Karlsruhe. Mit der weltweit ersten Ausstellung zu Lily Greenham (1924–2001) knüpft der Badische Kunstverein an seine Reihe bemerkenswerter Wiederentdeckungen an, zu denen Noah Eshkol, Kathy Acker und Nancy Holt gehören. Mit Lily Greenham gelangte nun dank Kunstverein-Leiterin Anja Casser eine Persönlichkeit ans Licht, die, wie viele ihrer Generation, bereits transdisziplinär agierte. Musik und Sound spielen für ihre Arbeit eine Schlüsselrolle, weshalb die Kurator*innen es weitgehend mit einem immateriellen Werk zu tun hatten, das an die Räume adaptiert werden musste.
Nach Greenhams Ableben wurde ihr Archiv zunächst von Freund*innen übernommen und gelangte dann in die Special Archives des Goldsmiths, University of London, wo James Bulley und Andrew Walsh-Lister es mit Unterstützung von Ian Stonehouse, Leiter des Electronic Music Studios des Goldsmiths, Schritt für Schritt aufarbeiteten. Im Rahmen der Karlsruher Ausstellung konnte zudem anstelle eines Katalogs eine materialreiche Website (lilygreenham.org) freigeschaltet werden, die der in Paris lebende Designer und Künstler Alex Balgiu gestaltete.
Dank des Engagements dieser Künstler ist ein Werk ans Licht gekommen, das aus verschiedenen Gründen interessant und berührend ist. Da sind an allererster Stelle Greenhams Kompositionen, ihre in den 1970er-Jahren entwickelte Lingual Music, die auf mit ihrer eigenen Stimme performten Vokalen und Buchstaben beruht. Anfangs nahm sie sich analog auf und verfremdete mechanisch den Klang. Später nutzte sie akustisch-elektronische Möglichkeiten und arbeitete mit britischen Experimentalmusiker*innen zusammen. James Bulley, Komponist und Künstler, brachte ihre Stücke, wie etwa Greenhams preisgekrönte Komposition Relativity, in dem akustisch als schwierig geltenden Saal des Badischen Kunstvereins zum Klingen. Dort und im überdachten Atrium des Hauses können Besucher*innen eine Auswahl ihrer zwischen Sprache, Sound und Musik oszillierenden Werke erleben.
Die nähere Betrachtung des Werks Lily Greenhams macht deutlich, dass ein in sich konsistentes Werk notwendig auf eigener Forschung beruht, auf der produktiven Verarbeitung von Einflüssen in einer originären Form. Ausgebildet als Sängerin klassischer Musik wusste die Künstlerin theoretisch und praktisch mit Tönen umzugehen. In den 1950er-Jahren war Greenham mit den Lautgedichten der Wiener Gruppe in Berührung gekommen, die sie für Dichter wie Gerhard Rühm mit ihrer Stimme interpretierte. Für viele Avantgardekünstler*innen der 1960er- und 1970er-Jahre, beispielsweise Carl Andre, Sol LeWitt oder Nancy Holt, stellte die Konkrete Poesie eine Brücke zu ihrem konzeptuellen Werk da. Denn Konkrete Poesie transportierte keine Inhalte, sondern setzte sich mit ihren eigenen Mitteln, den Mitteln der Sprache auseinander. Lily Greenham kam zu Beginn der 1960er-Jahre zur Konkreten Kunst, in der es um die grundlegenden Elemente der bildenden Kunst ging.
Nach ihrem Wechsel von Wien nach Paris 1964 schloss sich Greenham dem Umfeld der Galerie Denise René und der Groupe de Recherche d’Art Visuel an, die sich mit kinetischer Kunst befasste. Wenn in den vergangenen Jahrzehnten ihr Name im Kunstkontext auftauchte, dann meist in der Konkreten Kunst. In Karlsruhe sind beispielhaft einige ihrer Leuchtkästen und Arbeitsskizzen ausgestellt. Sie manipulierte ihre präzise ausgeführten, geometrischen Farbmuster mit einer nicht sichtbaren Lichtquelle, woraus sich ein Spiel optischer Phänomene ergab.
Neben der Lingual Music dokumentiert die Karlsruher Retrospektive vor allem Greenhams performatives Werk. In Ermangelung von Filmdokumentationen lassen die Kurator*innen analoges Archivmaterial sprechen. Der Kritiker, Dozent und Gestalter Andrew Walsh-Lister breitete Ankündigungen, Plakate, Notizen, Belege und Tonbänder der zahllosen Performanceauftritte Lily Greenhams aus. Fotografisches Material ist rar. Eine Gruppenaufnahme zeigt die Künstlerin in ihren Fünfzigern unter den Teilnehmer*innen des 3. Bielefelder Colloquium für Neue Poesie 1981. Darunter waren Literat*innen wie Eugen Gomringer, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Ernst Jandl, Helmut Heissenbüttel, aber auch künstlerische Grenzgänger*innen wie Jochen Gerz, Ilse Garnier und Herbert Achternbusch. In Karlsruhe sind zudem einige von Greenham vertonte Filme von Irm und Ed Sommer und Carola Klein zu sehen sowie Computergrafiken.
Lily Greenham trat weltweit auf, unter anderem in einer Formation mit dem dänischen Jazz-Saxofonisten John Tchicai. Obwohl ihre Muttersprache Deutsch war, schrieb sie ihre Lautdichtungen und programmatischen Texte wie An Art of Living in Englisch. Die Künstlerin soll acht Sprachen beherrscht haben, darunter Dänisch. Eine Beschäftigung mit ihrer transnationalen Biografie drängt sich auf.
Hinter Lily Greenhams aus Farben, Zeichen, Notationen, Klängen und Strukturen geformtem Schaffen verbirgt sich eine bewegte Lebensgeschichte. Ihre jüdisch geborenen Eltern stammten aus Galizien, heute ein Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine. Damals gehörte es zu Österreich-Ungarn. Ihre Mutter, die Opernsängerin Rena Pfiffer-Lax, lebte ihrer Tochter eine Bühnenkarriere vor, genauso wie ihr Vater Gabriel Lax, Jurist und Direktor des Literarischen Kabaretts Pan in der Riemergasse 11 in Wien. Beide starben in den 1940er-Jahren im Kontext der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Muss man das wissen, um dieses Werk für sich zu entdecken? Nicht unbedingt. Doch hilft es vielleicht, ihre emotional unterfütterte Rationalität besser zu verstehen.