Heft 3/2024 - Verwicklungen
Nathan Thrall, der ehemalige Direktor des Arab-Israeli Project bei der International Crisis Group, ist der Autor von The Only Language They Understand: Forcing Compromise in Israel and Palestine (2017). Geboren in Kalifornien, lebt und arbeitet er heute in Jerusalem. Sein jüngstes Buch Ein Tag im Leben von Abed Salama: Die Geschichte einer Jerusalemer Tragödie (dt. im Pendragon Verlag 2024) wurde mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet.
Robert Mackey: Wir wollen über Israel-Palästina sprechen und die Herausforderungen bzw. Möglichkeiten für eine friedliche Koexistenz auch an Orten, wo das derzeit unmöglich zu sein scheint. Mich interessiert, wie Sie diese Möglichkeiten aus heutiger Sicht einschätzen und was geschehen muss, um am Ende doch etwas zu erreichen.
Nathan Thrall: Ich fürchte, das wird ein pessimistisches Gespräch, denn ich sehe weit und breit keine echte Aussicht auf Frieden. Ein wesentlicher Teil des Problems besteht darin, dass die internationale Gemeinschaft lange bereit war, das Ausbleiben von schwerer Gewalt – in Form eines Krieges in Gaza zum Beispiel – zwar nicht unbedingt als Frieden, aber zumindest als eine Form von Stabilität zu betrachten und so den Konflikt im Grunde genommen zu ignorieren und das herrschende System, ob mit oder ohne Krieg, weiterhin zu stützen.
Es ist durchaus möglich, dass der aktuelle Krieg zu Ende geht und eine Rückkehr zu jener schleichenden, mehr oder minder alltäglichen Gewalt erfolgt, die nötig ist, wenn man Millionen von Menschen ihrer grundlegenden Bürgerrechte beraubt. Das geht nur unter extremer Zwangsausübung, und sie äußert sich in Form von Massenverhaftungen, Razzien und Gewalt gegen alle, die es wagen, sich der systematischen Kontrolle zu widersetzen. Wir sollten uns also überlegen, worüber wir eigentlich sprechen. Reden wir über das Ende des Krieges in Gaza und die Rückkehr zu dem System, wie es davor herrschte? Oder sprechen wir über ein Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts?
Mackey: Ich denke, wir sollten versuchen, längerfristige Perspektiven zu entwerfen – auch wenn das aus momentaner Sicht sehr schwierig ist. Oder sind wir an einem Punkt angelangt, wo nicht einmal das mehr möglich scheint?
Thrall: Noch einmal: Ich glaube nicht, dass sich irgendwo am Horizont ein israelisch-palästinensischer Frieden abzeichnet. Der Grund dafür ist die extrem ungleiche Verteilung der Macht zwischen den beiden Parteien. Die eine verfügt über alle militärische Stärke der Welt, sie kontrolliert das Leben der anderen Partei, sie kontrolliert die Grenzen, die Bewegungsfreiheit, etc. Hingegen sind die Möglichkeiten der schwächeren Partei, Druck auszuüben, die eigene Freiheit einzufordern und sich auf einen Frieden zu einigen, der damit einherginge, äußerst gering.
Wenn man sich die jahrzehntelangen Verhandlungen aus dem Blickwinkel der mächtigeren Partei ansieht, zeigt sich, dass ihr grundsätzlich drei Optionen offenstanden. Eine lautete, den Palästinenser*innen einen eigenen Staat zu geben, ihnen also innerhalb der von der palästinensischen Nationalbewegung geforderten 22 Prozent ihres Heimatlands Souveränität einzuräumen. Die zweite Option wäre die gewesen, den Palästinenser*innen die Staatsbürgerschaft und gleiche Rechte zu gewähren. Und die dritte bestand in der Fortsetzung dessen, was Status quo genannt wird, sich also für keine dieser Möglichkeiten zu entscheiden und stattdessen die seit über einem halben Jahrhundert währende Kontrolle über das Leben der Palästinenser*innen als temporär zu bezeichnen; die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten auszuweiten; und die Palästinenser*innen in immer kleineren Gebieten in die Enge zu treiben.
