Heft 2/2024 - Kulturkämpfe


Welt ohne Utopiemühle

Zur Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus

Total Refusal


Seit Fredric Jameson, Slavoj Žižek und Mark Fisher wissen wir, dass sich Alternativen zum Kapitalismus schwerlich oder gar nicht denken lassen. Wir wissen aber auch, dass die liberale Marktdemokratie global zu sozialem, ökologischem und ökonomischem Kollaps führt. Die Bilderwerkstätten des Massenmediums Videospiel reagieren darauf mit einer Serie an Endzeiterzählungen – unfähig, utopische Narrationen oder Spielweisen zu entwickeln. Beispielgebend hierfür ist die Dominanz des düsteren Cyberpunk-Szenarios (Blade Runner, Cyberpunk 2077, Deus Ex, etc.) oder von Dieselpunk (Mad Max, Fallout, Bioshock). Das hoffnungsvolle Sci-Fi-Genre Solarpunk schafft es nicht ins Supermedium – und wenn, dann ähnelt sein Gameplay frappant den dystopischen Titeln. Konkrete Utopien sind selten in Massenmedien zu finden, und deshalb dominieren dystopische Erzählungen in der Unterhaltungsindustrie. Die physische Realität bildet hierfür den Boden.
Seit letztem Jahr hat sich laut Uppsala Conflict Data Program (UCDP) die Zahl der Todesopfer durch Krieg verdoppelt; die Waffenproduktion ist laut Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) weltweit auf einen Rekordwert seit den 1950er-Jahren gestiegen. Im utopischen Moment des Mauerfalls gab es laut Stephen Holmes und Ivan Krastev nur 16 Grenzzäune weltweit; heute sind es über 65. Das Vertrauen in die Politik dünnt aus, ebenso der Glaube an eine bessere Zukunft. Die liberale Demokratie galt lange als Endpunkt der Geschichte – als die überlegenste, höchstentwickelte und deshalb siegreiche Gesellschaftsform, innerhalb derer Menschenrechte, Freiheit und Demokratie sich bis in die hintersten Winkel des Planeten ausbreiten konnten.1 Sie überzeugte damit, die Herrschaft des Kapitals mit Freiheitlichkeit und sozialem Wohlstand zu vereinbaren. Zur systemischen Selbstkritik selten in der Lage macht sie den Rechtsruck – dem sie nichts entgegenhalten kann –, Kriege und Pandemien für ihren langsamen Tod verantwortlich. Weshalb es an der Zeit ist, die Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus herauszuarbeiten und damit die gegenwärtige endzeitliche Hegemonie zu stören.
Ihr wesentliches Versprechen der Wahlfreiheit konterkarierte die liberale Demokratie damit, wie Mark Fisher es beschrieb, eine Alternativlosigkeit zu sich selbst und damit einen „kapitalistischen Realismus“ zu erzeugen. Politisches und wirtschaftliches Handeln wurden fortan durch einen Notstandspragmatismus gerechtfertigt. Der Liberalismus wurde so zu einer Art Theodizee, einer heiligen Apodiktik, in der sich das Handeln nicht zu rechtfertigen braucht, weil es pragmatisch und alternativlos ist: Warum ist es so und nicht anders? Weil es anders nicht ökonomisch sei, angeblich. Und so fragen Krastev und Holmes, wie es dazu kommen konnte, dass „der Liberalismus zugunsten der Hegemonie den Pluralismus aufgegeben hat“2 – sein ureigenstes Merkmal, die Multiperspektivität. Angesichts des überall drohenden Faschismus verfallen die Liberalen in Schockstarre. Können sie angesichts all dieser existenziellen, katastrophalen Probleme die Schuld auf andere schieben, wo sie doch in den letzten 30 Jahren die Hegemonie bestimmt haben? Ist es nicht so, wie Obamas Freund und enger Berater Ben Rhodes in seiner Biografie fragt: „Was, wenn wir uns geirrt haben?“3 Muss diese Frage nicht entschieden bejaht werden, wenn man bedenkt, dass die liberalen Marktdemokratien nicht in der Lage zu sein scheinen, Katastrophen und Probleme wie Klimawandel, Terrorismus, Bevölkerungsrückgang, Rezession, Infektionen, Ungleichheit und die Bedrohung durch den Faschismus zu bewältigen?
