung seinen Abschied nimmt.
Gruijthuijsen hatte 2019 als ersten „Kurator Digitaler Raum“ in Deutschland Nadim Samman eingestellt, der zunächst pandemiebedingt in erster Linie die KW-Website bespielte. Auch für ihn könnte Poetics of Encryption die Abschiedsvorstellung am KW sein, denn ob die neue Chefin Emma Enderby die Stelle verlängert, ist keineswegs sicher. Für diese Ausstellung ist Samman daher in die Vollen gegangen und hat nicht nur eine technisch anspruchsvolle Präsentation auf vier gut gefüllten Etagen sowie drei Auftragsarbeiten für die Website erstellt, sondern gleich auch noch ein Buch geschrieben, das die aufgegriffenen Themen vertieft. Und die präsentieren einen düsteren Blick auf die Technologie der Gegenwart: „Black Hole“, „Black Site“ und „Black Box“ heißen die drei Kapitel, die das Buch und die Ausstellung gliedern. „Black Box“ behandelt die mangelnde Transparenz der Devices und Programme, mit denen wir uns jeden Tag beschäftigen, „Black Site“ die Allgegenwart dieser Technologien, ohne die der alltägliche Lebensvollzug zunehmend unmöglich wird, während „Back Hole“ die „sozialen, ökonomischen und politischen Schimären“ der digitalen Welt von Fake News und Verschwörungstheorien bis hin zu KI-generierten, fotorealistischen Bilderuniversen thematisiert.
Samman hat bei der Künstlerauswahl einen Balanceakt vollzogen zwischen solchen, die im traditionellen Kunstbetrieb mitspielen dürfen (wie Simon Denny, Jon Rafman, Trevor Paglen oder Carsten Nicolai), und solchen, die man eher dem Paralleluniversum Medienkunstbetrieb zuordnen würde (wie Nora Al-Badri, Clusterduck, UBERMORGEN oder Sebastian Schmieg). Gerade in der Gegenüberstellung wird deutlich, wie willkürlich solche Zuschreibungen sind und weniger mit Qualitätsunterschieden oder Komplexitätsgraden zu tun haben als mit Anschlussfähigkeit, Positionierung oder schierem Glück.
In ihrer Gesamtheit verlangt die Ausstellung dem Publikum viel ab: Eine Reihe von Videos, die zum Teil Spielfilmlänge haben, und die Ausstellungsarchitektur, welche die Räume dem Ausstellungsthema entsprechend so verdunkelt, dass man kaum die Beschriftungen lesen kann, muss man als Betrachter*in hinnehmen. Viele der gezeigten Werke erschließen sich allerdings nur mit ausführlichen Hintergrundinformationen. Umso dankbarer ist man da für Arbeiten, die keine mäandernden Erläuterungen ihres Kontexts benötigen: etwa die riesige Wandarbeit von Clusterduck, die einen historisch-ästhetischen Überblick über die Geschichte und die Entwicklung von Memes irgendwo zwischen Aby Warburgs Bildatlas und dem „Red String Meme“ liefert. Die blinkenden, zur Wand gedrehten Flachbildmonitore von Carsten Nicolai, die den Raum in ein flackerndes Licht tauchen, sagen möglicherweise mehr über die Dispositive von Medien als gewundene Abhandlungen wie das 24 Meter lange Diagramm zur Mediengeschichte von Kate Crawford und Vladan Joler, welches das Publikum in der gezeigten Form wohl eher einschüchtert, als zu einer eigene Agency gegenüber der Technologie animiert. Reduktion auf das Wesentliche ist immer noch eine ästhetische Tugend, das gilt sowohl für individuelle Kunstwerke wie auch für die Konzeption von Ausstellungen.

Poetics of Encryption, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 17. Februar bis 26. Mai 2024; von 28. September bis 12. Januar 2025 ist die Ausstellung in der Kunsthal Charlottenburg, Kopenhagen zu sehen. Anstelle eines Katalogs erschien: Nadim Samman: Poetics of Encryption. Art and the Technocene. Berlin: Hatje Cantz 2023. Die Website mit Arbeiten, die im Rahmen der Ausstellung für das Internet entwickelt wurden, bleibt auch nach der Schau online: https://poeticsofencryption.kw-berlin.de/src/html/LandingPage.html