2012 wurde Trayvon Martin, ein afroamerikanischer Teenager, auf dem Weg zur Lebensgefährtin seines Vaters in Florida von einer Bürgerwehr aus der Nachbarschaft getötet. Ein Jahr später wurde George Zimmerman, der Mann, der ihn erschossen hatte, in allen Anklagepunkten freigesprochen. Im Zuge des Freispruchs von Zimmerman verbreitete sich der Hashtag #BlackLivesMatter in den sozialen Medien. Schon bald sollte sich eine soziale Bewegung mit dem Namen Black Lives Matter (BLM) zu einer der bedeutendsten US-amerikanischen aktivistischen Initiativen des 21. Jahrhunderts entwickeln. Im Sommer 2020 – inmitten der Corona-Krise und nach den Morden an Ahmaud Arbery, George Floyd und Breonna Taylor – löste BLM die womöglich größte Protestaktion in der Geschichte der USA aus.1
Aufgrund ihrer entschiedenen Fokussierung darauf, die Lebensbedingungen von Schwarzen in der Gegenwart zu verbessern, kann BLM auch als eine Form von Erinnerungsaktivismus betrachtet werden. Die Gruppe leistet Trauerarbeit für die unzähligen Schwarzen Amerikaner*innen, die von der Polizei, weißen Rassist*innen und Bürgerwehren ermordet wurden. BLM stellt auch eine Verbindung her zwischen heutiger, todbringender und der länger zurückreichenden Geschichte rassistischer Gewalt. So ist Kevin Bruyneel der Ansicht, die Gruppe zeige, wie „sich die gegenwärtige Abwertung und Behandlung Schwarzer Amerikaner*innen als Menschen, deren Leben für die Polizei, den Staat und viele Bürger*innen des Landes nicht zählen, von der Zeit der Sklaverei bis heute nachweisen lässt“. Dadurch, dass BLM diese Verbindungslinien sichtbar macht, so Bruyneel weiter, betreibe die Bewegung eine „Erinnerungspolitik, die der Vorstellung weißer Siedler*innen von einer großartigen abstrakten Vergangenheit Amerikas direkt zuwiderläuft“2. Der Aktivismus von BLM – auch ihr Erinnerungsaktivismus – passt gut zu Konzepten sozialer Bewegungen, denen es darum geht, unterdrückte oder viktimisierte Menschen zu mobilisieren, um sich gegen den Staat oder andere mächtige Akteur*innen aufzulehnen.
Der Tod von Trayvon Martin und der Freispruch von George Zimmerman waren allerdings auch Anlass für die Entstehung eines anderen Projekts, das sich als vielversprechend für das Verständnis von Handlungsmacht an der Schnittstelle von Erinnerung und Aktivismus erweist. Nach den ersten Reaktionen auf den Mord und den Freispruch mit Slogans wie „I am Trayvon Martin“ und „We are all Trayvon Martinׅ“ kam schon bald Kritik an der Identifikation weißer Amerikaner*innen mit dem ermordeten afroamerikanischen Teenager auf. Diese nachvollziehbare Kritik führte zur Entstehung eines aktivistischen Social-Media-Projekts namens We are not Trayvon Martin. Dieses wurde im Zuge des Freispruchs von George Zimmerman konzipiert und bestand aus einer Website mit einer Sammlung Hunderter kurzer, autobiografischer Texte, manche mit Fotos. Anstatt sich über den Akt der Identifikation direkt mit Martin solidarisch zu erklären, erzählten die Verfasser*innen dieser Texte komplexere Geschichten von weißen Privilegien, white passing und Kompliz*innenschaft mit rassistischen Strukturen. Durch den bewussten Akt der „Nichtidentifikation“ machten sie eine „differenzierte Solidarität“ mit Martin geltend und lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre ungleich privilegierteren Positionen.3 Mitwirkenden, die dieses antirassistische Projekt unterstützten, bot sich mit der Aussage „We are not Trayvon Martin“ die Möglichkeit, Martins Tod zu betrauern, aber auch die eigene Verwicklung in die Geschichten und Strukturen zu offenbaren, die diesen Tod ermöglicht hatten. Mit anderen Worten, es handelte sich um einen Akt historischer und politischer Verantwortungsübernahme im Rahmen eines erinnerungsaktivistischen Projekts.
