Heft 2/2024 - Kulturkämpfe
Vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza vollziehen liberale Demokratien eine illiberale Wende. In Deutschland hat die jüngste Flut an Absagen von Kunst- und Kulturveranstaltungen – mittlerweile zu viele, um sie alle aufzulisten1 –international für Schlagzeilen gesorgt. Daneben ist eine weniger auffällige, aber bei Weitem heimtückischere Kampagne im Gange, mit der versucht wird, unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Antisemitismus ganze Bereiche wissenschaftlicher Untersuchung zu delegitimieren bzw. ihnen die Finanzmittel zu entziehen.
Cancel Culture
In den vergangenen Jahren haben sich viele Künstler*innen und Kunstinstitutionen für die Verteidigung von „künstlerischer Freiheit“ und „Redefreiheit“ eingesetzt, die angeblich durch die moralischen Auswüchse der „Identitätspolitik“, landläufig auch „Cancel Culture“ genannt, gefährdet seien. Die Verbreitung des Mythos von der Krise der Redefreiheit an den Universitäten2 war Teil eines breiter angelegten Kulturkriegs von Rechtspopulist*innen gegen diejenigen, die Unterdrückung abschaffen wollten. Der Begriff „Cancel Culture“ hatte dabei die Funktion, Menschen, die sich gemeinsam organisieren, um gegen bestimmte politische Positionen zu protestieren, zu diskreditieren, indem man ihren Protest mit für Social Media typischen Formen von Mobbing in einen Topf warf. Ein 2020 vom Harper’s Magazine veröffentlichter „Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte“ veranschaulicht dies sehr gut. Die Autor*innen des Briefes, der vor dem Hintergrund der Black-Lives-Matter-Bewegung sowie einer Epidemie verfasst wurde, die den strukturellen Rassismus der westlichen Gesellschaften offen zutage treten ließ, behaupten darin, „sich für den Wert der direkten und sogar bissigen Gegenrede allseits einzusetzen“3. In einer Zeit, da die extreme Rechte weltweit auf dem Vormarsch ist, sind „Redefreiheit“ und verwandte Konzepte, etwa „akademische Freiheit“ und die „künstlerische Freiheit“, Teil eines ideologischen Arsenals geworden, über das diejenigen als „Debattenverhinder*innen“ verteufelt werden, die versuchen, Themen wie Gender und Race breiter zu diskutieren. Seit dem grausamen Angriff der Hamas auf mehrere südisraelische Kibbuzim am 7. Oktober 2023 hat sich die Position von Meinungsmacher*innen wie politischen Mandatsträger*innen in den USA, Deutschland und Frankreich jedoch radikal geändert. Wie die jüngsten Ereignisse zeigen, war die freie Rede nie als unbestrittenes Recht auf Meinungsfreiheit für alle gemeint: Der Schutz, für den die Verfechter*innen der freien Rede so erbittert gekämpft haben, erstreckt sich nicht auf Menschen, die sich für die Rechte von Palästinenser*innen aussprechen oder einfach gegen die Tötung der Zivilbevölkerung protestieren, was einen Hinweis auf den Inhalt des liberalen Freiheitsbegriffs und in der Tat auch auf seine Politik liefert: Die Verteidigung liberaler Werte kann für Vertreter*innen einer illiberalen Agenda durchaus von Nutzen sein.
Dies möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Analyse der aktuellen Situation nehmen. Aber nicht, wie aus deutschen Fachkreisen verlautet, als einen Fall, in dem aufgrund der Gefahr für die Sicherheit der jüdischen Minderheit durch den Anstieg von „importiertem Antisemitismus“ politisches Eingreifen sowohl garantiert als auch notwendig ist, sondern vielmehr als einen Versuch, kulturelle Ressourcen und Diskurse zu renationalisieren, oder, wie der englische Historiker Adam Tooze es ausdrückt, als „ein Projekt der Gegenmehrheit, basierend auf der Verpflichtung, kontrollierend und verwaltend, um nicht zu sagen, zensierend, auf die deutsche öffentliche Meinung einzuwirken“4. Allen, die die aktuellen Ereignisse als bloße Fortsetzung der Kultur des Online-Bashings sehen, sei nur so viel gesagt: Das hier ist nicht „Cancel Culture“. Der Begriff „Cancel Culture“ wurde eingeführt, um den Druck der Öffentlichkeit auf Institutionen, Prominente oder politische Mandatsträger*innen zu beschreiben. Das hier ist das genaue Gegenteil. Hier geht es nicht darum, dass die Öffentlichkeit Druck auf institutionalisierte Macht ausübt, sondern dass institutionalisierte Macht die Öffentlichkeit unter Druck setzt. Das hier ist staatlich sanktionierte Zensur.
