Heft 2/2024 - Kulturkämpfe


Im Labyrinth der Empfindlichkeiten

Kunst und ihre ungleiche Verstrickung in heutige Kulturkämpfe

Süreyyya Evren


Die Frage, wie Kunst auf die um sich greifenden Kulturkämpfe und verschiedenen berechtigten Empörungen reagieren soll, hängt eng mit der Frage nach der gesellschaftlichen Rolle und dem Standpunkt zusammen, die sich Kunst diesbezüglich selbst zuschreibt. Kann Kunst sprechen, ohne Stellung für eine Seite zu beziehen? Soll die Kunst als intellektuelles Unterfangen weiterhin außenstehend sein? Hat die Kunst heute überhaupt noch genug Ansehen, um eine von Konfliktparteien in Kulturkämpfen unabhängige Interpretation glaubhaft zu vertreten? Und von welchem Standpunkt aus kann die Kunst neutral kritisieren, wenn der Blick von außen im gegenwärtigen Diskurs gar nicht gewollt wird?
Wie die Künstler*innen selbst sind auch Kunstwerke in Kulturkämpfen keine Unbeteiligten mehr. Oft müssen sie sogar explizit Stellung beziehen. Solange klar ist, welche Seite „recht hat“, zum Beispiel im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, scheint das einigermaßen problemlos zu sein. Konflikte wie der zwischen Palästina und Israel hingegen führen umgehend zu Auseinandersetzungen. Und bisweilen müssen die, die sich im Kampf um ihre kulturelle Empfindlichkeit an den Rand gedrängt fühlen, wie beispielsweise drei irakische Künstler*innen auf der Berlin Biennale 2022, erst darum kämpfen, dass ihre Stimme überhaupt gehört wird.
Oft fällt es Künstler*innen schwer, eine neutrale Haltung zu Kulturkämpfen zu finden. Sie sehen sich gezwungen, mit jenen Empfindlichkeiten mitzufühlen, die in der Kunstwelt generell unterstützt werden. In Konflikten wie dem israelisch-palästinensischen gibt es jedoch keinen Konsens, was denn die „richtige“ Empfindlichkeit wäre. Das führt zu Spaltungen und Streit innerhalb der Kunstgemeinschaft, was beweist, welchem Druck der Parteinahme Künstler*innen ausgesetzt sind und wie sich dieser Druck auf ihre Kunst auswirkt.
Wenn ich derartige Kulturkämpfe hier analysiere, dann, weil ich ein Porträt der in sie verstrickten Kunst zeichnen will, aber auch Empfindlichkeiten nachzeichnen möchte, die sich Gehör verschaffen und Anklang finden wollen, sich aber oft ins Schweigen zurückziehen. Meine Überlegungen zur sozialen Rolle der Kunst im Zuge von Kulturkämpfen möchte ich am Beispiel des Irak und der Folterverbrechen in Abu Ghraib ausführen.
Auf der 12. Berlin Biennale 2022 protestierten die irakischen Künstler Sajjad Abbas, Raed Mutar und Layth Kareem gegen das Werk Poison soluble. Scènes de l’occupation américaine à Bagdad [Lösliches Gift. Szenen aus der Zeit der amerikanischen Besatzung in Bagdad] (2013) des Franzosen Jean-Jacques Lebel und zogen schlussendlich ihre eigenen Arbeiten zurück. Warum fanden sie das Werk Lebels so problematisch? Es umfasste großformatige Digitalabzüge der schockierenden Folterfotos von Abu Ghraib,1 die nach der amerikanischen Invasion des Irak 2003 aufgenommen und hier in einer Art Labyrinth arrangiert waren. Gezeigt worden war das Werk bereits 2018 von Kader Attia, dem Kurator der 12. Berlin Biennale, im Rahmen einer Ausstellung im Palais de Tokyo in Paris.
In Berlin waren die Werke von Abbas, Mutar und Kareem zunächst in unmittelbarer Nähe zu Lebels Arbeit installiert worden. Besonders die Arbeit I Can See You (2013) von Abbas führte in diesem Kontext anfangs zu heftigen Reaktionen.2 Sie besteht aus einem riesigen Auge, das einen Platz überblickt und symbolisch den wachsamen Blick des Künstlers auf das Publikum, aber auch die anhaltende Überwachung darstellt. Wodurch auch die Frage aufgeworfen wurde: Wer blickt Lebels Werk unter welchen Voraussetzungen an? Schließlich gelangten die drei Iraker zu der Ansicht, dass Lebels Werk auch die Wahrnehmung ihrer Arbeiten zwangsweise beeinflussen würde, und sie warfen dem Kurator*innenteam vor, Folteropfer zur Schau zu stellen. Auch kritisierten sie, dass weder diese noch die Urheber*innen der Fotos je um Erlaubnis gefragt worden waren.