Betrachtet man diese drei Optionen auf kühle und rationale Weise aus der Perspektive Israels, dann werden die ersten beiden als viel kostspieliger eingeschätzt als die dritte Option. Die überwiegende Mehrheit der Israelis will nicht, dass den Palästinenser*innen gleiche Rechte gewährt werden und sie die Staatsbürgerschaft erhalten, weil das das Ende des jüdischen Mehrheitsstaats bedeuten würde und im Widerspruch zur treibenden Kraft der zionistischen Bewegung und zum Grundgedanken für die Existenz Israels stünde.
Die erste Option, den Palästinenser*innen innerhalb von 22 Prozent ihres Heimatlands Souveränität einzuräumen, wird als extrem kostspielig angesehen, weil dann Hunderttausende Siedler*innen zwangsevakuiert werden müssten. Unter den Jüd*innen in Israel würde das wahrscheinlich enorme politische Konflikte auslösen, einschließlich möglicher gewalttätiger Auseinandersetzungen. Außerdem würde das als Schwächung der Sicherheit Israels aufgefasst, da die derzeit über das Gebiet ausgeübte, per definitionem volle Kontrolle geringer werden würde, gäbe es einen palästinensischen Staat. Es hieße außerdem, diese konkrete Möglichkeit – die Kontrolle über die Menschen und das Land, auf dem sie sich aufhalten – gegen etwas Unkonkretes aufzugeben, nämlich die Aussicht auf Frieden.
In diesem sehr ungleichen Austausch zwischen zwei Parteien mit höchst unterschiedlichen Möglichkeiten der Macht- und Druckausübung zeichnet sich demnach klar ab, dass die Aufrechterhaltung des Status quo für Israel die weit weniger kostspielige Option darstellt. Solange sich diese Gleichung nicht ändert, werden wir keinen israelisch-palästinensischen Frieden erleben. Der Status quo müsste für Israel viel aufwendiger werden, und zwar dermaßen, dass eine der beiden anderen Optionen zum geringeren Übel würde – aus Gründen wie: „Wir stehen international als Paria da und sind mit Sanktionen belegt, wir nehmen nicht an den Olympischen Spielen teil, das Assoziierungsabkommen mit der EU wurde aufgekündigt, und die USA haben die Waffenlieferungen gestoppt.“ In diesem Szenario, das im Moment vollkommen abstrus klingt, wäre es vorstellbar, dass sich Israel rational um einen langfristigen Frieden bemüht, der den Palästinenser*innen entweder Souveränität gewährt oder die Staatsbürgerschaft einräumt.
Mackey: Im Grunde genommen rechnen Sie also mit keiner Veränderung, die aus der israelischen Gesellschaft heraus entsteht. Muss sie Israel durch internationalen Druck aufgezwungen werden?
Thrall: Ich denke, dass der von mir beschriebene Mechanismus letztendlich von innerhalb der israelischen Gesellschaft ausgehen würde. Etwa in der Hinsicht, dass gewöhnliche Israelis die Zeichen der Zeit erkennen und sich sagen: „Ich finde es nicht gut, dass es für mich so schwer geworden ist, ganz normal zu investieren. Ich mag es nicht, dass ich ein Visum beantragen muss, um nach Europa zu reisen. Mir gefällt es nicht, dass dieses Land zusehends isoliert dasteht und immer weniger zu bieten hat, und dass die internationalen Konzerne, die bisher für Arbeitsplätze gesorgt haben, hier keine Geschäfte mehr machen wollen.“
Damit ginge natürlich eine Flucht vieler israelischer Eliten in andere Länder einher, was einen Prozess beschleunigen würde, den wir bereits beobachten können, nämlich dass das Land noch mehr zu einem Land der Religiösen und der Rechten würde. Auch hier bedingen sich die Prozesse gegenseitig, und es hätte auch Auswirkungen auf das Image Israels in der Welt, wenn alle sich plötzlich denken: „Im Grunde ist das ein jüdischer Iran – warum machen wir mit ihm Geschäfte?“
Ich denke also sehr wohl, dass eine solcherart sich abzeichnende Zukunft bei vielen Israelis eine ganz natürliche Reaktion auslösen wird. Sie werden diese Realität verändern wollen, um für eine bessere Zukunft für sich selbst und ihre Kinder zu sorgen. Der Preis dafür wäre zu akzeptieren, was die internationale Gemeinschaft und die Palästinenser*innen seit Jahrzehnten fordern; das wäre nicht nur vernünftig, sondern für Israel auch noch ein „Schnäppchen“ – dass die Menschen, deren Vorfahren dort lebten und in Palästina zu Beginn der zionistischen Besiedelung über 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten, anerkennen, dass 78 Prozent ihrer Heimat der Staat Israel sein wird und sie lediglich 22 Prozent – noch dazu unzusammenhängende 22 Prozent – erhalten und normale Beziehungen mit dem Staat akzeptieren, der 78 Prozent ihrer Heimat übernommen hat.
