Heft 2/2024 - Kulturkämpfe
Ewa Majewska ist feministische Kulturtheoretikerin und Aktivistin. Sie lebt in Warschau und lehrt an mehreren Universitäten weltweit. 2021 erschien ihr Buch Feminist Antifascism. Counterpublics of the Common (Verso Books), das auch den Hintergrund zu diesem Gespräch bildet. Darin, wie in zahlreichen anderen Texten, beschäftigt sich Majewska mit dem Potenzial feministischer Gegenöffentlichkeiten im Kampf gegen Faschismen aller Art. Weitere Schlaglichter auf die Thematik werfen ihre auf Deutsch erschienenen Aufsätze „Die Zukunft ist jetzt. Der schwache Widerstand der Gewöhnlichen in einer ungewissen Zeit“ (springerin 2/2020) sowie „Hassrede. Das aktuelle Ausmaß der Zensur in Polen“ (springerin 1/2022).
Sabine Weier: In Deutschland wird im September in drei Bundesländern gewählt – laut Umfragen liegt die AfD derzeit in allen weit vorne. In Österreich droht bei den Nationalratswahlen im Herbst ein Sieg der FPÖ. Expert*innen weisen auf die Notwendigkeit hin, den Faschismus beim Namen zu nennen, anstatt diese Parteien einfach als „rechtsextrem“ zu bezeichnen. Wie definieren Sie Faschismus?
Ewa Majewska: Schon seit den 2000er-Jahren, als faschistische Parteien in den Niederlanden und in Österreich an die Macht kamen, versuche ich, Aktivist*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen davon zu überzeugen, den Faschismus beim Namen zu nennen. Denn damit wird schon rhetorisch die Bereitschaft geschaffen, ihm entgegenzutreten. 2005 wurden auch wir in Polen mit einer Regierung und einem Präsidenten konfrontiert, die offen rassistisch und chauvinistisch waren und versuchten, Polen in einen faschistischen Staat umzuwandeln. Jarosław Kaczyński wäre es beinahe gelungen, ein Gesetz einzuführen, das es dem Ministerpräsidenten erlaubt hätte, ohne ordnungsgemäßes demokratisches Verfahren den Ausnahmezustand zu verhängen. Das polnische Parlament ist befugt, einen solchen Ausnahmezustand auszurufen. Zygmunt Bauman und David Lloyd haben das als „flüchtige Überwachung“ bezeichnet. Politische Entscheidungen, die eigentlich eine demokratische Debatte erfordern, werden nur noch als Verwaltungsverfahren durchgeführt.
In dieser Zeit begann ich, mich in Artikeln mit Carl Schmitts Theorie des Partisanen und des Ausnahmezustands zu beschäftigen. Die heutigen Faschist*innen stützen sich stark auf Schmitt. Auch Giorgio Agambens „Homo Sacer“-Reihe war für mich wichtig. Viele Leute, mich eingeschlossen, kritisieren zwar seinen Gebrauch des Konzentrationslagers als allgemeine Metapher für die Moderne. Wichtig ist aber Agambens Feststellung, dass Menschen, die von Prekarisierung betroffen sind – zum Beispiel, weil sie keine Papiere haben, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, weil sie minderjährig sind, keinen Anspruch auf reproduktive Gerechtigkeit haben usw. –, also vulnerable Teile der Bevölkerung, heute von einem Ausnahmezustand bedroht sind.
Frauen in Polen oder anderen Ländern, in denen die reproduktive Gerechtigkeit infrage gestellt wird, werden zum „Feind“ im Schmitt’schen Sinne: Sie werden ihrer Rechte, ihres Besitzes, ihrer Würde und möglicherweise auch ihres Lebens beraubt. Schwangere Frauen, die auf Operationstischen sterben, weil Ärzt*innen sich weigern, ihr Leben zu retten, aus Angst, die Föten nicht zu schützen, sind eine extreme Version der Umwandlung von Bürger*innen in Feind*innen.
So definiere ich Faschismus: einerseits anhand von Schmitts Ausführungen zum Ausnahmezustand, zum Feind und zur Souveränität; und andererseits mit Blick auf bestimmte soziologische Daten wie Arbeitslosen- und Selbstmordraten, Zufriedenheit oder Unmut der Bevölkerung, Einstellung gegenüber Geflüchteten und Minderheiten, die allesamt anzeigen, ob eine Gesellschaft anfällig für die faschistische Ideologie ist.
