Graz. „Ich bin individuell und edgy!“ Auf Instagram fotografieren Young-Art-Kids gerne Müll mit Flashlight, um auf sich aufmerksam zu machen. Einen Gegenentwurf liefert der Grazer Kunstverein mit Curtis Cuffie’s New York City, einer Fotoausstellung, die sich mit den ephemeren Skulpturen des 2002 verstorbenen, zeitlebens meist obdachlosen New Yorkers Curtis Cuffie auseinandersetzt.
Es ist dunkel, kühl und leer – ein einzelner analoger Projektor bespielt die Wand mit Diafotos, darauf zu sehen: Gullideckel, verschwommene Lichter, Autos, Fensterscheiben, eine Tankstelle, Nacht. Wo ist Cuffie? Und wo ist die Kunst, frage ich mich, und versuche, die verwackelten Aufnahmen zu deuten. Ratlos stehe ich nah am Projektor, der knattert, klickt und so viel Wärme abgibt, dass ich noch ein wenig näherkomme. Immer wieder ist es komplett finster, dann blitzt ein neues Dia auf der Wand auf. Als sich meine Augen an das eigenwillige Ausstellungsdesign gewöhnt haben, entdecke ich den Durchgang in den nächsten Raum.
Auf insgesamt acht Projektoren zeigt der Grazer Kunstverein etwa 700 Fotos, die abgesehen vom Projektor im Eingangsbereich auch tatsächlich Cuffies Skulpturen zeigen. Der Künstler, mancherorts als sogenannter Outsider Artist bezeichnet, fand ab Mitte der 1990er-Jahre Einzug in die Galerienszene und die Schwarze Avantgarde New Yorks. Zuletzt finden sich seine Arbeiten vertreten von der Galerie Buchholz. Im Grazer Kunstverein gibt es allerdings nur Fotos von Curtis meistgenutztem Ausstellungsort zu sehen: der Straße. Rund um die Ziegelgebäude der Zeitung Village Voice und der Kunstuniversität Cooper Union im Stadtteil East Village fertigt Cuffie seit Mitte der 1980er-Jahre eigenwillige Skulpturen im öffentlichen Raum, zwischen Mistkübeln, Autos und Imbissständen. Seine Arbeiten sind rätselhaft humorvolle Assemblagen aus sogenanntem Krempel. Rohre, Wischmopps, Mickey-Mouse-T-Shirts, Kanister, Einkaufssäcke, alte Lampenschirme und nicht zuletzt US-Flaggen werden zu Türmen, Schreinen oder Figuren zusammengesetzt, die dann oft an Zäunen befestigt werden – bis sie von der Exekutive (und von wem auch immer) entfernt werden. Hätten Katy Abel, Tom Warren und Cuffie selbst damals nicht so viele Fotos gemacht, gäbe es heute wohl kaum Evidenz für die kurzlebigen Werke und ihre Reflexion auf die chaotische Metropole am Hudson River. Gerade Katy Abels bunt leuchtende Fotos sind es, die Cuffies Werk und das New York der 1990er-Jahre vibrierend in Beziehung setzen.
Draußen: der Innenhof des Palais Trautmannsdorf (in dem sich der Grazer Kunstverein befindet), ein barockes Stadtpalais, das auf die Zeit zurückgeht, als Graz Regierungssitz der Habsburger war. Drinnen: New York Mitte der 1990er unter der Stadtregierung Rudy Giulianis, als vor allem der Schwarze Teil der Stadtbevölkerung unter der Polizeigewalt des „War on Drugs“ und der sogenannten Nulltoleranzpolitik leiden muss. Währenddessen lässt Präsident Ronald Reagan das Budget für öffentlichen Wohnbau und Sozialleistungen stark kürzen. 1991 erscheint Bret Easton Ellis Roman American Psycho, ein Abgesang auf den neoliberalen Materialismus der USA, die Gewalt des Privateigentums und den kommerzialisierten Individualismus. Cuffies Arbeiten mögen all das spiegeln, und doch tun sie viel mehr als das. Sie lesen sich in ihrer Vergänglichkeit und kommerziellen „Nutzlosigkeit“ als Zeichen eines gelebten Widerstands gegen jede monetäre Logik. Auch wenn man heute wahrscheinlich einen „Cuffie“ kaufen kann, so hätte man ihn damals von der Straße stehlen müssen, um ihn zu bewahren. Denn bei Cuffie scheint es um genau das Gegenteil des beständigen Hustles, wie wir ihn heute von Instagram, Yoga oder Rap gepredigt bekommen, zu gehen. Eigenartig ist das aber damals schon. Cuffie selbst soll etwa, auf seine Wohnungslosigkeit angesprochen, nur gesagt haben: „I’m not homeless, I’m holy.“
Gerade das Ausstellungsdesign über Diaprojektoren, das es unmöglich macht, die Skulpturen länger zu betrachten, geschweige denn das Handy herauszuholen, um sie zu fotografieren, schafft ein Gefühl für Cuffies Kunst im öffentlichen Raum, die heute da und morgen schon wieder weg sein kann. Hier kann das Medium der dokumentarischen Fotografie seine Strahlkraft voll entfalten. Der französische Filmtheoretiker Andre Bazin hat der Fotografie einst unterstellt, nicht „Realität“ abzubilden, sondern ein „Mehr an Realität“, sprich das Abbilden von Momenten, die dem menschlichen Auge im rationalisieren Alltag zu entgehen scheinen. Curtis Cuffie’s New York City und seine über 700 Fotos werden dieser These gerecht und erzählen radikal zweidimensional von Kunst als etwas Flüchtigem, nicht Verwertbarem und vielleicht dadurch tatsächlich Heiligem.