Das senfgelbe Softcover muss einiges zusammenhalten: einen Jahresbestand an Ereignissen und Zuständen, ein Weltinventar an Haltungen, Behauptungen, Praktiken, Bewegungen und Gegenbewegungen, datiert in roten Lettern auf „ca. 1972“. Gebunden ergibt das ein seitenstarkes und großes Buch, das seine eigene gewichtige Form selbst als Anmaßung begreift – und als Behauptung infrage stellt. Bei Spector Books erschienen ist es im März dieses Jahres mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden.
Die Gestaltungs- und Organisationsform „Buch“ ist ein selbstreflexiver Strang dieses schönen Text-Bild-Bandes, den der Kunsthistoriker und Publizist Tom Holert vorgelegt hat (Gestaltung: Elias Erkan). Ein „hybrid geratenes“ Geschichtssachbuch nennt er es, darin sei „nichts erfunden, alles referenziell“ – und doch offensichtlich eine situierte Ich-Erzählung. Es ist ein kulturwissenschaftliches Lesebuch und ein emphatisches Bilderbuch, denn die Argumente liefern die Fotografien, Filme, Kunstwerke, Magazine, Buch- und Plattencover, Flugschriften und Plakate, die von „ca. 1972“ stammen und hier in beeindruckender Recherchearbeit versammelt sind. Holert lädt dazu ein, den „Zeit-Raum“ „dreidimensional zu denken“, ihn gleichsam multidirektional erinnernd zu durchqueren. Was ist das für ein Kosmos?
1972 war historisch kein besonders auffälliges Jahr. Vom revolutionären Geist von ’68 war noch ein Nachhall da, doch hatte er seinen identitätsstiftenden Charakter für eine Generation bereits verloren. 1971 kündigte US-Präsident Nixon das internationale Währungssystem von Bretton Woods einseitig auf. Der „Nixon-Schock“ war „ca. 1972“ spürbar, seine epochalen Nachbeben – im Umbruch zum globalen Finanzkapitalismus – noch nicht. Die Verheerungen in Vietnam schienen nicht enden wollend, erst drei Jahre später, 1975, war der blockgeführte Krieg vorbei. 1972 liegt zwischen diesen Zeitmarken.
Und doch wird in Tom Holerts Rückblick auf das vermeintlich periphere Jahr viel Interessantes sichtbar. Zum Beispiel: die Entstehung neuartiger Räume vor dem Hintergrund der einsetzenden Globalisierung und visualisierungstechnologischen Aufrüstung. Der People’s Participation Pavilion etwa, den der philippinische Künstler David Medalla auf der documenta 5 in Kassel realisierte, war ein künstlerisch gestalteter Raum, der sozial gedacht und partizipativ, auch aktivistisch benutzt werden konnte. „Environment“ war Anfang der 1970er-Jahre ein Begriff der Kunstwelt wie auch der neuen Ökologiebewegung. Mit seiner Konjunktur einher ging ein Bewusstsein für die Gestaltungsfähigkeit der Umwelt und folglich für ihre Schutzbedürftigkeit. Oder: die Aboriginal Embassy, die vier indigene Aktivisten im Januar 1972 auf einer Grünfläche vor dem australischen Parlament in Canberra aus einem Sonnenschirm und einer Plastikplane errichteten. Die antikoloniale Besetzung des (gestohlenen) öffentlichen Raumes führte zu zahlreichen Nachahmungen und Erweiterungen und sollte zum Modell für Platzbesetzungen von Gezi, Tahrir, Maidan oder Occupy Wall Street werden. 50 Jahre später brachte der Aborigines-Künstler Richard Bell die Tent Embassy zur documenta fifteen nach Kassel.
1972 formierten sich neue Allianzen, über geografische, soziale und patriarchal besetzte Räume hinweg. Die Anti-Vietnamkriegsbewegung hatte in dieser Hinsicht großes Mobilisierungspotenzial, für das etwa die Hollywoodschauspielerin Jane Fonda, die 1972 Hanoi besuchte, und die Diplomatin Nguyễn Thi Binh, ein prominentes Mitglied der südvietnamesischen „langhaarigen Armee“, als zwei feministische Ikonen stehen. Neu war auch der Internationalismus einer radikalisierten, militanten Linken und deren genderspezifisch wertendes Covering durch die internationale Presse. Eine Bildspur verläuft entlang der Verhaftungen von Ulrike Meinhof, Hiroko Nagata, die die Vereinigte Rote Armee in Japan anführte, und der palästinensischen Terroristin Theresa Khalsa, alle Repräsentantinnen einer medial kreierten Figur der „gewalttätigen Frau“; aber auch von Khalsa zu George Bush, der am 10. September 1972 vor dem UN-Sicherheitsrat in New York per Handzeichen über die damals wie heute umkämpfte Unterscheidung zwischen illegitimer (krimineller) und legitimer (politischer) Gewalt abstimmte.
Holert ordnet präzise, umsichtig und vielstimmig ein, indem er Protagonist*innen und Theoretiker*innen, Protokolle und Texte des Zeitraums konsultiert, Blickwechsel ermöglicht, aufzeigt, wer den Bildraum regiert. Die grobe Klammer des „ca.“ erlaubt mitunter ein hochpräzises Hineinzoomen in Stunden und Minuten auf der Timeline 1972: 7. Dezember, 5:33 Uhr Eastern Standard Time – einem NASA-Astronauten an Bord der Apollo 17 gelingt die erste Totalaufnahme der Erdkugel. Das berühmte Bild der „Blue Marble“ ist das Bild des Universalismus, des (aus amerikanischer Sicht) totalen Überblicks. Im Kontrast dazu stehen die idyllischen Aquarelle aus den Việt Cộng-Verstecken im vietnamesischen Mangrovenwald, dem (aus westlicher Sicht) „environmentalen Anderen“. Sie zählen zu den unergründlichsten und erstaunlichsten Bildentdeckungen des Buches.
„1972 wollten wir alles verbinden“, wird einleitend der Filmessayist Harun Farocki zitiert. Holert verbindet die globalen Initiativen und partikulären Kämpfe der Zeit, ihre Chancen und Risiken, mit den Fragen, die sich heute wieder stellen. Er misst aber auch die Abstände. Am Ende des Buches steht der afroamerikanische Autor James Baldwin, dessen 100. Geburtstag im August 2024 gefeiert wurde, mit einem Zitat von 1972: „Vielleicht kann man sagen, dass es keine eindeutigen Bilder gibt; alles scheint sich zu überlagern und mit etwas anderem im Krieg zu liegen. Auch klare Ausblicke gibt es nicht; [...] So fühlte ich mich kaleidoskopisch zerrissen.“ Ein Lehrbuch, wenn man so will, ist „ca. 1972“; aber nicht im Sinne eines „Lernen-von“. Die zehn Kapitel sind Übungen in Multiperspektivität, im genauen Schauen, auch auf Zusammenhänge, von denen wir „spezifisch nicht-adressiert“ sind.