Heft 2/2024 - Lektüre
Matteo Pasquinelli lässt von Beginn an keine Zweifel über seine Absichten aufkommen. Und so annonciert er auch gleich auf den ersten Seiten seines Buches, wogegen er hier Front machen möchte: Es ist der ideologische Verblendungszusammenhang, der sich rund um Künstliche Intelligenz herausgebildet hat; jener moderne Mythos, der von den – der Hybris nie ganz fernen – Tech-Gurus im Silicon Valley begründet und von der Populärkultur in die Welt hinausgetragen wird (siehe etwa das Terminator-Franchise, in dem mit Selbstbewusstsein ausgestattete Maschinen ihren apokalyptischen Auftritt haben). Dieser dominanten Erzählung, die uns weiszumachen sucht, dass die allmächtige KI das – irgendwo in der Logik des Geistes oder der Physiologie des Gehirns, das heißt in seinem neuronalen Netz verborgene – Rätsel der menschlichen Intelligenz gelöst haben will, setzt Pasquinelli nun seine ganz eigene Geschichte entgegen: eine Geschichte, die in den Quellcode der KI eben nicht das Bemühen eingeschrieben sieht, denkende Maschinen zu schaffen, sondern Arbeitsvorgänge bzw. Verrichtungen (worunter auch Sinnestätigkeiten fallen) in logische Prozesse zu übersetzen, um sie iterieren und damit automatisieren zu können. Dieses soziotechnische Verständnis führt ihn aber dazu, KI in eine historische Perspektive einzurücken, die – durchaus kontraintuitiv – bis weit vor die Anfänge der Kybernetik in der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückreicht, ja deren Fluchtpunkt eigentlich irgendwo in grauer Vorzeit zu verorten ist, gleichsam am Anbruch der geschichtlichen Welt.
Denn Pasquinelli erkennt im algorithmischen Denken eine tatsächlich in allen menschlichen Zivilisationen Anwendung findende Kulturtechnik, und eine solche Einordnung wird ihm möglich, weil er für einen Algorithmus, welcher Begriff sich übrigens von dem persischen Universalgelehrten al-Chwarizmi (ca. 780–850) ableitet, folgende allgemeine Definition in Anschlag bringt: „a finite procedure of step-by-step instructions to turn an input into an output, independently of the data, and making the best use of the given resources“. Als frühes Beispiel eines solcherweise verstandenen – sozialen – Algorithmus kann dann folglich auch das hinduistische Agnicayana-Ritual herangezogen werden, das in Indien seit alters her – sein Ursprung wird am Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends vermutet – der komplexen Errichtung eines Feueraltars dient. Dieses Beispiel macht jedoch zugleich deutlich, dass Pasquinelli Algorithmen prinzipiell als eine Art Gefäß begreift, in dem ein erlerntes Wissen aufgehoben bzw. verschlüsselt wird, welches sich einer gesellschaftlichen oder kollektiven Kooperation verdankt. Für ihn sind mathematische oder rechnergestützte Abstraktionen wie Algorithmen mithin keine transzendenten logischen Formen, sondern stets tief in materielle soziale Praktiken eingebettet – ein kritischer Ansatz, mit dem er, in Anlehnung an Marx, die Theorie der KI gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellt.
Eine solche Genealogie lässt sich nun bereits bei so etwas Elementarem wie den Zahlen aufweisen, die, keineswegs als primordiale platonische Ideen mit Ewigkeitscharakter misszuverstehen, von den Menschen erdacht wurden, als das praktische Bedürfnis oder die Notwendigkeit aufkam, Land oder natürliche Ressourcen verteilen zu müssen. Und das gleiche Schema lässt sich dann beobachten, als im mittelalterlichen Europa – aufgrund des damals zunehmenden Handelsverkehrs – das additive römische durch das dezimale arabische Zahlensystem ersetzt wurde, weil damit in den Kontobüchern größere Beträge einfacher und schneller registriert werden konnten. Aber auch die Mechanisierung von Algorithmen – und hier nähern wir uns langsam doch der Sphäre, wo wir tatsächlich eine Art von Künstlicher Intelligenz am maschinellen Werk sehen würden – folgt dem Muster der Extraktion eines sozialen Wissens. Pasquinelli veranschaulicht dies auf mehr abstrakte Weise, indem er die vor allem England zumindest die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in Atem haltende „machinery question“ (im Deutschen wohl nur unzureichend mit ihrer tätlichen Zuspitzung, dem „Maschinensturm“, zu fassen) in Erinnerung ruft: eine auf wirklich allen Ebenen der Gesellschaft stattfindende Auseinandersetzung über die Kosten und den Nutzen der neuen Technologie (die Auswirkungen auf die Löhne, die Spaltung des Proletariats in Fach- und potenziell von Stellenlosigkeit bedrohte Hilfsarbeiter, die Entfremdung des Arbeiters von der bzw. Unterordnung unter die Maschine); und er demonstriert dies auf mehr konkrete Weise, wenn er Charles Babbages bahnbrechende Entwürfe automatischer Rechenmaschinen, seine Difference Engine (1822) und seine Analytical Engine (1837), beide nie realisiert, vor dem Hintergrund dessen betrachtet, dass sie die vorgängige Arbeitsteilung eigentlich nur fortschreiben, indem zum Beispiel die Differenzmaschine jene Aufgaben übernehmen sollte, welche die tatsächlich „Computer“ (daher auch der Name unseres heutigen Geräts) geheißenen menschlichen Rechenknechte vordem mühsam per Kopf und Hand erledigten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt die Kybernetik dann allerdings die Weichen dafür, von der „automation of mental labour“ zur „automation of visual labor“ hinüberzuwechseln, eine Entwicklung, die Pasquinelli anhand des Perzeptrons (1957) verdeutlicht, des ersten künstlichen neuronalen Netzwerks, das, für Mustererkennungsaufgaben wie etwa die Identifizierung von Schiffen auf Radarbildern entwickelt, auf Basis der statistischen Analyse operierte – und damit in der Tat als erster Algorithmus des maschinellen Lernens zu gelten hat.