Heft 2/2024 - Kulturkämpfe


Künstlerische Solidarität

Eine gemeinsame Reaktion auf die Ausstellung Song for Many Movements: Scenes of Collective Creation im MACBA Barcelona

Pip Day zusammen mit Grace Lostia, Daniel Gasol und Rüzgâr Buşki


Pip Day: Als wir im Oktober 2023 alle schockiert und entsetzt den Atem über die Ereignisse im Nahen Osten anhielten, hofften bzw. warteten wir, dass wenigstens unsere Kunstinstitutionen die Stimme erheben würden. Doch es schien, als würden auch sie en masse ihren Atem anhalten. Diese Art Schockstarre, in der man gemeinsam „wartete, dass jemand anderer die Stimme erhebt“ (Audre Lorde), dieses Schweigen der Institutionen aus Angst, ist, wie immer deutlicher zutage tritt, Teil eines schleichenden politischen Rechtsrucks. Wenn man die Luft anhält, kann man natürlich nicht sprechen. Doch Audre Lorde warnte schon 1977 in einer Rede, bei der sie ihr Gedicht A Song for Many Movements vortrug: „Während wir schweigend auf den letzten Luxus, keine Angst mehr zu haben, warten, wird das Gewicht dieses Schweigen uns ersticken.“
Anfang November 2024 wagte das MACBA Barcelona einen mutigen Schritt. Als eine der ersten großen europäischen Kunstinstitutionen verurteilte es die eskalierende Gewalt in Palästina und bereitete damit den Weg aus dem allgemeinen Schweigen1. Im frühen Februar dann eröffnete die von einem Rahmenprogramm begleitete Ausstellung Song for Many Movements: Scenes of Collective Creation mit mehr als 50 teilnehmenden Künstler*innen und Kollektiven. Sie reichte vom militanten Kino über Druckwerkstätten bis zu Videos und anderen Archivmaterialen über antikoloniale, antikapitalistische und antipatriarchale Praktiken, die bis zum Panafrikanischen Festival 1969 in Algier, dem Internationalen Widerstandsmuseum 1973 bis 1989, der Internationalen Kunstausstellung für Palästina in Beirut 1978 und zum Aktivismus in der HIV/AIDS-Krise zurückreichten. Die Schaustücke dienten an diesem kritischen historischen Moment – Anfang 2024 – dem praktischen Studium wirksamer politischer Strategien, die, wie der Ausstellungstext festhielt, „Genealogien des kollektiven Schaffens mit künstlerischen Solidaritätsbekundungen der Gegenwart verknüpfen und damit lebendige Erinnerungen an dasjenige beschwören, was erst kommt“. Mit ihren Begleitveranstaltungen lieferte Song einen wichtigen Kontext, um weit verzweigte Allianzen aktiv zu rekonstruieren und gemeinsam das Undenkbare zu betrauern, und zwar nicht nur oder speziell über Palästina.
María Berríos und Sabel Gavaldon, die die Ausstellung kuratierten, schreiben: „Wenn Menschen zusammenkommen, entsteht Lärm, besonders wenn man nicht nur auf ihre Stimmen achtet, sondern auch auf die Geräusche und Lebensrhythmen, die in den notwendigen Pausen, Übergängen und Unterbrechungen entstehen. In diesen multiplen Formen des Zusammenhaltens bzw. dem ständigen Ausprobieren neuer Formen des Zusammenseins entstehen Szenarien, in denen gemeinsam etwas geschaffen wird. Und das ist, was uns als Kollektiv, aber auch als Institutionen lebendig hält.“
Als Versuch, gemeinsam zu Formulierungen zu gelangen, ist das Folgende eine Art Dialog zwischen den von Berríos und Gavaldon verfassten Ausstellungstexten und den Reaktionen einiger Teilnehmender bzw. Interessierter, bei denen das Projekt – als solches oder thematisch – stärkeren Widerhall fand.