Das grundlegendste Anliegen der (liberalen) Demokratie, die Verteilung von Macht, ist in seiner Konzeption gescheitert, weil darauf verzichtet wurde, Kapital als politische Macht anzuerkennen. Stattdessen wurde Vermögen in ungeregeltem Ausmaß in Kauf genommen. Die Folge war eine Fetischisierung des Privateigentums. Es entstand eine objektschutzorientierte Iteration der Demokratie, die das Eigentum und damit das Besitzbürgertum in den Mittelpunkt stellte – wohl wissend, dass Eigentum in hohen Dosen entsolidarisierend wirkt und in letzter Konsequenz zu einer der gefährlichsten und am stärksten spaltenden Gesellschaftspathologien der Gegenwart geworden ist.
In dieser Marktgesellschaft ist die rechtliche Gleichstellung an sich schon eine heikle Sache. Die Tatsache, dass Arme und Reiche, Schwarze und Weiße, Arbeitgebende und Arbeitnehmende vor dem Gesetz gleich sind, ist eine große Errungenschaft – aber sie verdeckt auch die sozialen Spaltungen, die der Kapitalismus strukturell hervorbringt. Wie kann es sein, dass Ungleichheit vor dem Gesetz als verwerflich gilt, die Ungleichheit der Kapitalverhältnisse aber in der Natur jeder authentischen Gesellschaftsordnung liegen soll? Politische Gleichheit setzt ökonomische Gleichheit voraus.
Im Spätkapitalismus hat sich das Bild eines naturähnlichen Marktes herausgebildet, der wie eine Art lebenserhaltendes Feuchtgebiet unter Schutz gestellt werden muss – als bedeute die Bedrohung schillernder „Investorenarten“ auch die Zerstörung der von ihnen abhängiger Gesellschaften. In der Praxis bestimmte der Schutz von Investor*innen, Märkten und Banken fortan, dass der Mensch mit seinen lebenserhaltenden Sozialsystemen zurückstecken musste. Die spätkapitalistischen Staaten begannen zwar, private Unternehmen strukturell zu imitieren, aber die verheerendsten Folgen der neoliberalen Ideologie wurden durch die parlamentarische Demokratie abgefedert. Sozialpolitik und begrenzte Umverteilung garantierten einen Arbeitsmarkt und damit einen stabilen Konsum. Die Interessen des Kapitals waren gesichert, und das Projekt der Sozialdemokratie schien vollendet, weshalb diese sich ab den 1980er-Jahren ideologisch und in der Folge auch strukturell aufzulösen begann.
Heute scheinen wir vor der Frage zu stehen, ob die Rettung des Planeten eine lohnende Investition ist. Wollen wir uns das leisten? Vielleicht leben wir bereits im Dieselpunk-Genre, wo fahrbare oder flugtaugliche Monster durch die Wüsten menschengemachter Klimakatastrophen ziehen.
Die fatale Liaison zwischen der liberaldemokratischen Nomenklatura und den gegenwärtigen Dieselpunk-Petrokrat*innen, bei der Erstere Geschäftsbeziehungen zu Letzteren auf Kosten der Zukunft des gesamten Planeten unterhalten, ist nicht nur ein moralisches Versagen. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, angesichts der Klimakrise eine Lösung für eine lebenswerte Zukunft zu finden, liegt in ihm selbst begründet. Denn die einzige Funktion dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung besteht darin, aus Kapital noch mehr Kapital zu schöpfen.
Bemerkenswert ist, dass trotz der überwältigenden Akzeptanz der Demokratie als Prinzip ihre Institutionen laut einer US-Gallup-Studie zunehmend unbeliebter werden. Das zeigt sich bei Finanzämtern, der Polizei, Gefängnissen, ja sogar bei öffentlichen Schulen und Krankenhäusern – alles Einrichtungen, die man lieber meidet.
