Heft 2/2024 - Netzteil


Was immer du ins Meer wirfst ...

Fouad Asfour im Gespräch mit der Künstlerin Zara Julius anlässlich ihrer Ausstellung im Weltmuseum Wien


Zara Julius hat für ihre Ausstellung Whatever You Throw at the Sea … vergrößerte Scans aus der anthropologisch-ethnografischen Fotosammlung des Weltmuseums Wien auf transparenten Film auf Ausstellungsvitrinen aufgezogen. Der Sepiaton der historischen Dokumente erzeugte im Kontext des überdimensionierten neoklassizistischen Gebäudes der Neuen Hofburg, in der das Museum untergebracht ist, ein geisterhaftes Gefühl. Ein endloses Band von Landschaftsfotografien, das den Raum umgab, schuf den Eindruck eines „leeren Landes“ – nur dass dabei die koloniale Machtkonstellation umgekehrt wurde: Die sonst dem Blick ausgelieferten Fotografien konfrontierten gleichsam die Besucher*innen und „schauten“ diese an, als würden sie Zeit und Raum aus einer unerwarteten Zukunft überbrücken.

Fouad Asfour: Mein erster Gedanke beim Betreten deiner Installation war: „Wow, die Protagonist*innen aus Petina Gappahs Roman Aus der Dunkelheit strahlendes Licht sind gekommen, um Österreichs imaginierte Unschuld an kolonialen Verbrechen heimzusuchen.“ Wie bist du im Auswahlprozess der historischen Fotografien und Tonaufnahmen vorgegangen?

Zara Julius: Zu Beginn hatte ich vor, mit sogenannten Objekten zu arbeiten. Aber es wurde schnell klar, dass dies nicht möglich war, weil ich diese nicht hinter Glasvitrinen ausstellen wollte. Also wandte ich mich der fotografischen Sammlung zu. Das Problem mit der Datenbank des Weltmuseums ist, dass die Schlagwörter von den Kurator*innen stammen, die das Material katalogisiert haben, als es im Museum eintraf. Im besten Fall sind diese unzuverlässig, vielfach handelt es sich aber auch um rassistische Verunglimpfungen. Daher sichtete ich die Fotos in der Datenbank der Reihe nach, ohne einer Leithypothese zu folgen. Dabei folgte ich Tina Campts Methode, den „Bildern zuzuhören“, also auf deren affektive Frequenzen zu achten. In der Folge wählte ich jene aus, in denen Personen direkt in die Linse starren, sprich: dem ethnografischen Blick entgegentreten. Saidiya Hartman nennt diese Erfahrung den „Schreck“ im Archiv. Momente, in denen Bilder eine*n innehalten lassen, werden in ethnologischen Museen üblicherweise nicht gezeigt. Weiters folge ich Arthur Jafas „affektiver Nähe“, indem ich Medien aus verschiedenen Kontexten unabhängig aller linearen Zeitlichkeit nebeneinanderstelle – um zu zeigen, dass es Widerstand gegen koloniale und missionarische Projekte gegeben hat.

Asfour: Könnte man sagen, dass du normalisierten Praxen des Kuratierens entgegentrittst, um stattdessen das Material „zurückschreien“ zu lassen und dabei die gefügige, friedliche und glückliche Darstellung der „Eingeborenen“ zu unterminieren?

Julius: Dieser Forschungs- und Produktionsprozess benötigt eine gewisse Inkohärenz, denke ich. Ich „begegne“ nicht dem Archiv, um ein Argument zu untermauern, vielmehr versuche ich, vom Material ausgehend Fäden zu ziehen, die sich langsam entfalten. Das ist eine zeitaufwendige Arbeitsweise, die Kurator*innen und Archivar*innen oft frustriert, weil ich immer wieder sage: „Okay, kann ich alles sehen/anhören?“ Das hat anfangs zu einigen Konflikten im Museum geführt, ich denke aber, das ist gut so.

Asfour: Es scheint, als ob die kolonialen Gewalttaten durch visuelle und akustische Frequenzen weitergegeben werden. Wie deckt deine Arbeit medienimmanente Machtverhältnisse auf?

Julius: Es geht nicht nur um eine Kritik von kolonialen und missionarischen Begegnungen, sondern auch darum, was Carine Zaayman die Begegnung mit dem „Anarchiv“ nennt. Der Originaltitel der Ausstellung Whatever you throw at the sea, the sea will throw it back spielt darauf an, wie man den empirischen, visuellen, akustischen, chronopolitischen und museologischen Grammatiken eines „weißen Wissens“ entkommen kann. Die Arbeit will die Vielfalt abseits von unidirektionalen oder teleologischen Wissensformen aufzeigen, die sozusagen „gezeitenabhängig“ sind. Auch die Meere und das Land legen Zeugnis ab und sind Wissensträger. Das gilt auch für die Mbira und die Sanza [Lamellophone, Anm.], deren Verbreitung die Geschichte und Geografie Afrikas und seiner Diaspora nachzeichnet. Die Sanza, die in der Ausstellung zu hören war, stammt aus der Museumssammlung, die ich gespielt und aufgenommen habe.