We are not Trayvon Martin besitzt zwar weder die Langlebigkeit noch den großen Einfluss von BLM, liefert aber eine wichtige Einsicht für Wissenschaftler*innen, die sich mit Erinnerungsaktivismus beschäftigen: Viele bedeutende aktivistische Projekte, die der sozialen Erinnerung gewidmet sind, gehen nicht auf Opfer oder Täter*innen zurück, sondern auf „implizierte Subjekte“4. Der Begriff des implizierten Subjekts wurde entwickelt, um Subjekte zu beschreiben, die, wie die Mitwirkenden an der Website, Positionen einnehmen, die mit Macht und Privilegien verknüpft sind, ohne selbst direkt Schaden zu verursachen.5 Implizierte Subjekte tragen zu Herrschaftssystemen der Gewalt und Unterdrückung bei, bewohnen sie, erben sie oder profitieren von ihnen, ohne ursächlich für diese Systeme verantwortlich zu sein oder sie zu kontrollieren. Sie sind weniger „aktiv“ in die Geschichte der Gewalt involviert als Täter*innen, entsprechen aber auch nicht dem Bild „passiver“ Zuschauer*innen. Ihr Handeln – und ihr Nichthandeln – trägt, wenn auch indirekt oder verspätet, dazu bei, das Vermächtnis historischer Gewalt fortzuschreiben und Strukturen der Ungleichheit in der Gegenwart aufrechtzuerhalten. Abgeleitet vom lateinischen implicāre, was so viel bedeutet wie verwickeln, einbeziehen, eng verbinden, lenkt Implikation, wie der naheliegende, aber nicht identische Begriff Komplizenschaft, die Aufmerksamkeit darauf, wie wir in Ereignisse verwickelt (im-pli-ziert) werden, die auf den ersten Blick außerhalb unseres Einflussbereichs als individuelle Subjekte liegen.6
Auch wenn das Vokabular von Implikation und implizierten Subjekten in der noch neuen Erforschung von Erinnerungsaktivismus keine zentrale Bedeutung einnimmt, behaupten wir, dass einige der wichtigsten Beispiele auf diesem Gebiet Projekte behandeln, in denen implizierte Subjekte eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung von Erinnerung spielen. Im weiteren Verlauf dieses Essays werden wir diese Behauptung zunächst anhand von zwei maßgeblichen Büchern über Erinnerungsaktivismus mit markanten Beispielen illustrieren. Anschließend widmen wir uns etwas ausführlicher unserem eigenen Beispiel von „impliziertem“ Erinnerungsaktivismus: der Mobilisierung gegen die Inhaftierung von Migrant*innen und Geflüchteten an der Südgrenze der Vereinigten Staaten. Die explizite Konzentration auf implizierte Subjekte als Akteur*innen des Erinnerungsaktivismus hilft, die Beweggründe für soziale Bewegungen zu klären. Ein derartiger Fokus zeigt, dass das Gefühl von historischer und politischer Verantwortung eine wichtige Triebfeder für Erinnerungsaktivismus ist und dass ein besonders starker Handlungsimpuls entstehen kann, wenn sich Erinnerungen an geschehenes Unrecht mit einem Gefühl von aktueller Implikation verbinden. Abschließend werden wir darauf hinweisen, dass ein Gefühl der Implikation nicht nur viele Erinnerungsaktivist*innen motiviert, sondern auch mit aktivistischen Zielen verknüpft ist: So richten sich die von uns angeführten Projekte von Erinnerungsaktivist*innen häufig direkt an andere implizierte Subjekte und versuchen, in einer breiteren Öffentlichkeit die Anerkennung und Wahrnehmung politischer Verantwortung zu erreichen, um so einen umfassenden Wandel zu unterstützen.