Hintergrund
Bereits vor dem Anschlag des 7. Oktobers waren in Deutschland mehrere Jahre lang politische Eingriffe in die Programmgestaltung von Kulturinstitutionen bzw. die Praxis, Antisemitismusvorwürfe ohne ausreichende Beweise zu veröffentlichen, beobachtbar. Nach der Verschärfung dieses McCarthy-artigen Klimas im Jahr 2020 rief eine große Anzahl deutscher Institutionen die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit als Gegenmaßnahme ins Leben. Besorgnis erregte bei den Unterzeichner*innen insbesondere ein 2019 vom Deutschen Bundestag angenommener Antrag, der die BDS-Bewegung als antisemitisch abstempelte. Aus den gleichen Gründen, aus denen die Weltoffenheitsinitiative den BDS-Boykott zurückwies, wies sie auch den vom Bundestag gebilligten Gegenboykott als „schädlich für die demokratische Öffentlichkeit“ zurück. Antisemitismusvorwürfe, so die Initiative, „würden missbraucht, um wichtige Stimmen wegzudrücken und kritische Positionen zu verzerren.“5 Doch ihre Warnungen blieben unbeachtet.
Obgleich rechtlich nicht bindend hatte der BDS-Antrag eine abschreckende Wirkung, hob er doch die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierungspolitik sowie die Unterscheidung zwischen Kritik an dieser Politik und der Verneinung des Existenzrechts Israels auf.6 In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass die BDS-Bewegung, obgleich problematisch, das Existenzrecht Israels nicht in Abrede stellt.7 Die deutschen Behörden haben aber genau diesen Eindruck erweckt und nach dem 7. Oktober den Versuch unternommen, diesen Konsens gesetzlich zu verankern und gleichzeitig den Kampf für die Rechte von Palästinenser*innen als das neue Gesicht des Antisemitismus aufzubauen. Am 8. November 2023 rügte der deutsche Bundespräsident Araber*innen in Deutschland, weil sie sich nicht von der Hamas distanziert hätten. Das Paradoxe an dieser Rüge war, dass er befürchtete, deutsche Jüd*innen könnten bei Vergeltungsschlägen gegen die Aktionen des israelischen Staates zur Zielscheibe werden. In einer weiteren Stigmatisierung der arabischstämmigen Bevölkerung, von denen einige durch die israelischen Bombardements teilweise selbst Familienangehörige verloren hatten, griffen die Sicherheitsbehörden bei Demonstrationen und friedlichen Protesten hart durch.8 Während der Deutsche Bundestag noch diskutierte, ob ein Bekenntnis zu Israel Voraussetzung für die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft werden solle, wurde dieses von Sachsen-Anhalt einfach implementiert: Einbürgerungswillige müssen nun schriftlich bestätigen, dass sie „das Existenzrecht Israels“ ausdrücklich anerkennen und keine Bestrebungen verfolgen, die gegen dieses Existenzrecht gerichtet sind. Im Januar 2024 schlug der Berliner Senat die Einführung von Vertragsklauseln vor, die staatliche Förderung an die Zustimmung zur Antisemitismusdefinition der IHRA (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) knüpfen. Mit diesem Vorstoß tritt der Senat in die Fußstapfen der Trump-Administration, welche die IHRA-Definition zum Maßstab für Hate Speech an Universitäten machte, obwohl Kenneth Stern, der federführend an der Formulierung der Definition beteiligt war, sich dagegen aussprach, weil die IHRA-Definition seiner Meinung nach nur dann nicht gegen das Verfassungsrecht verstoße, wenn sie rechtlich unverbindlich bliebe. Zusätzlich zu dem Bekenntnis zur Umsetzung der IHRA-Klausel und der Anerkennung des Existenzrechts Israels sollten Antragsteller*innen in Deutschland dafür Sorge tragen, dass keine staatlichen Mittel an Vereinigungen verteilt oder für Aktivitäten ausgegeben werden, die als „extremistisch“ gelten – und was oder wer in diesem Kontext als „extremistisch“ gilt, ist oft überraschend.
