Heft 2/2024 - Lektüre
Mortevivum, der erste Band der neuen Reihe „On Seeing“ von MIT Press, nimmt in unausgewogener Weise auf die Theorie der Fotografie des 20. Jahrhunderts Bezug. In drei Kapiteln und einer Einleitung, die den konzeptuellen Apparat darlegt, kritisiert die Autorin Kimberly Juanita Brown das, was sie als enge Beziehung zwischen Fotografie und Rassismus ansieht. Brown setzt sich insbesondere damit auseinander, wie die Fotografie verletzende Ansichten über die Erfahrungen und Potenziale Schwarzer Subjekte produziert bzw. verstärkt, vor allem wenn die Betrachter*innen als weiß angenommen werden. Dies ist laut Brown vor allem in Darstellungen der Fall, in denen Schwarze körperliche Schmerzen haben, sich in emotionaler Bedrängnis befinden oder sich anderen – weißen – Figuren im Bild offensichtlich unterordnen. Sie belegt diese Behauptung mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte der Fotografie, darunter Bilder von Sklav*innen auf Baumwollplantagen, aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, von Lynchmorden und dem Kampf um Bürgerrechte.
Was Brown „Mortevivum“ nennt, ist eine grobe Übersetzung des lateinischen Begriffs für „lebendiger Tod“. Aufbauend auf Roland Barthes’ Behauptung in Die helle Kammer, dass eine Fotografie „das lebendige Bild eines toten Dings“ sei, behauptet Brown, dass Bilder von Schwarzen Menschen, die unter Schmerzen leiden oder sterben, in Nachrichtenmedien zum eigentümlichen Vergnügen von (vermutlich) weißen Betrachter*innen kursieren. Dies wird zweifellos – und nicht zu Unrecht – konservative Kritiker*innen erzürnen, während Künstler*innen und Kurator*innen dem vielfach beipflichten werden. Brown legt ihr Augenmerk darauf, inwiefern die Fotografie Schwarze Menschen oft als hilflos darstellt, unfähig, an der liberalen Erzählung von politischem oder sozialem Fortschritt teilhaben, entweder weil sie immer nur Trauer empfinden, sich sozial abweichend verhalten oder einen qualvollen Tod erleiden müssen. Dies, so behauptet sie, gehe über nationale Grenzen hinaus, wobei das Schwarzsein der Subjekte ein verbindender Faktor sei.
Aus diesem Grund hat Brown drei historische Beispiele ausgewählt, denen je ein Kapitel gewidmet ist. Südafrika, Haiti und Ruanda hatten im Jahr 1994 mit gravierendem Rassismus zu kämpfen, der in der westlichen Fotografie bzw. Nachrichtenmedien unterschiedlich dargestellt wurde. Konkret bezieht sich Brown auf Südafrika nach dem Ende der Apartheid und der Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten, auf die Frage, was das Erbe des französischen Kolonialismus und der Sklaverei mit den Unruhen in Haiti 1994 zu tun hat, und auf den Völkermord in Ruanda, bei dem innerhalb von 100 Tagen eine Million Menschen in einem ethnischen Konflikt getötet wurden, dessen Wurzeln in der belgischen Verwaltung des ehemaligen Freistaats Kongo liegen.
All dies sind überzeugende Beispiele, die Browns Theorie mit faszinierenden historischen und fotografischen Belegen untermauern. Sie laufen der Hauptthese aber auf gewisse Weise auch zuwider, insofern sie in Zweifel gezogen werden können, sobald Brown sie auszuführen beginnt. Dies hat auch damit zu tun, wie die Herausgeber*innen die Ziele der Reihe „On Seeing“ erklären: Sie soll eine Antwort auf die Auswirkungen des Internets und der sozialen Medien auf die visuelle Kultur sein. Die technologischen Entwicklungen, heißt es, „übersteigen inzwischen unsere Fähigkeit, über ihre Auswirkungen nachzudenken“. Dies ist keine originelle Behauptung. Sie geht mindestens auf Das Kapital von Marx zurück und wird von Bernard Stiegler in Technik und Zeit ausführlich dargelegt. Im Fall von Mortevivum geht dies jedoch mit einer gewissen Ironie einher.
Browns Beispiele für „fotografische Blackness“ sind nicht per se problematisch. Sie tragen zu einer soliden Kritik an bestimmten Formen liberaler Selbstgefälligkeit gegenüber dem Rassismus bei. Sie sind auch profund genug, um einige Konventionen der Nachrichtenfotografie und des Zeitungslayouts als veraltet erscheinen zu lassen; gleichzeitig sie aktuell genug, um heutige Leser*innen von einer kritischen Reflexion über die Veränderungen im Fotojournalismus und in der Fototheorie profitieren zu lassen.
Die Art und Weise, wie Brown ihre Beispiele präsentiert, droht jedoch, ihre These zu untergraben. In der Einleitung behauptet sie, sie habe weiße Körper nie „auf fotografische Objekte reduziert“ gesehen. Sie seien nie als bloße Leichen oder als Symbole einer umfassenderen sozialen Unordnung dargestellt worden, deren Leiden auf das Versagen des Staates hinweise, und zwar aufgrund des „Privilegs eines unsichtbar operierenden ‚sempervivum‘ [eines ‚ewigen Lebens‘ im Gegensatz zum mortevivum]“.
Die Leichenberge der nationalsozialistischen Vernichtungslager sind offensichtliche Beispiele dafür, wie weiße Körper zu bloßen Objekten reduziert und fotografiert wurden. Es gibt jedoch auch signifikante, ja eklatante Gegenbeispiele zu Browns Südafrika-, Haiti- und Ruanda-Kapitel, die alle mit großen Mengen an fotografischem Beweismaterial von leidenden, weinenden, hungernden und durch die Fotografie objektivierten weißen Menschen aufwarten. Sie stammen aus dem Jahr 1994: die Belagerung von Sarajewo, die noch zwei Jahre andauern sollte, der Mörser-Angriff der Provisional IRA auf den Flughafen Heathrow (und der Tod zwei kleine Kinder bei einem Bombenanschlag im Jahr davor) sowie der Beginn des ersten Tschetschenienkriegs.
Dies ist keine akademische Pedanterie, sondern ein wichtiger Einwand. Schließlich untergräbt sich die zentrale Argumentation von Mortevivum auf diese Weise selbst – ein Buch, das abgesehen von der Sprache, welche die Autorin dafür wählt, eine wohlwollende kritische Betrachtung verdient.
Übersetzt von Redaktion