Heft 2/2024 - Artscribe


Jürgen Baldiga – Wie die Hölle, so die Erde. Wo die Hölle, da die Erde.

8. Oktober 2023 bis 4. Februar 2024
Halle für Kunst Lüneburg / Lüneburg

Text: Julius Pristauz


Lüneburg. Wie ein düsterer Unterton einer Zeit, die ich nie erlebt habe, klingt mir die Ausstellung auf meinem Rückweg aus Lüneburg nach. Im Rauschen des ICE zurück nach Berlin ist es eine Mischung aus Beklemmung und Dankbarkeit, die sich im regelmäßigen Takt des rollenden Zugs langsam auf mein Gemüt legt. Ich kannte das Werk von Jürgen Baldiga zuvor, hatte es jedoch noch nie so fokussiert und umfassend in einem Raum gesehen. Das allererste Mal bin ich als Teenager auf seine Fotografie gestoßen. Es vergingen jedoch Jahre, ehe ich zuordnen konnte, wer der Autor dieses grotesken Bildes war, in welchem ein Mann mit roter Clownsnase im Gesicht, mit verschrecktem Blick und blutunterlaufenen Augen, schonungslos in die Kamera sieht. Auch den Titel des Bildes würde ich erst deutlich später verstehen. Die Arbeit heißt My gay Eye/Mein schwules Auge (1992) und ist eines von etlichen Selbstporträts eines Künstlers, dessen Werk bei vielen vor allem für seine Schockwirkung bekannt ist. Doch die Arbeit Baldigas ist deutlich vielschichtiger und facettenreicher als bloße Effekthascherei. Ganz im Gegenteil, vermutlich ist es genau diese Reduktion, die schlussendlich auch als Symptom einer verklärten Gesellschaft, welche bis heute ihren Umgang mit HIV und AIDS nicht vollständig gefunden hat, gedeutet werden kann. Abseits seiner Fixierung darauf, die eigene Erkrankung bis hin zu seinem Tod zu dokumentieren, erstreckt sich ein Korpus an Arbeiten, die in ihrer dokumentarischen Qualität, Poetik und ihrem aktivistischen Wert nicht überschätzt werden können.
Wie die Hölle, so die Erde. Wo die Hölle, da die Erde. ist eine durchaus konfrontierende Ausstellung. Das liegt einerseits an der durchdringenden Natur von Baldigas Werk, es hat aber vielleicht auch mit meiner eigenen homosexuellen Identität zu tun. Die Fenster der Halle für Kunst sind mit schwarzer Folie abgedunkelt, eine Art Dunkelkammer also, ein Klosett. Inmitten der teilweise wilden Hängung wirken die Bildpaare, welche, eingefasst von weißen Passepartouts, auf den ersten Blick konträre Szenen gegenüberstellen, am stärksten. Eine besonders bewegende Paarung ist Kind an der Leine/Selbstportrait (mit Pfleger) (1985/91). Hier führt eine, als ältere Dame gelesene Person ein Kleinkind an der Leine spazieren. Als Gegenstück sitzt daneben Baldiga am Tropf hängend. Vor ihm steht sein Pfleger. Er sieht ihn mit einem freundlichen, hoffnungsvollen Blick an. Es ist dieser ständige Kontrast zwischen Kindheit und Lebensabend, Abhängigkeit und Hilfestellung, die seine Arbeiten besonders machen. Ständige Wechselspiele aus neugieriger Beobachtung, Intimität und brutaler Ehrlichkeit oszillieren mit glamouröser (Selbst-)Inszenierung. Auffällig ist auch die immer wiederkehrende Gegenüberstellung des Ich, in Form des Künstlers selbst, mit dem Anderen, repräsentiert durch Freunde oder gar fremde Personen. Schlussendlich ein Grenzgang, der nicht immer ganz gelingt, unter anderem weil der Künstler nicht davor scheute, auch sich selbst zu entfremden und die Entfremdung in Form externer