Als Studierende der Universität der Künste in Berlin bei einem Protest ihre rot bemalten Handflächen hochhielten, wurden sie beschuldigt, den Ramallah-Lynchmord an zwei Reservisten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte im Jahre 2000 zu feiern,9 obgleich es höchst unwahrscheinlich ist, dass sie von diesem Ereignis wussten, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal auf der Welt gewesen waren, und rot bemalte Hände ein allseits bekanntes Protestmotiv sind.10 An vielen Universitäten werden Rufe nach Zwangsexmatrikulationen und der Durchsetzung anderer Disziplinarmaßnahmen laut.11
Offensichtlich unbeeindruckt von der grauenvollen Vorgeschichte Deutschlands, wenn es um die Beschlagnahmung jüdischen Eigentums geht, hat die Berliner Sparkasse vor Kurzem das Konto der Organisation Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost eingefroren. Und in einem „Angriff auf die Fakten“, wie Eyal Weizman von Forensic Architecture es beschrieb, kritisierte die taz die forensische Untersuchung der Bombardierung des al-Ahli-Krankenhauses, die von der Recherchegruppe durchgeführt wurde.12 Hin und wieder geht das Abschirmen Israels vor Kritik auch auf Kosten jüdischen Lebens: Der israelische Journalist Yuval Abraham und seine Familie wurden nach der negativen Presse für seine Dankesrede bei der Berlinale das Ziel von Morddrohungen. Abraham war gemeinsam mit dem palästinensischen Aktivisten Basel Adra für den Film No Other Land ausgezeichnet worden. Als die Kulturstaatsministerin darauf angesprochen wurde, die Auszeichnung mit Applaus belohnt zu haben, erklärte sie, sie habe nur für die israelische Seite geklatscht.
An dieser Stelle sollte klargestellt werden, warum es Widerstand gegen die IHRA-Definition gibt. Niemand bestreitet, dass Antisemitismus nicht toleriert werden darf. Niemand bestreitet das Existenzrecht Israels. Was hier angemahnt wird, ist der kontinuierliche Versuch, politischen Dissens als Hassverbrechen zu kodifizieren. Die IHRA-Klausel wurde zwar „Antidiskriminierungsklausel“ genannt, doch wie die jüngsten Ereignisse zeigen, schafft die IHRA-Definition durch die Vermischung von Antisemitismus mit Antizionismus Raum für nicht-jüdische Deutsche, die Israels Politik verteidigen, sich als Opfer von antisemitischen Angriffen zu präsentieren, während jüdische Menschen dabei eher beiseitegeschoben werden.
Im Kampf gegen Antisemitismus hat die deutsche Bundesregierung eine offizielle Taskforce ins Leben gerufen, außerdem besitzen 14 Bundesländer mittlerweile Antisemitismusbeauftragte. Und auch an deutschen Universitäten werden neben Gleichstellungsbeauftragten bald Antisemitismusbeauftragte in den für Personalentscheidungen und Studienplatzvergabe zuständigen Gremien sitzen. Wie Peter Kuras in einem Artikel für das Magazin Jewish Currents anmerkt, ist keine*r dieser Beauftragten jüdischer Herkunft.13 Tatsächlich erheben die Beauftragten relativ häufig Antisemitismusvorwürfe gegen Jüd*innen, und 30 Prozent der gecancelten Veranstaltungen in Deutschland betrafen bislang jüdische Autor*innen. Der Antisemitismusbeauftrage des Bundes, Felix Klein, würde „eher linksstehenden Israelis gern sagen [...]: Natürlich soll man israelkritische Stimmen auch in Deutschland zur Geltung bringen dürfen. Aber eine gewisse Sensibilität für die historische deutsche Verantwortung sollte man doch haben.“14 Häufig kommt es jedoch vor, dass jüdischer Dissens als krankhaft dargestellt wird. Jüd*innen, die Israels Politik kritisch sehen, wird lähmender Selbsthass attestiert, denn „sie wissen nicht, was sie tun“15. Während jüdischen Menschen das Recht auf eine politische Identität verweigert wird, ermöglicht die Verschmelzung von israelischer und jüdischer Identität es Deutschland, „wieder einmal zu definieren, wer ein Jude oder eine Jüdin ist“, so George Prochnik, Emily Dische-Becker und Eyal Weizman.16