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Beispiele für Erinnerungsaktivismus von implizierten Subjekten nehmen in diesem neuen Teilgebiet der Erinnerungsforschung eine führende Rolle ein, auch wenn uns bislang das Vokabular gefehlt hat, um dies zu erkennen. So beziehen sich zwei maßgebliche Arbeiten auf diesem Gebiet – Jenny Wüstenbergs Civil Society and Memory in Postwar Germany und Yifat Gutmans Memory Activism, beide 2017 veröffentlicht – zum Teil auf das, was wir als implizierte Subjekte beschreiben würden. Wie eine kurze Diskussion dieser Werke zeigt, ist der implizierte Erinnerungsaktivismus im deutschen Kontext nach dem Holocaust und im israelischen Kontext nach der Nakba besonders markant, auch wenn dies nicht die einzigen Beispiele sind.
Wüstenbergs Buch trägt dazu bei, eine bedeutende Lücke in den Darstellungen der deutschen Holocaust-Erinnerung zu schließen, indem sie die aktivistische Erinnerung von unten untersucht, insbesondere zwei aus der Zivilgesellschaft hervorgegangene Projekte: die Neue Geschichtsbewegung und die Gedenkstättenbewegung. Bevor die Erinnerung an den Holocaust zu einem weitverbreiteten, prägenden Element der offiziellen nationalen Identität (West-)Deutschlands wurde – zum Ausdruck gebracht durch Großprojekte wie das Denkmal für die ermordeten Jüd*innen Europas in Berlin –, fand sie, wie Wüstenberg zeigt, einen Platz in Initiativen gewöhnlicher Bürger*innen. Wüstenberg macht deutlich, dass Opfer der NS-Herrschaft schon früh die „Landschaft des Gedenkens geprägt haben, die an die NS-Diktatur erinnert“. „Allerdings“, so fährt sie fort, „erreichten die Opfer die ersten 40 Jahre nach dem Krieg nur einen minimalen Grad an Anerkennung.“7 Auf der Grundlage dieser früheren Bemühungen schufen die von Wüstenberg untersuchten Graswurzelbewegungen der 1980er-Jahre eine Infrastruktur, die dann gleichsam „top down“ von Erinnerungsunternehmungen bzw. vom Staat übernommen wurde. Diese Bewegungen der 1980er-Jahre, so stellt sie klar, waren unterschiedlich zusammengesetzt, umfassten aber überwiegend Akteur*innen aus der Nachkriegsgeneration, die nach dem Holocaust aufgewachsen und somit weder Opfer noch aktive Unterstützer*innen des NS-Regimes waren. Diese Nachkriegsgeneration bestand aus Menschen, „die auch über die Weigerung der Elterngeneration, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, schockiert waren“8, und wurde vor allem durch das Gefühl indirekter Verantwortung – nicht direkter Schuld – und somit durch ein selbstreflexives Verständnis diachroner Implikation angetrieben.
Auch der Erinnerungsaktivismus, den Yifat Gutman in ihrem gleichnamigen Band beschreibt, umfasst heterogene Akteur*innen. So beschreibt sie in ihrem Eingangsbeispiel die Gruppe Zochrot („Wir erinnern uns“), „eine kleine Gruppe hauptsächlich jüdischer israelischer Aktivist*innen, die Führungen durch zerstörte palästinensische Dörfer organisierte“9. Zu diesen Touren luden die jüdischen Aktivist*innen „ehemalige palästinensische Bewohner*innen der Orte, heute Flüchtlinge, ein“. Diese schilderten dann „den meist jüdischen israelischen Teilnehmer*innen der Führungen, wie ihr Leben vor Ort vor der Zerstörung ausgesehen hatte und wie es ihnen im Palästinakrieg 1948 ergangen war“10. Auch wenn palästinensische Opfer der Nakba in diesem Szenario wie auch in den anderen von Gutman untersuchten aktivistischen Projekten eine Schlüsselrolle spielen, zeigt sich, dass einige der Initiator*innen wie auch die Zielgruppe der Gedenktouren aus dem Umfeld der Täter*innen kommen, ohne notwendigerweise selbst direkt an der Vertreibung beteiligt gewesen zu sein. Tatsächlich verortet Gutman ihre Studie über Erinnerungsaktivismus in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in einem Kontext der „wachsenden Polarisierung, Gewalt und Trennung zwischen Israelis und Palästinenser*innen“11 nach der Zweiten Intifada. Im Rahmen dieser düsteren politischen Entwicklung vollzog sich ein Wandel von „binationalen Treffen ‚von Mensch zu Mensch‘“ hin zur „einseitigen