Asfour: Ich hatte das Gefühl, dass die Arbeit auch die Unsichtbarkeit der Forscher*innen bzw. Kolonialist*innen außer Kraft setzt. Betrifft dies auch die Frage, wie Sammlungen, um mit Eve Tuck zu sprechen, „settler futurities“ weitertragen?

Julius: Ich denke, dass ethnografische Museen immer noch primär im Hinblick auf „Identität“, „Glauben“ und „Symbolik“ verstanden werden. Die kuratorische Vision vieler Museen basiert auf diesem kulturanthropologischen Ansatz: Hier haben wir diese eine Kultur, die einer anderen gegenübergestellt wird. Und wir vergleichen, wie diese Kulturen „Hüte“ tragen, ihre Toten ehren oder Könige schmücken. Dies ist auch in der Dauerausstellung des Weltmuseums so, wo es zum Beispiel eine Installation amerikanischer Baseballkappen gibt, die mit einer Installation nordamerikanischer indigener Federhauben „konkurriert“. (lacht)
Mich interessiert eher, was geschieht, wenn Schwarze Körper nicht nur als Spektakel angesehen werden, sondern von den Besucher*innen haptisch und verkörpert und somit affektiv wahrgenommen werden. In gewisser Weise werden diese hier selbst zum Spektakel – die Gesichter der Sammlung beobachten sie. Dies funktioniert vor allem deshalb, weil sich das Museum in einem historischen Gebäude befindet, worin ein imperialer Anspruch auf Dauerhaftigkeit aufrechterhalten wird. Weil ethnografische Objekte meist hinter Glas verbannt werden, habe ich diese „permanenten“ Vitrinen in Lichtkuben verwandelt und damit die Logik der Dauerhaftigkeit der Wunderkammer auf den Kopf zu stellen versucht.

Asfour: Abschließend möchte ich dich noch fragen, welche Rolle Sound und Zuhören in deiner Arbeit spielen. Möchtest du mit deiner Soundarbeit die Zuhörer*innen in Resonanzkörper verwandeln?

Julius: Ich habe hauptsächlich mit Audiomaterial gearbeitet, das sich auf Magnetbändern im Phonogrammarchiv befindet und speziell für mich digitalisiert wurde. Zusätzlich habe ich eigene Aufnahmen gemacht und nach dem Komponieren/Zusammenstellen das Material auf ein analoges Zwölf-Zoll-Vinylformat übertragen. Gleichzeitig habe ich kein digitales Material öffentlich zugänglich gemacht, um den Aspekt des Zerfalls hervorzuheben, mit dem das Vinyl jedes Mal konfrontiert ist, wenn es abgespielt wird. Je mehr man versucht zu extrahieren, desto mehr verliert man den Zugriff darauf. Mit dem Fotomaterial verhält es sich ähnlich: Es wurde digitalisiert, zusammengesetzt und an die Wände der Vitrinen geklebt, sodass es nicht mehr weiterverwendet werden kann. Die Fotografien werden zerstört, sobald sie entfernt werden. Durch diesen „Widerstand“ verschiebt sich der Fokus mehr in Richtung Vermittlung. Der Klang umgeht das rationale Erkennen, und eines meiner Ziele ist es, die Menschen dazu zu bringen, tiefer zu fühlen und dies als eine Form von Wissen zu erfahren – eine Form der „Entrückung“, ein Weg zu einem anderen Ort, eine „petite marronage“, wenn man so will. In der Sozialität von Sound, die Émile Durkeim als „kollektives Aufbrausen“ bezeichnet, ist Entrückung ein Exzess. Gleichzeitig geht es um die Wahrnehmung, in einem Körper verortet zu sein, der auf der Flucht ist vor den Bedingungen, unter denen wissende, rassifizierte Körper hergestellt werden.
Der Bereich der „Black Sonics“ eröffnet Möglichkeiten von Polyvokalität, Polyrhythmik, Ruf und Antwort, Atonalität, und diese aktiviere ich, unabhängig vom Medium. Ganz zentral für mich ist beim Klang, als einer Methodologie der Entrückung, dass dieser es uns erlaubt, Zeit neu zu konstituieren – und vielleicht noch wichtiger, die von Sylvia Wynter als „Marktzeit“ bezeichnete chronopolitische Ordnung zu unterwandern, die den Schwarzen Körper zu einer Arbeitseinheit macht, die missionarischen bzw. kapitalistischen Logiken unterliegt. Polyrhythmik und Polyvokalität tragen dazu bei, diese Fixierung auf eine einzige Stimme der Wahrheit im Körper aufzuheben.

Zara Julius, Whatever You Throw at the Sea …, Weltmuseum Wien, 27. April 2023 bis 2. April 2024.