Die oft geheuchelte und aufgesetzte Sorge um die Sicherheit jüdischer Menschen, wie sie von deutschen Expert*innen und Politiker*innen häufig geäußert wird, kann für wohlmeinende Bürger*innen durchaus ansprechend sein. Laut Donald Kinder und Tali Mendelberg lassen sich Prinzipien am besten dadurch verstehen, wie und wozu sie eingesetzt werden. Vorurteile werden meist in einer Sprache ausgedrückt, die der Mehrheitsgesellschaft vertraut und überzeugend erscheint; das heißt, rassistische Anfeindungen werden immer in einer Sprache der Prinzipien ausgedrückt.17 In einem Land mit einer grauenvollen Vorgeschichte lässt sich die rhetorische Funktion von Antisemitismusvorwürfen am besten daran erklären, wie sie eingesetzt werden, nämlich um Rassismus als Antirassismus zu maskieren. Am besten fasst dies vielleicht diese Focus-Schlagzeile zusammen: „Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen.“18
Der deutsche Kampf gegen den Universalismus
Neben den Angriffen auf den Kulturbetrieb fand in der deutschen Presse auch eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Protestaktionen statt und brachte eine wahre Flut an Schlagzeilen hervor, in denen versucht wurde, den Angriff des 7. Oktobers der postkolonialen Theorie anzulasten: „Edward W. Said: Der Ideologe des Palästinensischen Terrors“19, „Postkoloniale Terror-Apologeten“20 oder „Der Elefant im postkolonialen Raum“21. Und ein im April in der FAZ erschienener Artikel argumentiert: „Die postkoloniale Theorie macht die Wissenschaft zum Instrument eines erkenntnisblinden Aktivismus. Wie gefährlich das ist, zeigt sich im Nahostkonflikt.“22
Ohne in aller Ausführlichkeit mit diesen Artikeln eingehen zu können, lassen sich die darin erhobenen Vorwürfe folgendermaßen zusammenfassen: Mit der Thematisierung kolonialer Verbrechen hinterfragt die postkoloniale Theorie die Einzigartigkeit des Holocaust und relativiert, oder schlimmer noch, trivialisiert ihn damit. Neben dieser Kritik findet sich ein ganzes Bündel an Vorwürfen, die sich, um Stefan Ouma zu zitieren, wie folgt auflisten lassen: „Postkoloniale Theorie leiste dem Antisemitismus von links Vorschub“, „verbreite eine zunehmende ‚Cancel-Culture‘“ und „drücke sich in Hass auf Weiße aus“. Der taz-Autor führt weiter an: „Durch diese massiven Angriffe scheint sich hierzulande rasch ein Fenster zu schließen, das gerade erst mühsam einen Spalt weit geöffnet wurde: die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer historischen Zusammenhänge zum rassenideologischen Vernichtungsprojekt des ‚Dritten Reichs‘.“ Was ihn zu folgender Schlussfolgerung bringt: „Geschichtsrevisionistischen Akteuren wie der AfD kann dies nur gelegen kommen, fragte diese doch bereits 2022 im Bundestag, ob die Bundesregierung ‚die Einstellung der Förderung aller Projekte [erwägt], die in einem affirmativen Zusammenhang mit der postkolonialistischen Theorie stehen‘.“23
Die von den Medien angeführte Kampagne in Deutschland ist eine Art Spiegelbild der jüngsten Kontroverse um Churchills Vermächtnis in Großbritannien und die „Islamo-Gaucheismus-Polemik“, die im Februar 2021 französische Unis erschüttert hat. Damals forderte Bildungsministerin Frédérique Vidal, postkoloniale Studien und damit verbundene wissenschaftliche Aktivitäten dahingehend zu überprüfen, ob vermeintlich wissenschaftliche Forschung nicht in Wirklichkeit ein Deckmantel für Aktivismus sei.24 Während ich diesen Artikel schrieb, entschied Valérie Pécresse, die Präsidentin des Regionalrats der Region Île-de-France, die Fördermittel der Sciences Po (Institut d’études politiques de Paris) so lange „auszusetzen“, bis die Universität der teilweisen Besetzung ihrer Gebäude durch protestierende Studierende ein Ende bereite. Mit der Verurteilung der Proteste an der Science Po als Ausdruck einer „Ideologie von jenseits des Atlantiks“ versuchte der französische Premier zugleich, die französische Abneigung gegen den „Wokismus“ mit den propalästinensischen Protesten zu vermischen. Zur Verteidigung seiner IHRA-Klausel führte auch der Berliner Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Joe Chialo, an, dass wir „zwischen Kunst und Aktivismus mit künstlerischen Elementen unterscheiden“25 müssen.