Abbas, Mutar und Kareem beschwerten sich über Lebel, weil er dem Auge der Öffentlichkeit preisgab, was unsichtbar bleiben sollte, nämlich die Opfer. Sie argumentierten, dass der voyeuristische Blick von außerhalb des Iraks komme und ihre eigenen Arbeiten einzig im Zusammenhang mit irakischen Folteropfern gesehen werden würden. Kader Attia kritisierten sie insbesondere dafür, dass Lebels Werk durch die kuratorische Inszenierung die Voraussetzung für die Betrachtung des Werkes von Abbas bilden sollte. Außerdem waren sie unzufrieden mit einem Schild bei Lebels Arbeit, das das Publikum vor dessen negativer oder traumatisierender Wirkung warnte.
In einem Artikel in Artforum brachte die irakische Künstlerin und Kuratorin Rijin Sahakian vor, dass durch die Biennale Bilder der Gewalt an arabischen, genauer: irakischen Menschen, die man wie Tiere bändigen müsse, verstärkt bzw. popularisiert würden.3 Dagegen wandte Kader Attia ein, dass Bilder der Gewalt bewusst gezeigt werden müssten, um die Opfer zu heilen. Interessant daran ist, dass Attia seine kuratorische Auswahl gar nicht erst groß begründete. Stattdessen fühlte er sich offenkundig gezwungen, die passenden Empfindlichkeiten zu bedienen. So mag seine Verteidigung innerhalb der Kunstwelt vernünftig wirken, die Empfindsamkeit der irakischen Künstler blieben dabei jedoch außen vor.
Attia rechtfertigte seine kuratorische Auswahl nicht mit den Meriten der Werke oder gar dem Gesamtzusammenhang der Ausstellung, sondern politisch bzw. gesellschaftlich. Das zeigt, wie wichtig politische Empfindlichkeiten sind, die in Kulturkämpfen mitschwingen und auch die Wege der Kunst bestimmen. Kunstwerke sind eben nicht nur Kunst. Ihr Platz in der Kultur hängt auch davon ab, welchen Nutzen man ihnen beimisst. Mitunter können sie auch allein aufgrund ihres fehlenden Nutzwerts entfernt werden. Und mitunter muss man sie auch aufgrund ihres Nutzens verteidigen, wenn sie nicht entfernt werden sollen.
In einem Statement zum Rückzug der Ko-Kuratorin Ana Teixeira Pinto räumte das kuratorische Team Schmerz und Trauma ein, die von Lebels Werk verursacht werden könnten. Gleichzeitig wurde aber auch festgehalten, dass man, wenn man die Augen vor den neuesten imperialistischen Verbrechen wie jenen im Irak verschließt, einen kritischen Aspekt heutiger Politik ignorierte. In diesem Statement schien das Vorurteil des „wehleidigen arabischen Menschen“ durch, demgemäß Araber*innen „überempfindlich“ seien. Trotz Trauma und Schmerz müsse im Vordergrund stehen, die politische Verurteilung imperialistischer Verbrechen einzumahnen. Obwohl das im Interesse der Araber*innen sei, können diese selbst das bedauerlicherweise nicht erkennen.
Sahakian und die betroffenen Künstler hielten dem entgegen, dass die Kurator*innen den Gewaltausbruch in Abu Ghraib unabsichtlich überhöht, fetischisiert und damit ausgenutzt hätten. Dies würde auch dadurch belegt, dass die Opfer erst gar nicht gefragt wurden. Darüber hinaus hätten die Kurator*innen die irakischen Künstler zu belehren versucht, wie sie ihre eigene Geschichte zu deuten hätten, während sie sich gleichzeitig mit ihrer antikolonialen Haltung aufgespielt hätten.