Weier: Brauchen wir angesichts des Aufstiegs des Faschismus einen neuen Antifaschismus?
Majewska: Es ist wichtig, darüber nachzudenken, wie inklusiv und divers der Antifaschismus ist. Ich habe darüber mit Paul Mason, dem Autor von How to Stop Fascism, gesprochen und ihn gefragt: „Kann eine Haushälterin, die Ihr Haus putzt, die vielleicht aus einem peripheren Land kommt und nicht gut Englisch spricht, an Ihrem Antifaschismus teilhaben?“ Die Antwort ist „nein“, obwohl ihm und anderen Autor*innen natürlich ein „ja“ lieber wäre. Was ist hier schiefgelaufen? Die Strategien zum Aufbau einer antifaschistischen Theorie und eines antifaschistischen Aktivismus wurzeln in heroischen und machohaften Vorstellungen von Politik. Wenn wir an Widerstand denken, sehen wir junge Männer auf Pferden. Mit meinem Buch Feminist Antifascism weise ich auf die Unfähigkeit innerhalb der Linken hin, den Antifaschismus außerhalb solcher Vorstellungen zu denken. Politik und Feminismus dürfen nicht länger voneinander getrennt werden.
Weier: In Feminist Antifascism schreiben Sie, der globale Feminismus sei die zentrale politische Kraft im Widerstand gegen den Faschismus. Sie analysieren darin die Frauenstreikbewegung in Polen (Strajk Kobiet), die sich 2016 als Reaktion auf die Pläne der PiS, den Zugang zu Abtreibung radikal einzuschränken, formierte. Sie hat sehr wahrscheinlich zum Sturz der PiS beigetragen. Was können wir von Polen lernen?
Majewska: Im Frühjahr 2016 erlebten wir eine nie da gewesene feministische Mobilisierung. Frauen aus unterschiedlichen Bereichen begannen, sich zu organisieren, in Polen und in der Diaspora. Der Feminismus hörte auf, eine Bewegung weniger privilegierter Frauen zu sein, und wurde zu einer Massenbewegung. Viele Frauen aus kleinen Städten engagierten sich. Das war ein unglaublich ermutigender Moment, in dem sich Repräsentationsmuster verschoben.
Sibylle Peters hat darüber geschrieben, welche Bedeutung das Proben, wie es in der darstellenden Kunst üblich ist, für die demokratische Praxis hat. Als wir Selfies in den sozialen Medien posteten, um die Frauenproteste zu unterstützen, war das auch ein Art Probe für den folgenden politischen Aktivismus. Über 250.000 Menschen machten mit, es war die bis dato größte Aktion im polnischen Internet. Frauen, die an dieser Selfie-Aktion teilnahmen, fiel es später leichter, sich auf der Straße zusammenschließen. Das war nicht als Politik gelabelt – jede*r macht ja heutzutage Selfies. Der Frauenstreik hat revolutioniert, wie wir politische Aktionen denken.
Als Wissenschaftlerin warf man mir übrigens vor, ich könne diese Bewegung nicht theoretisieren, weil ich Teil davon war. In einigen Rezensionen des Buches wiederum wurde meine wissenschaftliche Perspektive auf eine aktivistische Bewegung kritisiert.
Weier: Das ist in der Tat erstaunlich, da Sie in dem Buch ja konstatieren, dass theoretische Analyse und politischer Aktivismus Hand in Hand gehen müssen.
Majewska: Ich gehe auf Demonstrationen, seit ich zwei Jahre alt bin. Mein Vater war an Solidarność beteiligt, der zweiten sozialen Bewegung, die ich in meinem Buch analysiere. Die Vorstellung, man könne nicht gleichzeitig Akademiker*in und Aktivist*in sein, ist meines Erachtens problematisch. Rosa Luxemburg forderte, eine Vielfalt des Denkens zuzulassen. Doch diese ist in Gefahr – auch durch die aktuellen faschistischen Entwicklungen. Wir werden regelrecht gezwungen, gleich zu denken. Die sozialen Medien gaukeln uns Gewissheiten vor, die wir in den meisten Fällen gar nicht haben können. Es gibt den Button „Gefällt mir“, aber keinen, der sagt „Ich weiß nicht“ oder „Erzähl mir bitte mehr“.