Mackey: Finden Sie es als jemand, der in Jerusalem lebt, nicht erschreckend, dass es in Europa so vielen Menschen schwerfällt, diese Gegebenheiten zu verstehen? Ich frage deshalb, weil es den Anschein hat, als herrsche in Europa und in den USA weitgehend Ignoranz, was die tatsächliche Lage vor Ort betrifft. Insofern ist Ihr Bildungsauftrag äußerst wichtig, aber wenn die Leute nicht zuhören …
Thrall: Ich bin absolut der Meinung, dass im Westen ein Umdenken stattfinden muss, ehe es möglich sein wird, zu den Schritten überzugehen, die ich eben beschrieben habe. In der globalen öffentlichen Meinung erleben wir diese Veränderung gerade. Das hat in erster Linie mit dem enormen Blutzoll in Gaza zu tun. Es ist aber ein sehr langsamer Prozess, der vor allem von jungen Menschen ausgeht. Bis wir die Auswirkungen auf politischer Ebene erleben, dürften aber noch ein paar Jahrzehnte vergehen – bis die Jungen, deren Ansichten von den jetzigen Ereignissen geprägt werden, an der Macht sind.
Daher, ja, ich bin überzeugt davon, dass die Unterstützung für dieses Unterdrückungssystem großenteils der Ignoranz geschuldet ist und der erfolgreichen israelischen Vermarktung aller möglichen Unwahrheiten – wie jener, dass „die Besatzung temporär ist“. Sie hält nun bereits ein halbes Jahrhundert an. Oder: „Die besetzten Gebiete unterliegen einem eigenen Regime, deshalb können wir Israel weiterhin als einen demokratischen Staat ansehen und die Kontrolle über die besetzten Gebiete, die etwas ganz anderes ist, getrennt davon betrachten.“ Die Realität sieht jedoch so aus, dass heute eine*r von zehn israelischen Jüd*innen in den besetzten Gebieten lebt. Bei den Wahlen wählen die Siedler*innen auch nicht per Briefwahl. Der Verkehr von den Siedlungen in die Städte innerhalb Israels verläuft nahtlos. Es handelt sich um vollständig suburbanisierte Gemeinden, die sich durch nichts von den Vorstädten jenseits der grünen Linie unterscheiden.
Es hat also bereits eine Art De-facto-Annexion stattgefunden. Damit aber die ganze Welt Israel weiterhin als Demokratie ansieht, muss dieses Konstrukt aufrechterhalten werden, dass es sehr wohl eine Trennung gibt: eine chinesische Mauer zwischen Israel und seinen Grenzen vor 1967 und den Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Mackey: Meine Familie stammt aus Nordirland. Bei den Friedensverhandlungen von Oslo wurde viel darüber geredet, wie die Vertreter aus Südafrika, Nordirland und Israel-Palästina ihre Erfahrungen austauschten. Allerdings vermute ich, dass zwischen dem von Nordirland erzielten und dem von Israel-Palästina eben nicht erzielten Friedensvertrag ein großer struktureller Unterschied besteht und dass das mit der Rolle der USA zu tun hat bzw. damit, dass die USA die Lage in Nordirland nicht länger zu tolerieren bereit waren. Bezüglich einer Veränderung in Israel-Palästina bemerken wir jedoch keinen nachhaltigen Druck seitens der USA, oder? Finden Sie, dass die Rolle der USA hier wirklich zentral ist oder spielt nicht auch die EU eine wichtige Rolle?