Anerkennung der historischen Verantwortung Israels für das palästinensische Leid“12. Diese Verschiebung im jüngsten Aktivismus hin zur „einseitigen Anerkennung“ signalisiert wiederum eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit Prozessen der Implikation. Fiona Wright, die ein ähnliches aktivistisches Milieu untersucht hat, wenn auch ohne expliziten Fokus auf der Erinnerung, bestätigt die Bedeutung dieser Verschiebung: Sie beschreibt Israels radikale Linke als Bewegung, die geprägt ist von „einer schwierigen und problembelasteten Aushandlung der Komplizenschaft“13. In Anlehnung an die Arbeit von Mark Sanders zu südafrikanischen Intellektuellen unter der Apartheid behauptet Wright: „Die Idee der Komplizenschaft erschwert es, den radikalen Aktivismus der jüdischen israelischen Linken einfach als heroischen Widerstand zu lesen, der von seiner Verwicklung in die Formen von Macht und Gewalt, die er zu unterwandern sucht, geläutert ist.“14 Wie bei We are not Trayvon Martin und den deutschen Graswurzelaktivist*innen äußert sich der Aktivismus von Zochrot und anderen jüdisch-israelischen Gruppen hin und wieder in einer Form, die Wright „öffentliches und politisches Trauern“ nennt, eine Erinnerungsarbeit, die sich gegen staatliches Gedenken sträubt und die Verwicklung der Aktivist*innen in die Gewalt, an die sie erinnern, hervorhebt. Die von Wüstenberg und Gutman angeführten Beispiele bestätigen, dass implizierte Subjekte – auch wenn sie noch nicht als solche bezeichnet wurden – wichtige Akteur*innen im Hinblick auf den Erinnerungsaktivismus darstellen.
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Wie das Projekt We are not Trayvon Martin vermuten lässt, ist der „implizierte“ deutsche und israelische Erinnerungsaktivismus, den Wüstenberg und Gutman thematisieren, auch ein hervorstechendes Merkmal zeitgenössischer sozialer Bewegungen in den Vereinigten Staaten, insbesondere jener, die gegen die ungerechte Behandlung von rassifizierten Minderheiten, Migrant*innen und Flüchtlingen kämpfen. Als Reaktion auf die „Null-Toleranz“- und Familientrennungspolitik der Regierung Trump entstanden im ganzen Land soziale Bewegungen, die das Vorgehen des Staates verurteilten und Solidarität mit inhaftierten Migrant*innen und Geflüchteten bekundeten. Hier wollen wir uns zunächst auf japanische Amerikaner*innen konzentrieren, eine ethnische Gruppe, die von der US-Regierung während des Zweiten Weltkriegs gewaltsam von der Gesellschaft separiert und inhaftiert wurde. Bei vielen japanischen Amerikaner*innen ruft die aktuelle Inhaftierung von Migrant*innen und Geflüchteten dunkle Erinnerungen an die damalige Inhaftierung wach, die ebenfalls im Namen der nationalen Sicherheit erfolgte.
Weil sie Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart erkennen, haben japanisch-amerikanische Aktivist*innen begonnen, dem Slogan „Never Again Is Now“ zentrale Bedeutung einzuräumen und deutlich zu machen, dass Geschichte sich wiederholt – oder sich zu wiederholen droht. Zu einer starken Intensivierung ihrer Bemühungen kam es 2019, als die US-Regierung Pläne ankündigte, Migrant*innenkinder in Fort Sill, einem Stützpunkt der US-Armee in Oklahoma, zu inhaftieren, einer Einrichtung, in der Ende des 19. Jahrhunderts Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen und während des Zweiten Weltkriegs japanische Einwander*innen eingesperrt wurden. Fort Sill, ein Ort voller historischer Traumata, wurde fortan zu einem Sammelpunkt für japanische Amerikaner*innen sowie für indigene Gemeinschaften und deren Verbündete. Im Sommer 2019 kam es überall im Land zu Protesten gegen Fort Sill. Bei diesen und anderen Protesten weckten Aktivist*innen die Erinnerung an die Inhaftierung japanischer Amerikaner*innen und machten so auf alarmierende Gemeinsamkeiten zwischen dem Vorgehen des amerikanischen Staates während des Zweiten Weltkriegs und seiner heutigen Aktionen aufmerksam. Was lehrt uns dieses Wiederaufleben des Erinnerungsaktivismus über die Beweggründe sozialer Bewegungen?