All diese ideologisch unzusammenhängenden und vor Kränkung triefenden Versuche haben eines gemein: das Bedürfnis, „Diversität mit Antisemitismus zu assoziieren“26. Mit surrealen Behauptungen, „Lawfare“, das heißt, dem gezielten Einsatz des Rechts, um sich selbst aufzuwerten und den Gegner zu delegitimieren, und staatlich sanktionierten Beschimpfungen verzerren sie den anhaltenden Generationskonflikt zwischen Studierenden und Verwaltung – ein Generationskonflikt, der die Grenzen, wenn nicht sogar die Widersprüche, des liberalen „öffentlichen Raums“ aufzeigt – und machen ihn zu einem Kulturkampf, der eine lose definierte „moralische Ordnung“ gegen den „Barbarismus“ ausspielt. Der 7. Oktober lieferte nicht nur eine günstige Gelegenheit, junge muslimische Männer und Migrant*innen mit der Hamas in Verbindung zu bringen, sondern auch diejenigen zu isolieren und zu dämonisieren, die sich für sie einsetzen. In seinem Essay „The War on Education – in Gaza and at Home“ beschreibt Alberto Toscano, dass der „rechte Anti-Diversity-Aktivist Christopher Rufo“ Leitlinien geschaffen hat, um den „Mainstream-Liberalismus von der antikolonialen und sozialistischen Linken wegzubewegen“. Rufo selbst erklärte seinen Plan auf X (ehemals Twitter) wie folgt: „Konservative müssen in der Öffentlichkeit eine enge Verbindung zwischen Hamas, BLM (Black Lives Matter), DSA (Demokratische Sozialisten Amerikas) und wissenschaftlicher ‚Entkolonialisierung‘ herstellen, die Punkte verbinden, dann angreifen, delegitimieren und diskreditieren. Bringt die linke Mitte dazu, sich von ihnen zu distanzieren. Macht sie zu politisch Unberührbaren.“27
Die Vermischung von „Wokeness“, „Cancel Culture“ und „umgekehrtem Rassismus“ lässt sich leichter nachvollziehen, wenn man sie als einen Versuch Antiintellektueller versteht, reaktionäre Allianzen zu bilden, indem sie die Theorie an sich als „Nährboden für aufwieglerisches Verhalten“28 identifizieren. Alternativ ließe sie sich auch als Ausdruck eines angriffslustigen Narzissmus beschreiben, der sich nicht von dem Zwang lösen kann, in der Matrix der symbolischen Werte stets eine zentrale Position einnehmen zu müssen. Der Affekttheoretikerin Lauren Berlant zufolge sind die Bindungen, die helfen, das zu reproduzieren, was in der Welt den größten Schaden anrichtet, gleichzeitig diejenigen, die die Welt als stimmige Darstellung zusammenhalten. Die eigenen Bindungen aufzugeben, so grausam und toxisch sie auch sein mögen, würde bedeuten, die Welt und die eigene Position darin aufzugeben.29 So gesehen stellt der aktuelle Krieg gegen die Hochschulbildung einen identitären Backlash dar, der von einer Politik der weißen Kränkung befeuert wird und dem damit verbundenen Versuch, die eigenen privilegierten Interpretationen von Politik und Geschichte zu verteidigen. Die Kampagnen gegen die Critical Race Theory in den USA oder den Postkolonialismus in Deutschland legen ihr Augenmerk auf „lokale, partikularisierte Kränkungen“, während sie diese zugleich als „progressive Belange“ ausgeben.30 Dadurch entsteht Raum für eine Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrags, bei der auch die Entrechtung „rassifizierter“ Minderheiten auf dem Spiel steht.