Massenmedien neigen gegenwärtig zu Kosteneinsparungen, Sensationslust, tendenziösen Inhalten und gesponserter politischer Manipulation. Dieses Profitmotiv in den Medien korrumpiert liberale Demokratien, macht sie kaputt. Praktisch alle Marktdemokratien relativieren ihr konstitutionelles Potenzial durch die Machtkonzentration von Konzernen und proprietären Medien. Der demokratieskeptische Teil der Bevölkerung lebt deshalb unter anderem in Facebook- oder Telegram-Gruppen wie in digitalen Rebellenlagern. Er ist getrieben von der Angst, in einer horizontlosen, globalen Landschaft unterzugehen, in der die Kräfte, die den Bewegungsraum dieser Menschen definieren, unausgesprochen bleiben. Das Ziel von Corporate Media ist es, deren Ängste am Köcheln zu halten. Sie gestalten Gesellschaft als hochtoxischen, asozialen Raum.
Der spätkapitalistische Staat versucht, mit der „Versicherheitlichung“ des öffentlichen Raumes die Wiederkehr seiner Handlungsmacht zu performen. De facto ist der Zuwachs an Repression jedoch ein Zeichen für den Verlust von Souveränität aufgrund der neoliberalen Verdrängung demokratischer Prinzipien, wie Wendy Brown argumentiert.4 Der Staat verhält sich durch Überwachung, Racial-Profiling, Grenzschutz etc. zunehmend illiberal. In letzter Konsequenz befinden wir uns hier in den Startlöchern einer Cyberpunk-Apokalypse, innerhalb derer Konzerne die Sicherheitsagenden des Staates zur Herstellung einer autoritären Technokratie übernommen haben. Der Politik bleibt in diesem Endzeitgenre nur die Performance von gewaltvoller Stärke, zum Beispiel gegen „Schreckgespenster“ wie Asylwerbende. Diese realpolitische Choreografie verstellt jedoch eine grundlegende Leere, „[they] are ruling the void“5 (Peter Mair). Die einzige Ideologie, die in dieser „Hyperpolitik“ eine unhinterfragte Konstante ist, ist der kapitalistische Rahmen, der sie hervorruft. Mit „Hyperpolitik“ benennt Anton Jäger das Lostreten polarisierender Pseudoereignisse6 – oft in Form von Kulturkämpfen. Diese sind der geistige Endbahnhof der Linken, und sie treten an die Stelle von systemischen Fragen, die relevante ökonomische Veränderungen für Mehrheitsgesellschaften mit sich brächten. Die leeren Signifikanten des Kulturkampfs hungern die Menschen aus, und so stürzen diese sich verzweifelt in Bekenntnispanik auf Themen wie den Nahostkonflikt, wo endlich wieder große Fragen im Raum zu stehen scheinen. Doch auch hier geht der Schuss nach hinten los, da innerhalb der Medien und in Academia die urliberale Multiperspektivität durch plötzliche Zensur demoliert wird. Die liberale Demokratie verkommt in ihrer hyperpolitischen Ausformung zu einem Sprachspiel, und deshalb sollte es nicht verwunderlich sein, wenn rechte Abrisskommandos Pseudoprobleme wie den „Genderwahn“ herbeifiebern, um zu spalten. Im Kulturkampf gibt es nichts zu gewinnen für Linke und für Liberale, denn er ist der Vorhof der Demagogie. Als Werkzeug der Spaltung und Entsolidarisierung verweist der Begriff selbst, wenn man ihn anders zusammensetzt, auf Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations) und ist damit einer der elementarsten rechten Navigationskarten der letzten drei Jahrzehnte.
Die liberale Demokratie und ihre kapitalistische Corsage definieren den Handlungsspielraum der Politik in der Praxis: ihre Wahl- und Medienspektakel, die unhaltbaren Versprechen, das strategische Wording und die hyperreale Sprache, die Inszenierung von Antagonismen, die Sündenböcke. Alles andere ist eine Leerstelle. Beispielhaft hierfür ist Obamas „Yes we can!“-Slogan, der in seiner Undefiniertheit kaum zu übertreffen ist. Der Slogan sollte nie eine spezifische Botschaft vermitteln, sondern vielmehr ein Gefühl von emotionalem Engagement und kollektivem Handeln hervorrufen. Diese Kampagne, ein integraler Bestandteil seines Wahlkampfs, wurde später signifikanterweise mit einem Preis für die beste Marketingkampagne des Jahres ausgezeichnet.