Weier: Als Wissenschaftlerin verorten Sie sich in der Kritischen Theorie. Um polemisch zu fragen: Was bietet uns die Kritische Theorie in einer veränderten Realität (geopolitisch, aber auch in Bezug auf die Medienrealität usw.) heute noch?
Majewska: Eine Frage, die ich in diesem Zusammenhang immer wieder stelle, lautet: Kann die „Multitude“ (Menge) sprechen? Wird die Fähigkeit zum Diskurs als Teil des Erbes der vermeintlich gefährlichen Aufklärung vernachlässigt und das Hauptaugenmerk auf Embodiment, die Verkörperung, gelegt, so wie in der philosophischen Tradition Spinozas, dann müssen wir genau diese Frage stellen. Die Kritische Theorie ist viel besser als andere Theorien in der Lage, soziale Fähigkeiten zu erklären, Ansprüche zu erheben und Dinge einzufordern. Sie hebt die Sprechfähigkeit hervor, und zwar nicht nur den Konsens, sondern auch die Möglichkeit der Meinungsverschiedenheit. Andere theoretische Ansätze tun sich schwerer damit, Konformität zu verweigern. Um hier noch einmal Rosa Luxemburg ins Spiel zu bringen: Sie hat genauso vehement die Redefreiheit ihrer Feind*innen verteidigt wie die ihrer Freund*innen. Wir alle kennen ihren Slogan: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“
Ich versuche, die Kritische Theorie und die spinozistische Tradition miteinander zu verbinden. Wir müssen theoretisieren und auf der Straße (oder sogar zu Hause) protestieren. Diese Art der Verkörperung macht uns zu politischen Wesen. Es war ein großer Fehler der Kritischen Theorie, die Verkörperung zu ignorieren. Doch ohne die Fähigkeit zu widersprechen, zu verbalisieren oder Alternativen zu denken, ist es für die spinozistische „Multitude“ unmöglich, weiterzukommen. Diese beiden theoretischen Traditionen müssen also zusammengedacht werden. Und ich glaube, dass wir uns damit auf einen genuin feministischen Ort zubewegen. Denkerinnen wie Hélène Cixous, Donna Haraway oder Judith Butler versuchen, so materialistisch, historisch und kritisch wie möglich zu sein, natürlich auf unterschiedliche Weise. All die verschiedenen Strömungen des Feminismus, egal, ob es die italienischen materialistischen Feminist*innen oder die Schwarzen Feminist*innen sind, sie alle bewahren sich die Fähigkeit zum Diskurs.
Die zentrale Frage lautet demnach: Wie sprechen wir? Das Sprechen und die Theoriebildung sollten nicht der akademischen Welt vorbehalten sein, sondern auch den sozialen Bewegungen und den sogenannten einfachen Leuten gehören. Eine gute theoretische Analyse kann aus jeder Situation heraus entstehen. In diesem Punkt unterscheide ich mich von der frühen Kritischen Theorie, bin ihr aber gleichzeitig sehr nahe, denn auch Adorno und Horkheimer hatten ja die Intuition, dass die Theorie von der Gesellschaft lernen kann. In ihren empirischen Studien und Interviews setzten sie sich mit soziologischen Aspekten auseinander, wollten die Reflexivität aber beibehalten. In ähnlicher Weise versucht die spinozistische Tradition des Operaismus, eine lebendige Beziehung zwischen Theorie und Sozialem aufrechtzuerhalten und die theoretische Fähigkeit ebenso beizubehalten wie den politischen Radikalismus.
Im Angesicht des Faschismus müssen wir uns etwas auf die Fahnen schreiben, wir müssen uns äußern können und in der Lage sein, untereinander und mit anderen über Politik zu diskutieren. Deshalb brauchen wir eine lebendige öffentliche Debatte, eine Gegenöffentlichkeit, die uns in die Lage versetzt, Forderungen zu stellen – und dabei unsere Körper einzusetzen.
Weier: Viele Definitionen von Öffentlichkeit beruhen auf Ausschlüssen. Sie argumentieren, dass jene, die ausgeschlossen sind, Öffentlichkeit für sich beanspruchen müssen. Was kann in dieser öffentlichen Arena getan werden, um dem faschistischen „Kulturkampf“ zu begegnen?