Wie man es dreht und wendet, die Neufassung der Interessen einer bestimmten Gruppe (einheimische Bürger*innen) als Bekenntnis zu humanistischen Idealen (Anti-Antisemitismus) lässt die Unterdrückung der arabischen Bevölkerung als wünschenswertes Ergebnis eines Kampfes erscheinen, der letztendlich ein Kampf gegen Demokratie und Pluralismus ist und im Namen eines von Verbitterung und Engstirnigkeit gekennzeichneten Antiuniversalismus von Mainstream-Meinungsmacher*innen ausgetragen wird.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Siehe hierzu das Archive of Silence auf Instagram; https://www.instagram.com/archive_of_silence/p/Czq1y1xtqhr/?img_index=1.
[2] Deplatforming gab es schon in den 1970er-Jahren. So wurde 1973 in Großbritannien eine Resolution verabschiedet, die Studierendenvereinigungen das Recht zusprach, „offen rassistischen oder faschistischen Organisationen oder Vereinen“ eine Plattform zu verweigern.
[3] https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate/
[4] Vgl. Chartbook 271 Reasons of State: Memory politics, U-Boats, Iran & the German-Israeli relationship, 26. März 2024; https://adamtooze.substack.com/p/chartbook-271-reasons-of-state-memory.
[5] Siehe https://www.gg53weltoffenheit.org/en/about-us/.
[6] Das „Existenzrecht“ ist ein von Ernest Renan 1882 geprägtes Konzept, das zwar völkerrechtlich nicht anerkannt ist, aber für Diskussion um den arabisch-israelischen Konflikt seit den 1950er-Jahren bestimmend war.
[7] BDS fordert den Abzug aus den besetzten Gebieten in Anlehnung an internationales Recht, den Abbau der israelischen Sperranlagen im Westjordanland, rechtliche Gleichberechtigung für israelische Araber*innen und das Recht auf Rückkehr. Dieses Recht auf Rückkehr wird für gewöhnlich als Bedrohung des Überlebens Israels als jüdischer Staat verstanden, obwohl es äußerst unwahrscheinlich ist, dass alle vertriebenen Palästinenser*innen plötzlich und massenweise zurückkehren. In jedem Fall würde die Frage durch eine Zwei-Staaten-Lösung gelöst werden, die BDS nicht ablehnt.
[8] Vgl. „Steinmeier says Arabs in Germany should distance themselves from Hamas“, Aljazeera, 8. November 2023; https://www.aljazeera.com/news/2023/11/8/german-president-says-arab-citizens-must-distance-themselves-from-hamas.
[9] Siehe Clauius Seidl, Die Politik der Verdammnis, in: FAZ, 27. November 2023; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/udk-berlin-antisemitismus-und-israelhass-treten-offen-hervor-19343147.html (PAYWALL).
[10] Nach dem grauenhaften Lynchmord in Ramallah streckte Aziz Salha, einer der Täter, der jubelnden Menge seine blutverschmierten Hände entgegen.
[11] Siehe „Stellungnahme des RefRats der HU: Gegen die Wiedereinführung des Ordnungsrechts – gegen die politische Disziplinierung der Studierendenschaften“, Website des Allgemeinen Studierendenausschusses der FU Berlin; https://astafu.de/node/595.
[12] Mira Anneli Nass, Zweifelhafte Beweisbilder, in: taz, 3. Januar 2024; https://taz.de/Kritik-an-Forensic-Architecture/!5983353/.
[13] Vgl. Peter Kuras, The Strange Logic of Germany’s Antisemitism Bureaucrats, Jewish Currents, Frühjahr 2023; https://jewishcurrents.org/the-strange-logic-of-germanys-antisemitism-bureaucrats.