Auch Trump kann sich so den ausgehöhlten Demokratiebegriff aneignen, um seine Wähler*innen in Richtung Kapitol zu schicken, damit sie ebenjene Demokratie zu retten glauben, die er zerstört. Die Grundlagen unseres politischen Konsenses vaporisieren sich nun im – wie Jason Moore unsere Ära benennt – späten Capitalocene. Das gruselige Gespenst der liberal-kapitalistischen Hegemonie – die unsichtbare Hand, die unsere Gesellschaft bisher fest im Griff hatte – wurde von einer Politik der gebundenen Hände abgelöst. Dieser Umbruch macht ein Nachdenken über die liberale Demokratie erst möglich. Es ist eine Herausforderung, sich eine Wirtschaft vorzustellen, die dem Gemeinwohl dient. Wer schafft es, eine Welt durchzudeklinieren, in der ein erfülltes Leben nicht vom materiellen Wohlstand oder dem Geburtsort abhängt? Das Problem der Demokratie sind nicht ihre Prinzipien. Das Problem ist, dass sie nie vollständig verwirklicht wurde, weil die Demokratie nicht mit dem Kapitalismus vereinbar ist. Sie zerreibt sich zwischen der besitzenden Klasse und der Besitzlosen, muss deshalb an vielen Stellen autoritär und ungerecht handeln. Das Mühlenwasser der liberalen Demokratie hat nicht alle Boote gehoben. Die Einsparungen des Sozialstaats an seinen lebenserhaltenden Organen haben dazu geführt, dass zu wenig Sauerstoff bei denen angekommen ist, die sich wie wir, aber auch wie der rechtskonservative antidemokratische Narrensaum, an ihr reiben, anstatt sich mit ihr zu identifizieren. Wie Karl Marx bemerkte: „Es muss doch etwas faul sein im Innersten eines Gesellschaftssystems, das seinen Reichtum vermehrt, ohne sein Elend zu verringern“7. Wir können uns dafür entscheiden, in dieser Illusion zu verharren und die Grundlagen der Demokratie weiter auszuhöhlen, bis wir die ultimative Konsequenz des Kapitalismus erreicht haben, den Klimakollaps, die Tyrannei der Besitzenden wie auch – davon ist auszugehen – den Faschismus. Oder wir kämpfen dafür, den Kapitalismus zu überwinden und eine radikale Demokratie durch die Demokratisierung der materiellen Sphäre und der Arbeit anzustreben.
Am Ende fehlen uns die Bilder, um uns hoffnungsvollen Zukunftsvorstellungen hinzugeben. Innerhalb der Popkultur ist das Genre Solarpunk eines der wenigen, das eine Utopie erzählerisch und visuell greifbar macht. Wie eingangs erwähnt, ist es dem Massenmedium Videospiel trotz gleichnamiger Titel noch nicht möglich, eine spielbare bessere Welt ohne Kapitalismus zu formulieren. Janice Bailey vom Fonds de Recherche du Québec-Nature hat die Aufgabe des Filmes und des Videospiels klar definiert: Ersterer soll Probleme ansprechen und Zweiteres die Rolle einer Utopiemühle einnehmen.8 Wenn die Massenmedien Solarpunk und andere Utopien als Bezugspunkt für eine weniger gewaltvolle und ausbeuterische Gesellschaft etablieren, ist das ein wichtiger Schritt, um Druck aufzubauen und endlich in eine utopische Richtung steuern zu können.

Dieser Text entstand aus den stark editierten Fragmenten der Recherche für das Skript von Total Refusals zukünftigem Film Money is a Form of Speech zu Demokratie und Kapitalismus.

 

 

[1] Vgl. Ivan Krastev/Stephen Holmes, Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Berlin 2019, S. 11ff.
[2] Ebd., S. 15.
[3] Ebd., S. 10.
[4] Vgl. Wendy Brown, Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution. Princeton 2015.
[5] Vgl. Peter Mair, Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy. New York/London 2013.
[6] Vgl. Anton Jäger, Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen. Berlin 2023.
[7] Karl Marx, Bevölkerung, Verbrechen und Pauperismus. London 1859; http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_490.htm.
[8] Vgl. Charles-Adam Foster-Simard, When Science Meets Video Games, The Tenth Art Podcast, 1. Dezember 2022; https://www.youtube.com/watch?v=HDjN0fb4BmI.