Einflüsse gesellschaftlicher Natur explizit darzustellen. Konservatismus, Politik, Krieg und Krankheit gehören zu den vielen Themen, die sich in der Ausstellung wiederfinden. Doch ist längst nicht alles so düster in dieser komplexen Biografie und dem vielschichtigen Werk des Künstlers. Ganz im Gegenteil: Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal, so betitelte er eines seiner Fotobücher. Ein weiteres widmete er den schillernden Persönlichkeiten des Berlins der 1980er-Jahre. Baldiga ist in dieser Zeit Teil der Schwulenbewegung, engagiert sich aktivistisch und dokumentiert alles und alle, die ihm dabei begegnen: seine Partner, sein Sexleben, seine Bekanntschaften. Die Bilderserien der SchwuZ-Tunten, Queens oder Tantes, wie der Künstler sie auch nannte, nehmen eine beachtliche Position im Gesamtkunstwerk Jürgen Baldiga ein – auch in der Halle für Kunst: Neben populären Darsteller*innen der Zeit ist der Künstler selbst zu sehen. Egal, ob in Perücken, Kleidern und BH oder als gepeinigter Jesus mit Stacheldrahtkrone; die Performance stellt sich auch bei Baldiga als exemplarischer Handlungsraum mit utopischem Potenzial der Entfremdung entgegen.1
Porträtfotografie, Selbstdarstellung, Performativität, Gender. Es ist hier aber nicht nur eine Frage von Genderperformance, die die porträtierten Darsteller*innen zum Ausdruck bringen. Die Modelle spielen in den Sujets förmlich mit den gesellschaftlichen Regeln der Zeit, mit Codierungen von Klasse und Etikette. Entsprechend der damaligen Atmosphäre ist das klar als Widerstand gegen die Diskriminierung, die sie alle erfahren haben müssen, zu deuten. Ein weiterer Grund für die besondere Nähe, die Baldigas Fotografien auszeichnet. Zentral, aber gerade nicht mittig im Raum stehend, ist auf einem weißen Sockel ein Objekt aufgebahrt. Die Arbeit heißt Souvenir (1992) und besteht aus einem stilvollen Glasaschenbecher, in dem ein Ball aus Kunstharz thront, und einem Pokalsockel, wie man ihn von Sportwettbewerben kennt. Ich denke an religiöse Ikonen und an Fragen nach Fragilität und der Vergänglichkeit von Helden und Held*innen. Die Arbeiten, die hier präsentiert werden, haben definitiv etwas Heldenhaftes an sich.
Das Werk Jürgen Baldigas basiert auf einer dieser Praxen, die, wie so viele andere, wohl fast verloren gegangen wäre, hätte es da nicht ein paar engagierte Individuen gegeben, die unermüdlich gegen das Vergessen und gegen die Vergänglichkeit angekämpft hätten. Im Falle Baldigas ist das vor allem ein damaliger Freund, der Künstler Aaron Neubert, welcher in sorgfältiger Arbeit, gemeinsam mit dem Schwulen Museum in Berlin, aber unter anderem auch mit der Kuratorin der Ausstellung (Elisa R. Linn) bis heute diese besondere Praxis archiviert und aufarbeitet. Menschen wie ihnen verdanken wir es, dass dieser essenzielle Teil eines Erbes an queerer Kultur fortleben kann. Die Ausstellung in der Halle für Kunst ist ein liebevolles Testament einer durchwachsenen Biografie, ein Gedicht an die unermüdliche künstlerische Freiheit. Sie ist eine Zeitreise. Aber vor allem ist sie das Abbild einer langsam, jedoch stetig nachhallenden Erfolgsgeschichte.

 

 

[1] Vgl. Hanna Heinrich, Ästhetik der Autonomie: Philosophie der Performance-Kunst. Bielefeld: transcript 2020.