Heft 2/2024 - Artscribe


Jenna Bliss

2. Februar 2024 bis 5. Mai 2024
Haus am Waldsee / Berlin

Text: Theresa Roessler


Berlin. Bereits im Garten der ehemaligen Privatvilla begegnen wir einer Arbeit der Künstlerin und Filmemacherin Jenna Bliss (*1984, lebt in New York City, USA). In die Erde gesteckte Metallstangen mit farbigen Seilen markieren jene Stellen, an denen sie Schnipsel eines Super-8-Filmstreifens vergrub. Einzelne Bildkader, teils von Witterung und Schmutz stark gezeichnet, wurden bereits wieder ausgegraben. Archive (2023) nimmt vor dem eigentlichen Ausstellungsbesuch mindestens drei wesentliche Aspekte Bliss’ künstlerischer Praxis vorweg: zunächst die Auseinandersetzung mit Filmtechnologien, außerdem die selbstreferenzielle Bezugnahme auf ein von ihr geführtes filmisches Archiv und drittens eines ihrer Sujets, New York City, wobei in Berlin insbesondere 9/11 und die Wirtschaftskrise 2008/09 im Fokus stehen.
Bliss durchstreift ihren Wohnort seit vielen Jahren mit höchst aufmerksamem Blick. Die Stadt wird so zum künstlerischen Material, das mittels Super-8-Kamera minutiös erschlossen, dokumentiert und medial seziert wird. Mit den Serien Panorama (2021) und Drone (2021), die weitere vergrößerte Bildkader auf Silbergelatineabzug zeigen, entwickelt Bliss ahistorische, momenthafte Erinnerungslandschaften. Ungeachtet ihres jeweiligen Entstehungszeitpunkts tragen sie mit ihrer grobkörnigen, schwarz-weißen Erscheinung die Reminiszenz vergangener Tage. „A moment sliced from the line of history and frozen – here you can loiter for awhile.“1 In Eurodollars (2024) ergänzt sie weitere Abzüge um Phrasen, wie sie zum Zeitpunkt der Weltwirtschaftskrise im Umlauf waren. „[S]ave the banks to ourselves“ oder „greed is good“ zeichnen ein sehr eigenwilliges von Spekulation und Größenwahn informiertes Bild, das ihr neuer Film True Entertainment (2023/24) als Parodie auf den Kunstbetrieb noch zu überspitzen weiß.
Auf einem Kunstmessestand verfolgen wir ein mit zahlreichen Klischees gespicktes Szenario: Sexistische „art handler“ bauen den Stand auf, während ein geldgieriger, wenn auch sichtlich nervöser Galerist mit einer ihm zugehörigen Assistentin die psychisch labile Künstlerin mit It-Girl-Status zu beschwichtigen versucht, bevor ein verstandsloses Sammlerpaar im Kaufrausch … und so weiter und so fort. Kurz vor der Wirtschaftskrise gleicht die bekannteste Kunstmesse der Welt im Juni 2007 einem Ramschverkauf. „A fucking monkey could sell art in this economy“, heißt es. Mit Mitteln der Emotionalisierung und Dramatisierung (und gewiss auch Skandalisierung, wenn die Künstlerin den Messestand schlussendlich doch zerstört) nutzt Bliss hier Strategien des Reality-TVs und porträtiert eine Branche, die es so gern verleugnet, intrigant, elitär und ausbeuterisch zu sein.
Auch in Professional Witnesses (2021) greift Bliss stilistisch auf dokumentarische Mittel eines unterhaltungsorientierten Formats zurück: einen Werbeclip des Tech-Giganten Apple von 2002, in dem Nutzer*innen nahezu schwärmerisch von ihrem „Switch“ von Microsoft Windows zu MacOS berichten. Auch Bliss inszeniert in den acht Videos Monologe vor weißem Hintergrund, lässt Schauspieler*innen basierend auf Zeug*innenaussagen2 Skripte zu individuellen Erinnerungen an 9/11 vortragen. Von einer „offenen Wunde“ ist die Rede und davon, wie die Folgen in Politik, Ökonomie, Technologie, aber auch im Journalismus bis in die Gegenwart hineinragen. Insbesondere die Verschärfung der Migrationspolitik und die zunehmende Militarisierung der Polizei lassen Bliss’ Überlegungen zu medientechnologischen Umbrüchen einfließen. Schließlich hatten die ausgeweiteten Befugnisse für Strafverfolgungsbehörden maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung neuer Überwachungstechnologien. Abzuleiten aus den einzelnen Schilderungen sind auch die sozialen Ungerechtigkeiten, die die jeweiligen Lebensrealitäten in Folge von 9/11 verändern werden. Mit der Fiktionalisierung des Dokumentarischen parodiert Bliss den Switch-Werbeclip und damit Apples Versprechen auf Individualität, Autonomie und einem „Fortschritt für alle“. Dass die ersten Pläne des World Trade Centers nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Credo „world peace through world trade“ diskutiert wurden, kommt noch erschwerend hinzu.3
Auf den ersten Blick wirkt die Zusammenstellung dieser individualistischen Werbeclipästhetik und überzeichneter Reality-TV-Show mit Nostalgie evozierenden Stadtaufnahmen recht disparat. Doch begreift Bliss das Stilisierte und Ästhetisierte als Strategien der Werbe- und Filmbranche, als eine Sprache, die verzerrt und verführt und eben auch innerhalb unterschiedlicher Medien adaptiert werden kann. Stellvertretend sei hier auch auf die Reklameleuchtkästen Chanel, Orange (2023) und Celine, Chocolate Pears (2023) verwiesen, in denen sie Aufnahmen der Stadt mit jenen des kapitalistischen Begehrens überblendet.
Die der Kunst diagnostizierte Widersprüchlichkeit und ihr Verstricktsein in ökonomische wie politische Gefilde offenbart sich auch in den eingangs erwähnten Filmschnipseln. Denn Bliss wählte für Archive Aufnahmen von US-amerikanischen Flaggen, die wiederum eine konkrete Verbindung zur Geschichte des Hauses am Waldsee ziehen lassen: Mit Unterstützung der US-Alliierten wird es 1946 zum Ausstellungshaus, nachdem es zuvor von Karl Melzer, dem Vizepräsidenten der Reichsfilmkammer, als Dienstwohnung genutzt worden war. Die RFK kontrollierte das gesamte Filmgewerbe im Nationalsozialismus. So zieht Bliss Linien zwischen teils weit auseinander liegenden Punkten, visualisiert Interdependenzen, nimmt sich der Unberechenbarkeit und Komplexität einer Welt an, in der das eine nicht ohne den Kontext des anderen zu denken ist.

 

 

[1] Pressemitteilung Late Responder, Galerie Felix Gaudlitz; https://felixgaudlitz.com/site/assets/files/1909/felix-gaudlitz_doc-13_2020_jenna-bliss_late-responder_press-release.pdf.
[2] Unter anderem aus dem 9/11 Comission Report und dem von der Filmemacherin Ruth Sergel initiierten Projekt Voices of 9.11 – A People’s Archive (2002–03).
[3] https://www.911memorial.org/learn/resources/digital-exhibitions/world-trade-center-history/world-peace-through-world-trade