Heft 3/2024 - Verwicklungen
Die in Israel geborene Filmemacherin, Kuratorin und Wissenschaftlerin Ariella Aïsha Azoulay lehnt ihre israelische Identität ab. Vor ihrer Einbürgerung mit 19 war ihre Mutter schlichtweg eine palästinensische Jüdin. Diese Wortkombination war, historisch gesehen, über einen langen Zeitraum nichts Ungewöhnliches. In Palästina lebten die jüdische Minderheit und die muslimische Mehrheit jahrhundertelang friedlich zusammen.
Mit dem Aufkommen der zionistischen Bewegung und der Staatsgründung Israels sollte sich das ändern. Aufgrund von europäischen Zionist*innen betraf die von Jüd*innen aus Europa betriebene ethnische Säuberung nicht nur muslimische Menschen in Palästina, sondern auch viele Jüd*innen im übrigen Nahen Osten. Der Palästinakrieg von 1948 zwang nahezu eine Million Menschen zur Flucht, viele von ihnen nach Israel.
Im Interview setzt Azoulay den israelischen Kriegszug in Gaza in einen Kontext mit der langen Geschichte des europäischen und US-amerikanischen Imperialismus. Azoulay ist Professorin für vergleichende Literaturwissenschaften an der Brown University und Autorin von Potential History: Unlearning Imperialism (2019)1.
Linda Xheza: Sie verstehen sich selbst als palästinensische Jüdin. Können Sie das genauer erklären? Für viele stellen diese beiden Worte an sich schon einen Gegensatz dar.
Ariella Aïsha Azoulay: Dass diese Begriffe als sich gegenseitig ausschließend bzw. als gegensätzlich wahrgenommen werden, wie Sie sagen, ist symptomatisch für 200 Jahre der Gewalt. Über eine Spanne von wenigen Generationen wurden diverse Jüd*innen auf der ganzen Welt ihrer unterschiedlichen Verbindungen zu Ländern, Sprachen, Gemeinschaften, Beschäftigungen und Teilhabemöglichkeiten beraubt.
Die Frage, die uns beschäftigen sollte, lautet nicht, wie die angebliche Unmöglichkeit einer palästinensisch-jüdischen Identität zu verstehen ist, sondern im Gegenteil: Wie kann es sein, dass 1948, nach der Gründung des Staates Israels, eine fabrizierte, allgemein als israelisch bekannte Identität von so vielen als normale Identität angesehen wurde? Schließlich verschleiert diese Identität nicht nur die Geschichte von und Erinnerung an diverse Gemeinschaften und Formen jüdischen Lebens, sie verschleiert darüber hinaus die Geschichte und die Erinnerung an das, was Europa den europäischen Jüd*innen angetan hat, und, im Rahmen seiner kolonialen Projekte, auch denen Afrikas und Asiens.
Israel teilt das Interesse der imperialen Mächte an der Verschleierung der Tatsache, dass „der Staat Israel nicht für die Rettung der Juden gegründet wurde; er wurde für die Rettung westlicher Interessen gegründet“, wie James Baldwin 1979 in seinem Text „Open Letter to the Born Again“ schrieb. Darin vergleicht Baldwin die Konsequenzen des euroamerikanischen Kolonialprojekts für die Jüd*innen sehr einleuchtend mit dem des US-Projekts für Schwarze in Liberia: „Die weißen Amerikaner*innen, die verantwortlich dafür waren, dass Schwarze Sklav*innen nach Liberia geschickt wurden (wo sie sich heute noch für die Gummiplantage von Firestone abplagen), taten dies nicht, um sie zu befreien. Sie taten es aus Verachtung, weil sie sie loswerden wollten.“2
Vor der Ausrufung des Staates Israel und seiner unmittelbaren Anerkennung durch die imperialen Mächte war die palästinensisch-jüdische Identität eine von vielen, die in Palästina nebeneinander existierten. Der Begriff „palästinensisch“ war noch nicht rassistisch konnotiert. Meine Vorfahren mütterlicherseits, die im späten 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben worden waren, hatte es nach Palästina verschlagen, bevor die eurozionistische Bewegung dort aktiv wurde und noch bevor die Bewegung allmählich damit begann, die Unterstützung von Jüd*innen gegen antisemitische Angriffe in Europa mit der Realisierung eines nach europäischem Vorbild gestalteten Kolonisationsprojekts unter jüdischer Beteiligung zu verbinden – ein Projekt, das nicht nur als jüdische Befreiung ausgelegt wurde, sondern auch auf einem europäischen Kreuzzug gegen Araber*innen beruhte. Dekolonisation meint auch die Wiederentdeckung der Mehrfachidentitäten, die es in Palästina und andernorts im Osmanischen Reich einmal gegeben hat, insbesondere an Orten, wo jüdische und muslimische Menschen friedlich zusammengelebt haben.