Als Antriebsfaktor für den japanisch-amerikanischen Aktivismus haben wir drei verbreitete Motive ausgemacht: die Identifikation mit aktuell inhaftierten Migrant*innen, ein universeller humanitärer Impuls und – für den Gegenstand dieses Aufsatzes am wichtigsten – die Erkenntnis der eigenen Implikation, der Verwicklung in staatliche Maßnahmen. Die Identifikation mit heutigen Migrant*innen, die auf der kollektiven Erinnerung japanischer Amerikaner*innen an Viktimisierung und Inhaftierung beruht, zeigt sich in den Reden japanisch-amerikanischer Aktivist*innen auf dem Fort Sill Protest von Little Tokyo am 27. Juni 2019 in Downtown Los Angeles. Bruce Embrey, einer der Redner*innen, erklärte: „Wir wissen, wie es ist, von denen, die sich davon politische Vorteile versprechen, als Eindringlinge gebrandmarkt zu werden, die die Lebensweise dieser Nation bedrohen.“15 Wie jedoch ein anderer Redner, Daren Mooko, bestätigte, werden die japanischen Amerikaner*innen auch von einem universellen, humanitären Impuls angetrieben, der nichts mit der kollektiven Erinnerung ihrer Gemeinschaft an die Verfolgung zu tun hat. Mooko: „Wir müssen unsere Stimme nicht nur wegen der Erfahrungen unserer Gemeinschaft während des Zweiten Weltkriegs erheben, sondern auch, weil wir die Bedingungen in diesen Hafteinrichtungen als das sehen, was sie sind – eine Menschenrechtsverletzung.“16 Mit dem Verweis auf die Menschenrechte machte Mooko die gegenwärtige Inhaftierung von Migrant*innen in den USA zu einem universellen Anliegen.
Der dritte wichtige Beweggrund für den japanisch-amerikanischen Aktivismus ist die Anerkennung der Implikation: Soziale Akteur*innen erkennen ihre eigene Verwicklung in die Ereignisse an, gegen die sie protestieren. Die Anerkennung der Implikation zeigt sich beispielsweise in der Aussage „We already did this“ (Wir haben das schon mal gemacht), auf den Plakaten, die beim Protest von Little Tokyo verteilt wurden. Diese von der asiatisch-amerikanischen Aktivist*innenorganisation Visual Communications gestalteten Plakate zeigen Bilder des Apachenführers Geronimo, der als Kriegsgefangener in Fort Sill starb, von Kimiko Kitagaki, einem japanisch-amerikanischen Kind, das während des Zweiten Weltkriegs hier inhaftiert war, und der Trauerprozession für Jakelin Caal Masquin, einem guatemaltekischen Kind, das in US-Gewahrsam starb.
Durch die Verwendung des kollektiven „Wir“ – wie in „wir Amerikaner*innen“ – setzt das Plakat die Betrachtenden mit der Instanz gleich, die „das schon mal gemacht hat“. Anstatt zu behaupten, „der Staat hat das schon mal gemacht“, und allein die US-Regierung verantwortlich zu machen, bezieht das Plakat diejenigen mit ein, die es lesen, und macht sie zumindest mitverantwortlich für die aktuellen Ereignisse, zusammen mit dem eigenen „Wir“ der Demonstrierenden. Indem sie grundlegenden staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen, indem sie arbeiten und Steuern zahlen, tragen japanische Amerikaner*innen, wie die meisten amerikanischen Bürger*innen, die Politik der Regierung unweigerlich mit. Das Plakat verfolgt somit einen doppelten Zweck: Es macht die Geschichte der Inhaftierung in den USA sichtbar, und es nimmt seine Betrachter*innen für die aktuelle Inhaftierung von Migrant*innen in die Verantwortung.