Thrall: Meiner Meinung nach muss die EU neben den USA unbedingt eine zentrale Rolle einnehmen. Was Israel-Palästina betrifft, verweist die EU jedoch stets auf die USA. Das ist seit Jahrzehnten so, weshalb es auch wesentlich ist, dass es in den USA zu einer Veränderung kommt. Die USA versagen ja nicht nur darin, die Dinge positiv zu verändern, sie unterstützen das Unterdrückungssystem auch noch aktiv. Jede im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution, die die israelischen Siedlungen verurteilt oder eine Rechenschaftspflicht Israels bezüglich der Verstöße gegen internationales Recht verlangt, wird mit ihrem Veto verhindert. Für die amerikanischen UN-Botschafter, die diese Stimmen abgeben, ist das unangenehm, denn sie verstoßen damit gegen ihre eigenen politischen Grundsätze. Die USA behaupten, gegen die Siedlungen zu sein, trotzdem schützen sie sie und finanzieren die israelische Regierung und Armee, die einen Großteil ihrer Aufwendungen für den Ausbau der Siedlungen ausgibt.
Mackey: In einem seiner letzten Interviews spricht der Historiker Tony Judt 2010 darüber, wie sich Deutschland stets weigerte, Kritik an Israel zu üben oder irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen.1 Er führt das auf den Holocaust zurück und die Bedeutung, die er im Denken und in der historischen Erinnerung und Verantwortung der Deutschen einnimmt. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass sich Deutschland oder die EU in Richtung einer aktiven Intervention bewegen könnte, um Druck auf Israel auszuüben? Oder scheint das zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig unmöglich?
Thrall: In nächster Zeit ist das sicherlich undenkbar, insbesondere was Deutschland betrifft. Was wir aber sehr wohl sehen, sind erste Schritte in Richtung einer Rechenschaftspflicht. Es gibt auch Anzeichen eines Umdenkens, was die uneingeschränkte Unterstützung oder das EU-Assoziierungsabkommen mit Israel betrifft. Damit geriete Israel enorm unter Druck. Die EU ist der wichtigste Handelspartner Israels. In Ländern wie Spanien und Irland zeichnen sich diesbezüglich erste Veränderungen ab, wir sind aber immer noch sehr weit davon entfernt, dass Israel ernsthaft mit der Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens gedroht wird.
Mackey: Interessant ist, dass der Ultranationalismus in Israel just in dem Moment im Aufstieg begriffen ist, da sich Europa, wo die Idee des Nationalismus erstmals aufkam, immer mehr zu einer ethnisch gemischteren und integrierten Gesellschaft entwickelt – mit ganz offenkundigen Problemen, aber nichtsdestotrotz. Was ich hingegen immer schon seltsam fand, ist, dass die USA mit ihrer ausgeprägten multikulturellen Gesellschaft etwas unterstützen, das so eindeutig die Segregation verkörpert.
Thrall: Das ist auch schwer zu verstehen. Es ist aber auch mit ein Grund für meine möglicherweise naive Hoffnung, dass sich durch Bildung die US-Politik vielleicht doch verändern lässt. Ich habe bei offiziellen US-Besuchen in Israel-Palästina selbst erlebt, wie die meisten Kongressmitglieder und ihre Mitarbeiterstäbe die Lage in der West Bank bereits nach wenigen Stunden spontan mit der Apartheid und Jim Crow vergleichen. Für sie ist das offensichtlich, und niemand muss es ihnen einbläuen. Und sie sind entsetzt über das, was sie sehen. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass das Problem tatsächlich in erster Linie mangelndes Verständnis bzw. Bewusstsein ist.
Mackey: Stimmt es, dass es seit dem Bau der Trennmauer in der West Bank und dem Abzug der Siedler*innen aus Gaza, also in den letzten 20 Jahren, zu immer weniger Begegnungen zwischen gewöhnlichen Israelis und Palästinenser*innen kommt?
Thrall: Ich würde den Zeitpunkt noch früher ansetzen, also schon vor dem Bau der Trennmauer. Das fing in Wirklichkeit mit dem Oslo-Prozess an und der Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde, was dazu führte, dass nicht nur die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen enorm eingeschränkt wurde, sondern auch die Zahl der in Israel beschäftigten Palästinenser*innen. Sie ging mit Oslo drastisch zurück. Zugleich importierte Israel eine große Anzahl ausländischer Arbeitskräfte, damit sie die bis dahin von Palästinenser*innen verrichteten Jobs übernahmen. Zum Teil entsprach das einer von Israel ganz bewusst betriebenen Politik als Antwort auf die erste Intifada.