Die Fragen, wem die Geschichte gehört und wer welche historischen Narrative in Anspruch nehmen darf, sind natürlich kompliziert. Was die Kunst betrifft, stechen zwei Probleme am Berliner Streit heraus. Erstens die Kritik, dass ein Werk zu einem politischen Ereignis, bei dem es auch Opfer gab, ohne die Erlaubnis der direkt Beteiligten ausgestellt wurde; und zweitens die umfänglichere Frage nach der Publikumserwartung auf einer Biennale, auf der ein Werk (wie in diesem Fall) zwischen der Zurschaustellung und Ausnützung fetischisierter Gewalt einerseits und antikolonialer Sühne andererseits schwankt.
In meinem Artikel „The Spectacle of Torture“4 habe ich festgehalten, dass die Fotos aus Abu Ghraib typisch sind für den fließenden Übergang zwischen Folter und Spektakel – weil sie die Folter der Eroberer, Militärberichte vor der US-Invasion mit dem Titel „Die Schande Arabiens“, Masochismus, die Bedrohung durch den Schmerz und den fotografischen Voyeurismus gleichzeitig zur Schau stellen. So gesehen war ich mit Sahakian einer Meinung. Ich meine wie sie, dass die Ausstellung von Folterfotos nicht unbedingt als gegen die Folter sprechend gedeutet werden muss. Im Gegenteil kann dies auch als Teil der Folter betrachtet werden. Bereits 2017 hatte Sahakian in einem Text darauf hingewiesen, dass sie in Kalifornien einen Mann mit einem T-Shirt gesehen hatte, auf dem „Who is your Baghdaddy?“ stand.5
Man kann darüber streiten, ob das wiederholte Zeigen der Fotos aus Abu Ghraib, besonders wenn es ohne Einverständnis der Opfer geschieht, überhaupt noch etwas mit dem ursprünglichen Sachverhalt zu tun hat. Und doch wird in solchen Debatten die Angemessenheit von Kunstwerken oft mitverhandelt. Jedenfalls reichten die irakischen Empfindlichkeiten in diesem Fall nicht aus, um Kader Attia zum Rücktritt zu zwingen oder auch bloß Lebels Werk zu entfernen, wie es bei der documenta fifteen im selben Jahr sehr wohl geschah.6
Kein Zweifel, Abbas hätte einfach künstlerische oder kuratorische Einwände vorbringen können. Er hätte mit seinem Unbehagen darüber argumentieren können, wie sein Werk ganz unabhängig von dessen Inhalt gezeigt wird. Das jedoch wäre dann ein rein kuratorischer Streit gewesen (und wir wissen von den Diskussionen in Berlin, dass auch Lösungen wie das Umhängen von Arbeiten vorgeschlagen worden waren).
Es gibt also einen Unterschied zwischen der Beurteilung, Entfernung oder gar Zerstörung von Kunstwerken aufgrund bestimmter Empfindlichkeiten, nämlich jener des vorherrschenden Konsenses, und der Kritik von Kunstwerken aufgrund von Empfindlichkeiten von außerhalb dieses Konsenses. Letztere sind wie bei den drei irakischen Künstlern eher lokal. In solchen Fällen stellt die Ausstellung eines Werkes kein Problem dar, und allzu empfindliche Einzelpersonen können sich von der Schau zurückziehen. Sodann kann der Kurator sein Bedauern ausdrücken, ohne dass es Folgen für ihn hätte.
Die Schlussfolgerung, die die meisten Künstler*innen und Kurator*innen aus diesem Vorfall ziehen, ist, dass in unserem Kunstbetrieb die Frage „Wessen Empfindlichkeit?“ eminent wichtig ist. Wie man an den Themen Ukraine und Gaza sieht, gibt es Raum für verschiedenste Argumente, solange man aufseiten der richtigen Empfindlichkeit steht. Stellt man sich auf die Seite jener, die für falsch gehalten wird, hat man hingegen kein Argument mehr.
Man bedenke auch, dass die Berlin Biennale Jean-Jacques Lebel als aktiven Antikolonialisten darstellte. Sein umstrittenes Werk sollte das Publikum für die heutigen Auswirkungen des Kolonialismus sensibilisieren. Allerdings gibt es keinen Grund, dieselbe Verteidigung nicht auch zum Beispiel für Taring Padi ins Feld zu führen, deren Arbeit von der documenta entfernt wurde. Wenn wir dieses Problem also unter dem Aspekt der Legitimität und nicht so sehr von der Theorieseite her betrachten, verstehen wir besser, was die beiden Fälle unterscheidet.