Bei einigen japanischen Amerikaner*innen führt die Erkenntnis ihrer eigenen Verwicklung in staatliche Maßnahmen letztlich dazu, die eigene Selbstgefälligkeit abzulegen und sich aktiv zu engagieren. Dieser Prozess wurde auch in der Rede von Joy Yamaguchi deutlich, einer japanischen Amerikanerin der vierten Generation, die bei den Fort-Sill-Protesten dabei war. Im Namen der teilnehmenden japanischen Amerikaner*innen erklärte Yamaguchi: „Wir mussten kommen, um die Verbündeten und Kompliz*innen zu sein, die unsere Familien nicht hatten, als sie gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden, weil sie wie der sogenannte Feind aussahen. Wir mussten gleichsam unser Privileg als japanische Amerikaner*innen nutzen, um für jene zu kämpfen, die derzeit unter diesen Inhaftierungssystemen zu leiden haben.“17
Indem sie die Aufmerksamkeit auf das „Privileg“ japanischer Amerikaner*innen lenkt, erkennt Yamaguchi deren aktuelle Position als implizierte Subjekte an. Noch dazu verdeutlicht sie durch die Behauptung, sie seien „die Verbündeten, die [ihre] Familien nicht hatten“, dass sich die Position der japanischen Amerikaner*innen mittlerweile verändert hat: Sie wurden von Opfern zu implizierten Subjekten und von implizierten Subjekten schließlich zu potenziellen Akteurinnen, die sich mit anderen betroffenen Minderheiten solidarisch erklären.
Yamaguchi fordert japanische Amerikaner*innen auf, politische Verantwortung zu übernehmen und den Kreislauf aus Inaktivität zu durchbrechen, der zur Aufrechterhaltung staatlich legitimierter Masseninhaftierungen beiträgt. Der Aufruf zeigt, dass diese soziale Bewegung nicht nur durch die Anerkennung der eigenen Implikation motiviert ist, sondern sich auch um eine breitere Anerkennung durch andere implizierte Subjekte bemüht. Dies signalisiert auch ein weiterer zentraler Slogan der Bewegung: „Don’t Look Away“. Er wird bei Protesten skandiert, findet sich auf Plakaten und dient als Hashtag auf verschiedenen sozialen Medienplattformen. Ähnlich wie „We already did this“ fordert auch der Spruch „Don’t Look Away“ die Betrachter*innen auf, die Ereignisse um sie herum und ihre Verwicklung in dieselben zu erkennen. Somit richtet sich der Satz spezifisch an implizierte Subjekte und zeigt, dass diese häufig sowohl Initiator*innen als auch Ziele von sozialem Aktivismus sind.