Zwischen 1967 und 1987 verlief die israelische Besatzung relativ ruhig. Manchmal kam es zu Ausgangssperren, aber tagsüber konnten sich die Palästinenser*innen in den unter israelischer Kontrolle stehenden Gebieten frei bewegen. Sie arbeiteten in Israel und leisteten viele der unqualifizierten bzw. gering qualifizierten Arbeiten. Als dann die erste Intifada ausbrach, bestand eines der wichtigsten Druckmittel der Palästinenser*innen darin zu streiken. Mit ihren Streiks und Boykotten fügten sie der israelischen Wirtschaft unglaublichen Schaden zu, weshalb Israel beschloss, sich eine solche Schwäche nicht noch einmal zu erlauben.
Teilweise bestand die Lösung des Problems der ersten Intifada darin, eine palästinensische Autonomie zu schaffen, damit israelische Soldat*innen die Stadtzentren von Gaza und in der West Bank nicht mehr selbst besetzen mussten, sondern einen Stellvertreter damit beauftragen konnten. Außerdem wurde mit der Errichtung von Zäunen und Mauern begonnen, um die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen einzuschränken. Und drittens schützte sich Israel vor künftigem zivilen Ungehorsam und gewaltfreiem Widerstand, indem es die palästinensischen Arbeitskräfte durch ausländische ersetzte.
Mackey: Es hat viele Menschen überrascht, dass sich unter den am 7. Oktober aus Israel nach Gaza verschleppten Geiseln so viele ausländische Arbeitskräfte befanden.
Thrall: Aus Thailand, ja.
Mackey: Sie haben vor Kurzem geschrieben, dass das Schicksal der Palästinenser*innen ähnlich verlaufen könnte wie jenes der Urbevölkerung Amerikas.2 Ist das Ihrer Ansicht nach inzwischen wahrscheinlicher geworden als eine friedliche Lösung?
Thrall: Auf jeden Fall. Ich denke, das ist der Kurs, auf dem wir uns befinden. Wir können eine Kurve zeichnen, deren eine Achse die israelische Expansion darstellt und die andere die Zeit. Und mit der israelischen Expansion findet natürlich gleichzeitig ein Schwund der palästinensischen Bevölkerung statt. Die Übernahme von immer mehr Land durch Israel und die Verdrängung der Palästinenser*innen in immer kleinere Reservate ist ein linearer Prozess; sobald jedoch ein großer Krieg stattfindet, kommt es zu massiven Vertreibungen. 1948 waren es 700.000; 1967 über 200.000; und gegenwärtig beläuft sich die Zahl der in Gaza Vertriebenen auf über eine Million. Aber dieser Krieg ist noch nicht vorbei. Und wenn sich die Möglichkeit böte, würde Israel womöglich sogar versuchen, die Bewohner*innen von Gaza aus Gaza hinauszudrängen.
Das ist ein Prozess, der stetig voranschreitet, und wenn er sich fortsetzt, wird das Schicksal der Palästinenser*innen tatsächlich dem der amerikanischen Urbevölkerung gleichen. Ich sehe weit und breit nichts, das in der Lage wäre, ihn aufzuhalten – mit Ausnahme kleiner Hoffnungsschimmer, wie wir sie bei jungen Aktivist*innen beobachten, und der ersten zaghaften Schritte in Richtung einer Rechenschaftspflicht. Die USA haben erste Sanktionen gegen gewalttätige Siedler*innen verhängt. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hat Haftbefehle gegen Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Gallant angekündigt. Der Internationale Gerichtshof (ICJ) hat ein Rechtsgutachten veröffentlicht, das die UN-Mitgliedsstaaten aufruft, Israel zur Rechenschaft zu ziehen. All das sind Schritte, die das Potenzial haben, den gegenwärtigen Prozess zu stoppen. Es ist nur so, dass wir es hier mit unterschiedlichen Zeitachsen zu tun haben: Die Maßnahmen hin zu einer Rechenschaftspflicht bewegen sich im Schneckentempo voran, die israelische Expansion hingegen sehr rasch.
Übersetzt von Jacqueline Csuss
[1] Tony Judt/Kristina Božič, The Way Things Are and How They Might Be, London Review of Books, 25. März 2010; https://www.lrb.co.uk/the-paper/v32/n06/tony-judt/the-way-things-are-and-how-they-might-be.
[2] Tim Adams, Interview with Nathan Thrall: „The scale and brutality of the Israeli response in Gaza hasn’t surprised me, no“, The Guardian, 4. August, 2024; https://www.theguardian.com/books/article/2024/aug/04/nathan-thrall-a-day-in-the-life-of-abed-salama-gaza-palestine.