[14] Interview mit Felix Klein: „Der BDS-Beschluss ist keine Eingriffsberechtigung in die Tätigkeit von Kulturinstitutionen“, Berliner Zeitung, 11. Januar 2021; https://www.antisemitismusbeauftragter.de/SharedDocs/interviews/Webs/BAS/DE/2021/BZ_Haustein_BDS.html.
[15] Andreas Scheiner, Juden protestieren gegen Israel: Ist es Selbsthass?, in: NZZ, 28. März 2024; https://www.nzz.ch/feuilleton/juedischer-selbsthass-von-glazer-bis-butler-treten-juden-als-israel-kritiker-auf-ld.1823829 (PAYWALL).
[16] Vgl. George Prochnik/Emily Dische-Becker/Eyal Weizman, Once Again, Germany Defines Who Is a Jew | Part II, in: Granta 165, 29. November 2023; https://granta.com/once-again-germany-defines-who-is-a-jew-part-ii/.
[17] Vgl. Donald Kinder/Tali Mendelberg, Racialized Politics: The Debate about Racism in America, in: David O. Sears/James Sidanius/Lawrence Bobo (Hg.), Studies in Communication, Media, and Public Opinion. Chicago 2000, S. 7 ff.
[18] Jan Fleischhauer, Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen, in: Focus Magazin 26 (2023), 16. November 2023; „https://www.focus.de/politik/meinung/kolumne-wen-wollen-wir-eigentlich-haben-wen-nicht_id_242930351.html.
[19] Vgl. https://twitter.com/GeschichteTipps/status/1784594958835425692 bzw. Thomas Ribi, Der Philosoph, der Steine warf: Im Westen wurde Edward W. Said als intellektueller Gentleman bewundert. Dass er „Arafats Mann in New York“ war, kümmerte keinen, in: NZZ, 24. November 2023,; https://www.nzz.ch/feuilleton/edward-w-said-der-ideologe-des-palaestinensischen-terrors-ld.1766658 (PAYWALL).
[20] Eric Hendriks, Postkoloniale Terror-Apologeten, GlobKult Magazin, 26. November 2023; https://globkult.de/gesellschaft/identitaeten/2333-postkoloniale-terror-apologeten.
[21] Udo Wolter, Judith Butler und die blinden Flecken postkolonialer Theorie. Der Elefant im postkolonialen Raum, in: Jungle World, 9. November 2023; https://jungle.world/artikel/2023/45/judith-butler-blinde-flecken-der-elefant-im-postkolonialen-raum.
[22] Ulrich Morgenstern/Susanne Schröter, Die Konstruktion des Bösen, in: FAZ, 24. April 2024; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ulrich-morgenstern-und-susanne-schroeter-ueber-postkoloniale-theorie-19673593.html (PAYWALL).
[23] Stefan Ouma, Revanchistischer Kulturkampf, in: taz, 6. April 2024; https://taz.de/Kritik-an-Postkolonialen-Theorien/!6000114/.
[24] Vgl. Minister orders probe into ‚Islamo-leftism‘ in French academic research, RFI, 18. Februar 2021; https://www.rfi.fr/en/france/20210218-minister-orders-probe-into-islamo-leftism-in-french-academic-research-islamism-left-wing-universities.
[25] Ingeborg Ruthe/Susanne Lenz, Kultursenator Joe Chialo: „Zwischen Kunst und politischem Aktivismus mit künstlerischen Elementen unterscheiden“, in: Berliner Zeitung, 19. März 2023; https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kunst/bkultursenator-joe-chialo-zwischen-kunst-und-politischem-aktivismus-mit-kuenstlerischen-elementen-unterscheidene-li.386960 (PAYWALL).
[26] Alberto Toscano, Israel & Palestine: The War on Education – in Gaza and at Home. The Right is using Palestine to further its assault on higher ed and recruit centrists to its cause, In These Times, 15. Februar 2024; https://inthesetimes.com/article/campus-wars-gaza-higher-ed-christopher-rufo.
[27] Christopher F. Rufo, @realchrisrufo; https://twitter.com/realchrisrufo/status/1712938775834185891.
[28] Toscano, ebd.
[29] Vgl. Lauren Berlant, Cruel Optimism. Durham 2011.
[30] Vgl. John Roberts, The Reasoning of Unreason: Universalism, Capitalism and Disenlightenment. London 2018, S. 5.