Im Ausstellungstext des MACBA heißt es: „Song for Many Movements ist ein temporäres Experiment, im Zuge dessen das Erdgeschoss des Museums zu einem Treffpunkt für Gespräche und gemeinsame Veranstaltungen wird. Es handelt sich um ein provisorisches Erkunden aktueller Forschungsprojekte, die an eine Genealogie der Vergangenheit und der Zukunft anschließen, die von innerhalb oder außerhalb des Museums kommen, und die nicht nur die Dynamik des kollektiven Lernens, sondern auch die sich daraus ergebenden Fragen aufzeigen. Diese ‚Szenarien, in denen gemeinsam etwas geschaffen wird‘ ergeben sich aus spontanen Allianzen, Netzwerken der Zuneigung und bewusster Affinität. Die Gemeinsamkeit, um die es hier geht, ist diejenige von Küchengesprächen, gemeinsamen Lesungen oder Liedern. Solidarität als Alltagspraxis also. Gemeinsames Schaffen meint jene Gärungsprozesse, die dem eigentlichen kreativen Moment vorangehen. Dasjenige, was hinter den Kulissen geschieht, bevor jemand mit heroischer Geste in die Geschichte hineinplatzt und die anderen weggedrängt oder zum Schweigen gebracht werden. Gemeinsames Schaffen kommt aus dem unsichtbaren Theater des Alltags.“
Grace Lostia: Oft kommt man ja durch die Hintertüre in die Küche. Geht man vom zentralen Raum im Gebäude aus, findet man den Weg in die Küche oft über vertrackte enge Korridore, geheime Lifte und zahllose Türen. Das lässt erkennen, dass Hegemonie und Hierarchien in die Architektur eingebaut sind. Sie sind der bewusst und genau geplante Kern jedes Gebäudes. Überraschenderweise ist dies bei Restaurants, Kantinen und Speisezimmern auch nicht anders. Können wir das in unseren Kultur- und Kunstinstitutionen also überhaupt ändern?
Gemeinsam (oder auch nicht?) zu kochen und zu essen wärmt in fast allen Häusern mit Küche das Herz. Das Beschaffen von Lebensmitteln, entscheiden oder eben nicht entscheiden müssen, wer am Tisch sitzt, das Gesprächsthema, an dem man nach dem Essen herumknabbert, ob jemand das Essen aufträgt, wer danach aufräumt – all das sind politische Momente in der Küche, und zwar ganz unabhängig davon, welchem Zweck das Gebäude dient. Doch dringen die Düfte, Stimmen und Dämpfe aus der Küche auch in die Haupträume? Egal, was geschieht, bevor die fertige Mahlzeit in den Bauch gelangt, es kann auch wie eine geheime kulinarische Meuterei wirken, eine kochend heiße Subversion, die sich wie ein Pilzmyzel unterirdisch ausbreitet und dann irgendwo (scheinbar?) aus dem Nichts auftaucht.
Song for Many Movements und La Cuina del MACBA versuchten daher so wie andere „ultrahospitality“2 „experiences3“ in Kunstinstitutionen, dieses rigide Schema mit seinen Dichotomien und unsichtbaren Trennlinien zu durchbrechen. Gemeinsames Handeln statt architektonische Grenzen, Durchlässigkeit statt verschlossene Türen, Dreck und Abfall als Wertstoffe für Solidarität, Freundschaft und Zuneigung.
Vom Blickwinkel der Cuina del MACBA fühlte sich ein Wochenende an, als würden alle den Raum, die Institution sich selbst anders erleben wollen. Widerstände gab es viele, aber beim gemeinsamen Kochen stellten sich gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Gesellschaftsutopien als essenzielle Zutaten heraus, um in zähen Transformationsprozessen bestehen zu können. Mit diesen Zutaten lässt sich sicher etwas Gutes kochen, egal, wie lang der Weg in die Küche ist.

Ausstellungstext MACBA: Song for Many Movements ist mehr als eine Ausstellung. Die Veranstaltung erprobt auf vielfache Art, wie sich Akteur*innen einander aussetzen und gegenseitig unterstützen. Die dabei gesammelten Materialien zeigen die Prozesse gemeinsamen Schaffens in der Gegenwart. Zugleich verweisen sie auf Geschichten, die das lebendige Gedächtnis für das bilden, was kommt. Das Projekt gruppiert sich um ein ausgedehntes Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen, Diskussionen, Lesungen, Performances und einer Live-Radiosendung. Diese verwandeln den Ausstellungsraum für sechs Wochen in ein öffentlich zugängliches Forum. Das Projekt lädt dazu ein, die Ausstellung als bewohnbaren Raum zu begreifen. In ihm verwirklichen sich situative Erlebnisse, verkörperte Archive und Forschungen, die aus der transversalen Arbeit des Museums und darüber hinaus entstehen.“
Daniel Gasol: Der sogenannte spanische Übergang ist nicht nur am gesamten sozialen Leben der Arbeiter*innenbezirke vorübergegangen, sondern auch am informellen Sektor oder an den Haftanstalten, die zuvor am Rand standen und es auch heute noch tun. Überhaupt ließ das neue maßgeschneiderte Spanien den sozialen Körper außer Betracht. Man baute ganz auf kapitalistische Methoden der Industriearbeit, wodurch alle Gewinne an die uns kontrollierende Oberschicht umverteilt wurden. Von Anfang an wurde daher die Historisierung der Ära von Mitte der 1970er-Jahre bis weit in die 1980er-Jahre, basierend auf der Vorstellung einer kollektiven, egalitären und freien Zukunft, infrage gestellt. Obwohl die öffentlichen Institutionen weiterhin in erster Linie von Leuten, die bereits unter dem Franco-Regime gedient hatten, geleitet wurden, gilt Spaniens Entwicklung bis heute als Musterbeispiel für den Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie. Und doch fanden wir uns in einem politisch zerrissenen Land wieder, das trotz dieses Übergangs von Polizeiknüppeln und Strafverfahren geprägt war – ohne libertäre Politiker*innen zwar, aber mit einem Pakt, der die Geschichte ignoriert. So setzt sich die Vergangenheit in die Gegenwart hinein fort, in der dieselben Leute privilegiert sind wie schon während der Diktatur. Aktionen, durch die sich etwas ändert, sind daher Grenzen gesetzt. Vor diesem Hintergrund einer utopischen Zukunft für alle und mit allen entstand das Kollektiv Video-Nou (später Servei de Vídeo Comunitari). Es wurde in einem historisch wichtigen Augenblick gegründet, nämlich dem engen Zeitfenster zwischen dem Tod Francos und der Gründung einer parlamentarischen Demokratie, einer Zeit, die gemeinhin „El Entusiasmo“ genannt wird und die langsam überging in eine Zeit, die man als „El Desencanto“ (die Enttäuschung) kennt.
Video-Nou schuf in mehreren Räumen temporäre Plattformen zum kommunikativen Austausch, der entweder dokumentiert oder in Videoessays verarbeitet wurde. Dies zeigt nicht nur, dass das Kollektiv einen historischen Moment festhalten konnte, der unsere gegenwärtige und offizielle Erzählung prägen wird, sondern auch den Willen, die einseitig erzählte Geschichte zu enthierarchisieren, und – vor allem – die Hoffnung, frei zu sein, die das Spanien der Zeit nach Franco kennzeichnet.