In letzter Zeit war in der Literatur- und Journalismusbranche oft vom neuen Job des „Sensitivity Readers“ die Rede. Dessen Aufgabe besteht darin, für einen Verlag ein Manuskript auf sensible Inhalte hin zu prüfen. Wenn er*sie auf etwas stößt, das nicht tolerierbar erscheint, dann warnt er*sie den Verlag und den*die Autor*in vor. Wie in Minority Report von Steven Spielberg (2002) können damit „Verbrechen“, die in einem Buch möglicherweise geschehen, bereits im Voraus entdeckt und verhindert werden. Nebenbei möge man sich des Mottos der US-amerikanischen Operation im Irak erinnern, die sich just in dem Jahr, in dem Minority Report in den Kinos lief, zur Invasion zuspitzte: Es war dies nämlich ein „Präventivkrieg“, also ein Erstschlag, der ein Problem lösen sollte, das es noch gar nicht gab.
In ihrem Artikel über „Sensitivity Reader“ als neue Autoritäten im Literaturbetrieb nennt Kat Rosenfield als Beispiel den Schriftsteller Alberto Gullaba Jr. Dieser verfasste ein Romanmanuskript mit dem Titel University Thugs, in dessen Handlung ein junger Schwarzer die Hauptperson ist. Das Skript wurde bei Verlagen enthusiastisch aufgenommen, da diese aufgrund des Namens Gullaba und der Romanhandlung annahmen, dass der Autor Schwarz sei. Als der dann aber seine Biografie sandte, stellte sich heraus, dass er philippinischer Herkunft war, und sofort änderte sich die Stimmung. „Mein Agent war nicht mehr so optimistisch. Er schien mir sogar richtiggehend nervös und begann, größere Änderungen am Manuskript anzuregen.“ Die Anekdote endet damit, dass schließlich ein „Sensitivity Reader“ mitlektorierte.7
Wollten die irakischen Künstler Lebels Werk vielleicht einem „Sensitivity Reading“ unterziehen? Klarerweise wurde ihren Forderungen nicht stattgegeben. Denn merke, nicht jede Empfindlichkeit ist gleich wichtig. Die Zensur durch manche Empfindlichkeiten ist schlankweg Zensur, während die Zensur aufgrund anderer Empfindlichkeiten als Befreiung der Kunst gilt.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] In der Frühphase des Irakkriegs begingen Angehörige der amerikanischen Armee und der CIA zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an Gefangenen der Haftanstalt Abu Ghraib. Dazu zählten körperliche Misshandlungen, sexuelle Demütigung, körperliche und psychische Folter, Vergewaltigung sowie die Tötung und Leichenschändung von Manadel al-Jamadi. Die Delikte wurden im April 2004 durch Berichte auf CBS News öffentlich bekannt.
[2] Vgl. Pamela Wong, Iraqi Artists Withdraw from Berlin Biennale, Artasiapacific, 18. August 2022; https://artasiapacific.com/news/iraqi-artists-withdraw-from-berlin-biennale bzw. https://www.middleeasteye.net/news/berlin-biennale-iraq-artists-denounce-abu-ghraib-images.
[3] Rijin Sahakian, Beyond Torture, Artforum, 29. Juli 2022; https://www.artforum.com/columns/regarding-torture-at-the-berlin-biennale-251959/; die Replik der Biennale darauf findet sich hier: https://12.berlinbiennale.de/de/wp-content/uploads/sites/2/2022/08/BB12_Statement-Berlin-Biennale_DE.pdf?x79073.
[4] Vgl. Süreyyya Evren, The Spectacle of Torture, Anarchist Studies, 13/1, S. 70–78; https://www.academia.edu/2604767/Abu_Ghraib_The_Spectacle_of_Torture.
[5] Vgl. Rijin Sahakian, What We Are Fighting For, e-flux journal, 84 (September 2017); https://www.e-flux.com/journal/84/150664/what-we-are-fighting-for/.
[6] Die Arbeit People’s Justice (2002) der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi wurde wegen Antisemitismusvorwürfen von der documenta 15 entfernt. Sie wurde zuerst verhüllt und mit einem Erklärungsschild versehen. Kurz danach wurde sie überhaupt abgebaut, woraufhin Sabine Schormann als Generaldirektorin der documenta zurücktrat.
[7] Vgl. Kat Rosenfield, Sensitivity Readers Are The New Literary Gatekeepers, Reason, August/September 2022; https://reason.com/2022/07/05/rise-of-the-sensitivity-reader/.