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Die japanisch-amerikanische Mobilisierung zur Unterstützung von Geflüchteten verdeutlicht einen weiteren wichtigen Punkt im Hinblick auf die Motivationsstruktur, die der Beziehung zwischen Implikation und Erinnerungsaktivismus zugrunde liegt. Die vielfältigen Subjektpositionen der – einst viktimisierten und aktuell implizierten – japanischen Amerikaner*innen veranschaulichen, dass es auch so etwas wie „komplexe Implikation“ gibt, ein Begriff, der die „Koexistenz verschiedener Beziehungen zu vergangenem und gegenwärtigem Unrecht“18 bezeichnet. Da es sich bei Kategorien wie Opfer, Täter*in und impliziertes Subjekt um veränderliche Positionen handelt, die Individuen „in bestimmten, dynamischen und manchmal kollidierenden Strukturen und Geschichten der Macht einnehmen“, sind Menschen oft „komplex“ situiert: Das heißt, dass „komplex implizierte“ Subjekte wie die heutigen japanischen Amerikaner*innen sowohl die Geschichte der Viktimisierung erben, als auch selbst in aktuelle Ungerechtigkeiten verstrickt sind.19 Wie auch der Fall jüdisch-israelischer Post-Holocaust-Aktivist*innen in Israel zeigt, ist der implizierte Erinnerungsaktivismus häufig von einer Kombination aus historischer Viktimisierung und der Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit in der Gegenwart geprägt (auch wenn der von Wüstenberg untersuchte deutsche Fall eindeutig anders ist). Eine ähnlich komplexe Positionierung finden wir bei jungen jüdisch-amerikanischen Aktivist*innen, die wie ihre japanisch-amerikanischen Pendants mit dem Slogan „Never Again“ gegen die Inhaftierung von Migrant*innen protestiert haben. In Initiativen wie Never Again Action setzen sich Erstere mit ihren Verwicklungen in den US-Staat auseinander und sprechen von der „Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass so etwas wie der Holocaust nie wieder passiert“20. Der starke Impuls, der von solch komplexen Verwicklungen ausgeht wie in den jüdisch-israelischen, japanisch-amerikanischen und jüdisch-amerikanischen Fällen, zeigt den konzeptionellen Reichtum und das politische Potenzial des implizierten Erinnerungsaktivismus auf – ein Terrain, das weitere Untersuchungen lohnt.
Die Originalversion dieses Textes ist erschienen in: The Routledge Handbook of Memory Activism. Hg. v. Yifat Gutman u. Jenny Wüstenberg (© 2023). Mit freundlicher Genehmigung von Taylor & Francis Group.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Larry Buchanan u. a., Black Lives Matter May Be the Largest Movement in U.S. History, in: The New York Times, 3. Juli 2020; https://www.nytimes.com/interactive/2020/07/03/us/george-floyd-protests-crowd-size.html.
[2] Vgl. Kevin Bruyneel, Happy Days (of the White Settler Imaginary) Are Here Again, in: Theory & Event, 20:1 (2017), S. 44–54, hier S. 50.
[3] Vgl. Michael Rothberg, The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpetrators. Stanford 2019, S. 5 und 137.
[4] Vgl. ebd.
[5] Anmerkung der Übersetzung: Das englische Verb „implicate“ und die deutsche Übersetzung „implizieren“ haben zwar eine ähnliche Grundbedeutung (bedeuten, einbeziehen, mit sich bringen), doch schwingt im englischen Begriff noch eine aktivere Konnotation mit, im Sinne von „verwickeln“, „in Verbindung bringen“. So bedeutet „implicated“ bzw. „implication“ auch, dass jemand in etwas verwickelt ist und gegebenenfalls eine Mitverantwortung trägt. Entsprechend ist die deutsche Übersetzung „impliziert“ bzw. „Implikation“ hier im Sinne der Autor*innen in seiner weiteren englischen Bedeutung zu verstehen.
[6] Siehe Mark Sanders, Complicities: The Intellectual and Apartheid. Durham 2002, und Rothberg, The Implicated Subject.
[7] Jenny Wüstenberg, Zivilgesellschaft und Erinnerungspolitik in Deutschland seit 1945. Berlin 2020, S. 99.
[8] Ebd., S. 120.; vgl. Rothberg, The Implicated Subject, S. 8–9.
[9] Yifat Gutman, Memory Activism: Reimagining the Past for the Future in Israel-Palestine. Nashville 2017, S. 1.
[10] Ebd.
[11] Ebd., S. 5.
[12] Ebd., S. 5–6.
[13] Fiona Wright, The Israeli Radical Left: An Ethics of Complicity. Philadelphia 2018, S. 9.
[14] Ebd., S. 10.
[15] Ein vollständiger Videomitschnitt des Protests findet sich auf dem YouTube-Kanal des Japanese American National Museum; https://www.youtube.com/watch?v=2z7g7OkFL94&fbclid= IwAR3fd0ymLE1YjEWV-kqhs588_NX0jqtosvDVVjuKo72LauFTeVRIleOmBQs.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Rothberg, The Implicated Subject, S. 8.
[19] Vgl. ebd.
[20] Vgl. https://www.neveragainaction.com/.