Ausstellungstext MACBA: „Wie solidarisch sein, wenn man nicht einmal Boden unter den Füßen hat und sich ganz fühlt? Wenn man stattdessen gebrochen und verletzlich ist? Cecilia Vicuñas Gedicht Sol y dar y dad ist eine Waffe der Solidarität im Wandel. Es ist weder Programm noch Definition, sondern ein politisch rastloser Tanz der Worte. Es stellt die drängenden Fragen unserer Zeit: Was bedeutet Solidarität für Menschen, die sie praktizieren, leben und dringend brauchen? Können verzweifelte Menschen sie, wenn nötig, ‚tanzen‘, wo doch die einzige andere Bewegung der faschistische Krieg oder der gegen sie gerichtete staatliche Terror ist? Die hier versammelten Drucke, Plakate, Gedichte, Bücher, Musik, Ausstellungen und Museen sind an sich bereits Waffen der Solidarität. Künstlerische Solidarität bedeutet nicht Repräsentation, sondern die Artikulation von Lebens- und Kampfgeschichten, die in all ihrer Kompliziertheit schön und gewaltvoll zugleich sind.“
Rüzgâr Buşki: Der Besuch der Ausstellung Song for Many Movements: Scenes of Collective Creation war ein starkes Erlebnis, das mich emotional in zwei gegensätzliche Richtungen zog. Eine führte in tiefe Verzweiflung. Als in Deutschland lebender Künstler fühlte ich eine starke Trauer über die Kunstszene, der ich angehöre. Diese Szene ist gerade starker Repression ausgesetzt, viele fühlen sich zum Schweigen angehalten und verstörenden antipalästinensischen und antimuslimischen Ressentiments ausgesetzt. Es ist entmutigend, eine Kunstszene zu erleben, die sich einerseits ihrer Freiheiten rühmt, und andererseits nicht bemerkt, dass diese Freiheiten selektiv nur für bestimmte Narrative gelten. Mich mit dieser Realität konfrontiert zu sehen, fand ich einmal mehr äußerst deprimierend.
Angesichts der Freiräume in Kunstinstitutionen dachte ich andererseits auch über deren eigentliche Funktion nach. Dienen sie, wie in Deutschland oft üblich, einzig dem Status quo? Oder kann man sie als Räume nutzen, die den Status quo infrage stellen? Mit ihren vielen Beispielen für eine widerständige Praxis in der Kunst stimmte mich Song for Many Movements auch hoffnungsvoll. Die Ausstellung erinnerte mich daran, dass Kunst immer politisch ist.
Besonders ermutigend war überdies, verschiedene Gruppen zu treffen, die sich gegen die Apartheid innerhalb der Kunst stellen. Einmal mehr war das der Beweis, dass sich die Kunst auch heute noch gegen repressive Regime stellen kann. Bei allen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, inspirierten mich diese Lichtblicke des Widerstands, weiterhin an die transformative Kraft der Kunst zu glauben.

Song for Many Movements: Scenes of Collective Creation, Museu d’Art Contemporani de Barcelona, 10. Februar bis 1. April 2024.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Dieser Text entstand in Berlin, wo ein Projekt wie Song for Many Movements angesichts der kafkaesken Machenschaften, die eingesetzt wurden, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die gegen die vom israelischen Staat ausgeübte Gewalt protestieren, eine enorme Wirkung entfaltet.
[2] „Ultrahospitality“ war ein Feldforschungsmodul im Lehrplan der Ultradependent Public School des BAK, basis voor actuele kunst, in Utrecht 2022. In diesem Modul wurde die Küche als Schnittstelle von Studium und politischer Aktion aufgefasst, an der man wachsen, Essen zubereiten und genießen, sich treffen und gemeinsam lernen kann.
[3] „Ultrahospitality experiences“ bezieht sich auf die b.ASIC a.CTIVIST k.ITCHEN am BAK. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsküchenprojekt innerhalb des Kunstzentrums, an dem ich derzeit als Aktivistin, Koordinatorin und Forscherin beteiligt bin.