Xheza: In Ihrem jüngsten Film, The World Like a Jewel in the Hand (2022)3, geht es um die Zerstörung der gemeinsamen muslimisch-jüdischen Welt. In den Vordergrund stellen Sie den Aufruf von Jüd*innen, die in den späten 1940er-Jahren die zionistische Kampagne Europas ablehnten und an ihre jüdischen Brüder und Schwestern appellierten, sich gegen die Zerstörung Palästinas zu wehren. Halten Sie es in Anbetracht der jüngsten Vernichtung von Leben, Infrastruktur und Monumenten in Gaza noch für möglich, dass jüdische und muslimische Menschen diese gemeinsame Welt wiederaufleben lassen?
Azoulay: Zunächst zum historischen Teil: Die Zionist*innen haben versucht, diesen Appell der antizionistischen Jüd*innen für immer aus unserem Gedächtnis zu tilgen. Letztere waren Teil einer jüdisch-muslimischen Welt und hatten nicht die Absicht, diese zu verlassen. Sie warnten vor den Gefahren, die der Zionismus für Jüd*innen wie sie in jener Welt darstellte, die sich von Nordafrika bis in den Nahen Osten und Palästina erstreckte.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Zionismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bei Jüd*innen weltweit als marginale und unbedeutende Bewegung galt. Folglich hatten sich unsere Vorfahr*innen dem Zionismus bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal entgegenstellen müssen; sie konnten ihn einfach ignorieren. Erst als europäische Jüd*innen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten – und die vor dem Krieg größtenteils keine Zionist*innen gewesen waren –, danach im Grunde nirgendwohin konnten, ergriffen die euroamerikanischen Imperialmächte die Gelegenheit und unterstützten das zionistische Projekt. Für sie bot das eine machbare Alternative zum Verbleib der Jüd*innen in Europa oder ihrer Auswanderung in die USA. Und sie nutzen die internationalen Institutionen, die sie geschaffen hatten, um die Umsetzung dieser Alternative zu beschleunigen.
So sorgten sie für die Verbreitung der Lüge, es handele sich hierbei um ein jüdisches Befreiungsprojekt, während es in Wirklichkeit die Auslöschung diverser jüdischer Gemeinschaften weit über Europa hinaus fortsetzte. Schlimmer noch, die jüdische Befreiung diente als Freibrief und Grund für die Zerstörung Palästinas. All das hätte man nicht so konsequent betreiben können ohne die wachsende Zahl von Jüd*innen, die nach und nach zu Europas Söldner*innen wurden: Jüd*innen, die auf der Flucht vor dem Holocaust oder als Überlebende des Genozids nach Palästina ausgewandert waren, palästinensische Jüd*innen, die schon vor den Zionist*innen dort gelebt hatten, und ebenjene Jüd*innen, die nach Palästina gelockt worden waren oder kamen, weil sie, seit Israel mit dem klaren Ziel gegründet worden war, ein antimuslimischer, antiarabischer Staat zu sein, keine andere Wahl hatten, als ihre muslimisch-jüdische Welt zu verlassen. Alle waren sie von Europa und den Zionist*innen ermutigt worden, Araber*innen und Muslim*innen als ihre Feind*innen zu betrachten.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Muslim*innen und Araber*innen den Jüd*innen nie per se feindlich gesonnen waren und dass viele Jüd*innen, die in der mehrheitlich muslimischen Welt lebten, selbst Araber*innen waren. Erst mit der Gründung des Staates Israel schlossen sich diese beiden Kategorien – Jüdischsein und Arabischsein – gegenseitig aus.
Die Zerstörung dieser jüdisch-muslimischen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte die Erfindung einer jüdisch-christlichen Tradition, die von dem Moment an Realität wurde, da Jüd*innen nicht länger außerhalb der christlichen westlichen Welt lebten. Das Überleben eines jüdischen Regimes in Israel erforderte mehr Siedler*innen, so dass die Jüd*innen der muslimisch-jüdischen Welt diese gezwungenermaßen verlassen mussten, um Teil dieses Ethnostaats zu werden. Sie wurden von ihrer reichen und diversen Geschichte getrennt und dieser beraubt, was es einfacher machte, sie in der Rolle zu sozialisieren, die Europa ihnen zugedacht hatte – Söldner*innen dieses siedlerkolonialen Regimes zu sein, um die westliche Macht im Nahen Osten wiederherzustellen.