Majewska: Der „Kulturkampf“, also die Aufwendung einer konservativen Perspektive auf alles und jeden, hat die Linke auf das Terrain der Kultur zurückgedrängt, während ultrakonservative Kräfte das öffentliche und politische Leben beherrschen. Am Kulturkampf interessiert mich vor allem die Möglichkeit, an jenes Erbe der Linken anzuknüpfen, das für die Gestaltung demokratischer Institutionen, rechtlicher Verfahren, das Verfassungsrecht usw. von zentraler Bedeutung war. In Polen haben wir jetzt mehrere linke Politiker*innen in der Regierung, und sie zeigen, dass die Linke in zentralen politischen Institutionen mehr kann als bloße „Straßenpolitik“ bzw. Bildungs- oder Kulturpolitik.
Es war die Arbeiter*innenbewegung, die echte Demokratisierungsprozesse in die Politik eingeführt hat, nicht die konservativen oder liberalen Parteien. Es waren immer die ausgeschlossenen Gruppen, die Inklusion und damit auch neue, egalitärere Verfahren forderten. Wenn wir über Demokratie sprechen, müssen wir den Kontext der Arbeiter*innenbewegung, der sozialen Bewegungen, die Geschichte der Partizipationsansprüche von Minderheiten und marginalisierten Gruppen berücksichtigen. Unsere politische Vorstellungskraft wird von der Behauptung beherrscht, nur bestimmte Menschen, eine Oberschicht, könnten Politik machen. Mit diesem Vorurteil müssen wir aufräumen.
Weier: Gegenwärtig scheint die Linke außerstande, eine internationale Front gegen den Faschismus zu bilden. Sie zerbricht an unterschiedlichen Positionen, zum Beispiel im Nahostkonflikt. Könnte ein feministischer Ansatz einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten?
Majewska: Vergangenen November haben wir in Warschau eine internationale marxistisch-feministische Konferenz abgehalten. Sie brachte Menschen aus der ganzen Welt zusammen, mit unterschiedlichen Perspektiven auf Palästina und Israel, aber auch auf die Ukraine und Russland. Ich schlug vor, ein Panel zum Thema Krieg zu veranstalten. Alle dachten, das würde in einer Katastrophe enden. Das Gegenteil war der Fall! Wir waren Feminist*innen aus verschiedenen Ländern und nutzten die Gelegenheit, voneinander zu lernen, miteinander zu diskutieren und strategische Allianzen zu bilden. Es war eine erstaunliche Erfahrung, die in der historischen Tradition der feministischen Bewegung begründet lag, selbstkritisch zu sein. Um kritisch zu sein und unsere Unterschiede zu hören, müssen wir frei von Zensur sein. Ich zum Beispiel fordere einen sofortigen Waffenstillstand in Palästina und dass alle US-amerikanischen, afrikanischen, jüdischen, deutschen und anderen Wissenschaftler*innen, die von den Nachfahr*innen der faschistischen Täter*innen der Shoah als Antisemit*innen bezeichnet wurden, nur weil wir uns mit den Opfern in Palästina solidarisch zeigen, rehabilitiert werden.
Ich fordere eine offene Debatte. Seit 2015 entwickle ich das Konzept des „schwachen Widerstands“ (weak resistance) als Alternative zu maskulinen Vorstellungen von politischem Aktivismus. „Schwacher Widerstand“ bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht auch angreifen können oder alle Pazifist*innen wären. Das wäre zwar schön, ist aber in diesen Zeiten nicht legitim. Wir müssen uns die Hände schmutzig machen, und damit meine ich, gegen den Faschismus aufzustehen. Sonst werden wir alle verlieren. In ihrem Song „Turntables“ singt Janelle Monáe: „I keep my hands dirty, my mind clean“. Die Theorie gibt uns Werkzeuge an die Hand, um unsere Angriffe wirksam zu gestalten, genauso wie das politische Erbe der Linken und des Feminismus es uns ermöglichen, Kämpfe erfolgreich zu führen: durch Protest, Streik, Basis- und institutionelle Organisation, Revolutionen, Untergrund- und Parteipolitik. Das Wichtigste dabei ist jedoch, wie Monáe singt, dass wir unseren Geist sauber halten.