Idee und Praxis eines gewaltlosen Miteinanders sind gegenwärtig harten Bewährungsproben ausgesetzt. Der Gedanke eines friedvollen Zusammenlebens über ethnisch-politische bzw. ideologische Grenzen hinweg, selbst in reichen westlichen Gesellschaften nur schwer aufrechtzuerhalten, mag in Bezug auf andere Regionen wie ein frommes Märchen, um nicht zu sagen: wie blanker Hohn klingen. „Love thy neighbour? No, thanks“, hat es Slavoj Žižek vor langer Zeit einmal zum Ausdruck gebracht. Egal, ob beim von Russland geführten Angriffskrieg oder bei dem durch das horrende Massaker der Hamas ausgelösten Nahostkrieg: Die Aussicht auf einen dauerhaften Frieden, der den katastrophal in Mitleidenschaft gezogenen Bürger*innen ein würdevolles Leben ermöglicht, ist ausgesprochen gering. Dabei sind die Dutzenden anderen weltweit geführten kriegerischen Auseinandersetzungen noch gar nicht mitgezählt, die in unserem medialen Bewusstsein nicht so präsent sein mögen, aber gleichfalls verheerende Wirkungen für die davon Betroffenen zeitigen.
Eine friedliche Koexistenz abseits ethnisch-nationaler oder imperialer Demarkationen mag für viele Menschen in weite Ferne gerückt sein. Was erschwerend hinzu kommt, ist, dass selbst dort, wo die Konflikte nicht primär mit Waffengewalt ausgetragen werden (also bei uns), ein weithin dominierender Polarisierungsmodus Einzug gehalten hat. Dieser setzt eine fatale binäre Logik in Gang: bedingungslos für die eine Partei oder die andere eintreten zu müssen, Freund oder Feind, kaum je auf ein verhandelbares Miteinander möglichst vieler oder aller abzielend. Die „Mirror World“ nennt Naomi Klein dieses Syndrom, eine vor die reale Welt geschobene Spiegelwelt voller Verzerrungen und Blendungen, in der einzig unverrückbare Täter-Opfer-Schemata stabile Geltung haben. Ein Befund, der im Übrigen schon seit der Covid-Pandemie und der sich immer mehr zuspitzenden Klimakatastrophe gilt, der nun aber angesichts der aktuellen Kriegsszenarien noch schlagender wird.
Möchte man allzu simplen Gut-und-Böse-Polarisierungen reflexiv etwas entgegenhalten, bietet sich der Begriff der „Verwicklung“ oder des „Impliziert-Seins“ an, den wir als Titel dieser Ausgabe gewählt haben. Ursprünglich von dem Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in seinem Buch The Implicated Subject (2019) eingeführt und hier in einem gemeinsam mit Jennifer Noji verfassten Essay auf das Phänomen der Erinnerung umgelegt, versucht das Konzept, einer an sich simplen Tatsache Rechnung zu tragen: nämlich dass unterschiedliche Subjekte auf ebenso unterschiedliche – oft inkompatible, bisweilen aber auch überlappende – Weise in die nicht enden wollenden Konflikte involviert sind. „Verwickelt“ bzw. „impliziert“ (implicated), wie man auch sagen könnte.
Ausgehend von dieser Idee fragt das Heft danach, wie mit ihrer Hilfe tragfähige Vermittlungsversuche – über die genannten Demarkationen und Inkompatibilitäten hinaus – möglich sind. Wie lassen sich Formen eines zukünftigen Miteinanders, jenseits aller realpolitischen Separation vor allem auch dort, wo jetzt nichts als blanker Hass aufeinander zu existieren scheint, ins Auge fassen? Können künstlerische Ansätze hier womöglich Blaupausen liefern, die der Politik und anderen gesellschaftlichen Akteur*innen lange schon abhandengekommen sind oder deren Vorstellungsräume entschieden überschreiten? Welche unterschiedlichen Verwicklungsgrade gibt es hier, und inwiefern weisen sie über die kalte Dichotomie von Täter/Opfer, Freund/Feind etc. hinaus?
Die Ausgabe Verwicklungen widmet sich diesen Fragen mit Schwerpunkt auf die unlösbar scheinende Konfliktsituation Israel-Palästina. Wohlwissend, dass sich deren historischer Komplexität im gegebenen Zusammenhang nur unzureichend gerecht werden lässt, wollen wir verschiedene Schauplätze des Verwickelt-Seins in diesem Konflikt aufsuchen und zur Debatte stellen. Isabel Frey und Nadine Sayegh etwa erläutern im Interview ausführlich die Hintergründe – und Schwierigkeiten – der im Oktober 2023 von ihnen gegründeten jüdisch-arabischen Friedensinitiative Standing Together Vienna. Der renommierte Historiker Ilan Pappe und der Pulitzer-Preis-gekrönte Autor Nathan Thrall befassen sich mit den historischen Weichenstellungen, die es auf politischer Ebene bräuchte, um ein gerechteres, würdevolles Zusammenleben aller in Israel-Palästina zu ermöglichen. Wie eine solche gemeinsame jüdisch-arabische Welt einst beschaffen war, daran erinnert Ariella Aïsha Azoulay und benennt auch die Faktoren bzw. tieferen Ursachen, die zu deren Auflösung geführt haben. Einen speziellen Fall solcher Separierung legt schließlich Ella Shohat anhand der Problematik rund um das „Judäo-Arabische“ dar, woraus sich gleichfalls erhellende Rückschlüsse auf Möglichkeiten und Bedingungen einer miteinander geteilten Welt ziehen lassen. Ergänzt werden die Beiträge um ausgewählte künstlerische Projekte, etwa des Fotografen Miki Kratsman, die zuoberst die aktuelle Menschenrechtslage ins Auge fassen, so „verwickelt“ die Lage rundherum auch sein mag.
Auch wenn in einigen Beiträgen scharfe Kritik an der gegenwärtigen israelischen Kriegspolitik anklingt, liegt uns nichts ferner, als das Existenz- und Verteidigungsrecht der Terrorbetroffenen auch nur im Geringsten in Zweifel zu ziehen oder das seit dem 7. Oktober 2023 verursachte Leid in irgendeiner Form zu schmälern. So sehr es die Erinnerung an das Geschehene – auf allen Seiten – beständig wachzuhalten gilt, so sehr wollen wir den Blick nichtsdestotrotz auch in Richtung Zukunft wenden: Wie, so eine der maßgeblichen Fragen, lässt sich eine möglichst inklusive Koexistenz projektieren, die das Credo eines „Never again – for anyone“ ernst nimmt und umsetzt? Welche vielleicht gewagte universalistische Idee braucht es, um jeder militaristischen oder ethno-nationalistischen Auslegung des Konflikts ein für alle Mal abzuschwören? Und wie lässt sich generell der komplexen Verwicklungsmodi, denen die davon betroffenen Akteur*innen ausgesetzt sind, gerecht werden? Fragen wie diese bilden den multiperspektivischen Hintergrund dieses Heftes.