Diesen historischen Kontext zu begreifen, mindert nicht die Verantwortung der zionistischen Täter*innen für die Verbrechen, die sie über Jahrzehnte hinweg an Palästinenser*innen begangen haben. Es erinnert uns vielmehr an die Rolle Europas bei der Zerstörung und Auslöschung jüdischer Gemeinschaften vor allem, aber nicht nur, in Europa, sowie an seine Rolle bei der Übergabe Palästinas an die Zionist*innen, die vermeintlichen Repräsentant*innen der Überlebenden des Genozids, die dann einen westlichen Außenposten für dieselben europäischen Akteur*innen im Nahen Osten bildeten.
Paradoxerweise liegt der einzige Ort der Welt, an dem Jüd*innen und Araber*innen – von denen die meisten muslimischen Glaubens sind – sich denselben Flecken Erde teilen, zwischen Fluss und Meer. Doch ist dieser Ort seit 1948 von genozidaler Gewalt geprägt. Die dringenden Fragen, die sich heute stellen, sind, wie der Genozid und die Lieferung von noch mehr Waffen in dieses Gebiet gestoppt werden können.
In Eichmann in Jerusalem4 beschreibt Hannah Arendt die widersprüchlichen Gefühle jüdischer Holocaust-Überlebender während der Jahre, die sie in Vertriebenenlagern in Europa zubrachten. Einerseits, so Arendt, war das Letzte, was sie sich vorstellen konnten, wieder zusammen mit den Täter*innen zu leben; andererseits war das, was sie sich am meisten wünschten, die Rückkehr in ihre Städte und Dörfer. Es sollte uns also nicht wundern, wenn Palästinenser*innen sich nach dem, was gerade Gaza geschieht, nicht mehr vorstellen können, eine Welt mit den Täter*innen, den Israelis, zu teilen. Aber ist das ein Argument dafür, dass diese Welt, in der sich Araber*innen und zionistische Jüd*innen zusammengefunden haben, ebenfalls zerstört und aus dem Nichts wieder aufgebaut werden sollte? Nur in der politischen Vorstellung des euroamerikanischen Imperialismus konnte eine Tragödie von der Tragweite des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts mit so brutalen Lösungen enden wie Teilung, Bevölkerungstransfer, Ethno-Unabhängigkeit und der Zerstörung von Welten.
Auf globaler Ebene haben wir die Pflicht, etwas einzufordern, was ich als das Recht, kein*e Täter*in zu sein, bezeichne, und dieses auf jede mögliche Art auszuüben. Hafenarbeiter*innen, die sich weigern, Waffen nach Israel zu verschiffen,5 Studierende, die in Hungerstreik treten,6 um ihre Universitäten zur Desinvestition zu zwingen, Jüd*innen, die sich mit ihren Familien und Gemeinschaften überwerfen und ihr ureigenes Recht einfordern, Antizionist*innen zu sein und als solche zu sprechen, Protestierende, die Regierungsgebäude und Bahnhöfe besetzen und ihre Verhaftung riskieren – sie alle sind durch dieses Recht motiviert, auch wenn sie das nicht immer so artikulieren. Sie verstehen die Rolle, die ihre Regierungen oder allgemeiner die Regime, denen sie als Bürger*innen unterworfen sind, im Hinblick auf die genozidale Gewalt spielen, und sie haben begriffen, wie es in dem allgemeinen Slogan anklingt, dass dies in ihrem Namen geschieht.7
Xheza: Auch Jüd*innen fordern einen Waffenstillstand. Aber selbst jüdische Stimmen werden mundtot gemacht. So wurden in Deutschland beispielsweise die Arbeiten bekannter jüdischer Künstler*innen gecancelt. Glauben Sie, es besteht ein Interesse, das seit 1948 vorherrschende Narrativ des Westens und Israels zu untermauern und gleichzeitig jüdische Stimmen, die sich gegen die in ihrem Namen begangene Gewalt aussprechen, zu unterdrücken?
Azoulay: Es stimmt, dass jüdische Stimmen mundtot gemacht werden, aber das ist nicht neu. Auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden jüdische Stimmen zum Schweigen gebracht, als nämlich den Überlebenden keine andere Wahl gelassen wurde, als jahrelang in Vertriebenenlagern zu leben. In dieser Zeit wurde die aus ihren Gemeinden geplünderten Besitztümer nicht etwa an die Orte in Europa zurückgegeben, aus denen sie geraubt worden waren, sie wurden vielmehr wie Trophäen zwischen der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem und der Library of Congress in Washington aufgeteilt. Auch um das kollektive Trauma der Überlebenden – und das von uns Nachfahr*innen – hat sich niemand gekümmert; stattdessen wurden wir zum Schweigen gebracht mit der Lüge vom Befreiungsprojekt, dessen Prämisse das zionistische Narrativ der Besiedelung Palästinas war, die den euroamerikanischen Mächten eine weitere Kolonie zur Durchsetzung ihrer imperialen Interessen liefern sollte.
Die Exzeptionalisierung des Leids der Jüd*innen war kein von Jüd*innen betriebenes diskursives Projekt, sondern ein westliches; es war Teil der Exzeptionalisierung der genozidalen Gewalt der Nazis. In der großen Erzählung vom westlichen Triumph über diese ultimative Macht des Bösen wurde der Staat Israel zu einem Symbol westlicher Standhaftigkeit, das für den Fortbestand des euroamerikanischen imperialen Projekts stand. Im Rahmen dieser großen Erzählung wurden Jüd*innen gezwungen, sich von traumatisierten Überlebenden in Täter*innen zu verwandeln. Aus der ganzen Welt wurden Jüd*innen losgeschickt, um eine demografische Schlacht zu gewinnen, ohne die das israelische Regime nicht überdauern konnte. Die zweite und die dritte in dieses Projekt geborene Generation kam ohne Geschichte und ohne Erinnerung an ihre antizionistischen oder nicht-zionistischen Vorfahr*innen zur Welt, ganz zu schweigen von Erinnerungen an andere Welten, denen ihre Vorfahr*innen angehört hatten. Dazu kommt, dass sie völlig losgelöst waren von der Geschichte dessen, was Palästina einmal war, sowie von seiner Zerstörung. So waren sie leichte Beute für einen von Zionist*innen und euroamerikanischen Mächten geprägten Nationalstaat als Inbegriff der jüdischen Befreiung.
Die Nakba war insofern nicht allein eine genozidale Kampagne gegen Palästinenser*innen, sondern auch eine gegen jene Jüd*innen, denen Europa nach der Endlösung eine weitere „Lösung“ aufgezwungen hat. Ohne die massive finanzielle Unterstützung und Bewaffnung durch die imperialen Mächte hätten die Massentötungen in Gaza nach kurzer Zeit aufgehört, und die Israelis hätten sich fragen müssen, was sie da tun, wie sie an diesen Punkt gelangt sind, und sie wären gezwungen gewesen, sich mit dem 7. Oktober auseinanderzusetzen und sich zu fragen, warum das passiert ist und wie ein nachhaltiges Zusammenleben zwischen Fluss und Meer für alle möglich sein könnte.
In Ländern wie Deutschland und Frankreich sind jüdische Stimmen immer noch die ersten, die mundtot gemacht werden, um sowohl die Idee der zionistischen Kolonie als auch den fabrizierten Zusammenhalt des einen jüdischen Volkes aufrechtzuerhalten, das von Mächten repräsentiert werden kann, die das euroamerikanische Projekt der weißen Vorherrschaft stützen. Aber nicht mehr lange. Das genozidale Wesen des israelischen Regimes wurde offengelegt und kann vor niemandem mehr geheim gehalten werden.
Xheza: Glauben Sie, es gibt noch Hoffnung für die Palästinenser*innen bzw. für den Rest von uns, die sich eine Welt wünschen, die sie mit anderen teilen können?
Azoulay: Wenn es für die Palästinenser*innen keine Hoffnung mehr gibt, gibt es für uns alle auch keine mehr. Der Kampf um Palästina geht weit über Palästina hinaus. Und das wissen die vielen Menschen, die auf der ganzen Welt protestieren.
Die englische Originalversion wurde erstveröffentlicht auf https://jacobin.com/ (11. April 2024). Ariella Aïsha Azoulays jüngstes Buch The Jewelers of the Ummah. A Potential History of the Jewish Muslim World ist im September 2024 bei Verso, London/New York, erschienen.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Ariella Aïsha Azoulay, Potential History: Unlearning Imperialism. London/New York 2019.
[2] https://www.thenation.com/article/society/open-letter-born-again/
[3] https://mubi.com/en/de/films/the-world-like-a-jewel-in-the-hand
[4] https://platypus1917.org/wp-content/uploads/2014/01/arendt_eichmanninjerusalem.pdf
[5] https://jacobin.com/2023/11/dockworkers-port-blockade-israeli-arms-solidarity-union-activism-gaza-war
[6] https://jacobin.com/2024/02/brown-university-hunger-strike-palestine-israel-divestment
[7] Anm. d. Übers.: Auf vielen propalästinensischen und antiisraelischen Protestaktionen ist der Slogan „Not in my name“ (Nicht in meinem Namen) zu lesen.