Heft 3/2024 - Artscribe


Christelle Oyiri … An Eye for an „I“ (Pontopreis MMK 2024)

24. Februar 2024 bis 23. Juni 2024
Zollamt / Frankfurt am Main

Text: Mounira Zennia


Frankfurt am Main. Die Ausstellung An Eye for an „I“ thematisiert den nördlich von Paris gelegenen Vorort Les Fauvettes in Pierrefitte-sur-Seine und ein dort prominentes Gebäude, die Cité des Fauvettes. Das Nachkriegsfrankreich der 1960er-Jahre war geprägt durch eine boomende Wirtschaft und der zeitgleichen Dekolonisation zahlreicher afrikanischer Staaten. Dies resultierte in einer signifikanten Zuwanderung, insbesondere aus Nord- und Westafrika, welche in den heute als Banlieue bezeichneten Gebieten untergebracht wurden. Bei der Errichtung dieser Sozialbauten bestand eine utopische Perspektive hinsichtlich des Zusammenlebens der Menschen. Die gegenwärtige Situation zeigt jedoch, dass daraus vielmehr eine Dystopie entstanden ist. Die Cité des Fauvettes fungiert für die Künstlerin als Symbol „für das Scheitern der französischen utopischen und brutalistischen Ideen der 1960er bis 1980er Jahre“1.
Als ich die Ausstellung An Eye for an „I“ zum ersten Mal betrete, fühle ich mich sehr abrupt an einen unbekannten Ort versetzt. Ich befinde mich im Foyer eines Hochhauses, dessen Eingangsbereich mit zahlreichen Briefkästen sowie einem gekachelten Boden ausgestattet ist, wie er in den Sozialbauten Frankreichs üblich ist. Ich blicke auf einen leicht geöffneten Aufzug, der so echt wirkt, dass ich den Knopf drücken möchte, um die Funktionstüchtigkeit der Technik zu überprüfen. Diese sehr reale Struktur wird jedoch gebrochen durch ein grünes Neonlicht, das aus dem Aufzug und einem der Briefkästen scheint. Bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass sich im Briefkasten eine leuchtende Kugel befindet, von der das Licht ausgeht. Im Aufzug schwebt im grünen Nebel des Neonlichts der Kopf eines jungen Mannes.
Hinter dem Foyer des Hochhauses befindet sich das Herzstück der Ausstellung. Auf einer großen Leinwand wird der Film I see you gezeigt. Der Film handelt von der fast schon mystischen Figur der Choufs, jugendliche Bewohner*innen der Cité, die für wenig Geld die Arbeit der Augen und Ohren der Drogendealer*innen übernehmen (arabisch chouf bedeutet „sehen“). Die Choufs, gut postiert und stets alarmiert, kennen alle im Haus, ihre Bewegungen und Gewohnheiten – diskret und nicht verfolgbar warnen sie die Drogendealer*innen umgehend. Der Film zeigt die Choufs vor der Cité, junge Männer, zum Teil maskiert, in schwarzer Funktionskleidung. In ähnlicher Weise wie im Ausstellungsraum manifestieren sich auch im Film immer wieder Elemente des grünen Neonlichts, bis dieser plötzlich mit dem Schriftzug „Programme Interruption“ abbricht. Nun folgt ein zweiter Teil, der eine Kollektion von Snapchat-Aufnahmen der Jugendlichen aus der Cité präsentiert.
„Die Choufs bilden die erste Schnittstelle zwischen der Realität und dem gesamten Kreislauf der Schattenwirtschaft“2, beschreibt Oyiri, die selbst in einem Nachbarort von Les Fauvettes aufgewachsen ist. Dabei geht es ihr keineswegs darum, die Rolle der Choufs zu kriminalisieren. Vielmehr will die künstlerische Arbeit auf eine bestehende Realität aufmerksam machen: Diese Realität zeigt, dass die Jugendlichen nicht einfach Opfer ihrer Umgebung sind, sondern als Hüter*innen an einem Ort agieren, an dem Polizeigewalt immer präsent ist.
Ohne jedoch diese harte Realität der Jugendlichen zu verzerren, gelingt es der Künstlerin, aus dem Alltag der Jugendlichen etwas Magisches hervortreten zu lassen. Das grüne Neonlicht, das der gesamten Ausstellung einen futuristischen Charakter verleiht, hat seine Inspirationsquelle jedoch im Laser, der eher als Symbol für frühe Technologien und den Beginn des digitalen Zeitalters steht. In ihrer Kindheit arbeitete Oyiris Vater bei Laser Quest, einem Laser-Tag-Franchise, zu dem sie gelegentlich mitgenommen wurde. Aufgrund dieser Erfahrung entwickelte die Künstlerin, die selbst als DJ erfolgreich ist, eine besondere Affinität zu dem Komponisten und bildenden Künstler Bernard Szainer, der durch seine Laser-Harfe große Bekanntheit erlangte.
Der Rückgriff auf vertraute Objekte und deren Verfremdung, wie etwa den Laser, ist eine übliche Strategie der Vertreter*innen des Magischen Realismus, da sie ein überwältigendes Gefühl des Unglaubens vermeiden möchten.3 Durch das Element der Magie gelingt es dem Magischen Realismus, den Blick auf Lebensrealitäten zu lenken, die in der realen Welt existieren, aber aufgrund hegemonialer gesellschaftlicher Strukturen unsichtbar bleiben. Die Grundlagen des magisch-realistischen Erzählens bilden daher oft die Realitäten derjenigen, deren Geschichten durch die verzerrte Darstellung historischer Ereignisse durch das Zentrum verfälscht werden. Die Präsenz der realistischen Welt im magisch-realistischen Werk erfordert von den Rezipient*innen, sich der Realität zuzuwenden, um historische und zukünftige Ereignisse aus einer alternativen Perspektive neu zu bewerten.4
Die Kombination von Musik und grünem Neonlicht mit den Lebensrealitäten der Choufs evoziert in An Eye for an „I“ eine Atmosphäre, die den Ort der Cité als magisch erscheinen lässt. Gleichzeitig intensiviert sie die Kategorien des Realen selbst, weil sie unsere Vorstellungen von Realität und Magie hinterfragt, immer wieder deren Grenzen verschiebt, um schließlich die Konstruiertheit des Realen und die damit verbundenen Lebenswirklichkeiten der Leidtragenden offenzulegen.
Kurz vor den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich postet Oyiri auf Instagram: „Half the world is faking please don’t say you too “ – Oyiri, das ist sicher, is keepin’ it real.

 

 

[1] Susanne Pfeffer im Gespräch mit Christelle Oyiri, in: Booklet zur Ausstellung An Eye for an „I“. Frankfurt am Main: Zollamt/Museum für Moderne Kunst 2024, S. 4.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Abida Younas, Magical Realism and Metafiction in Post-Arab Spring Literature: Narratives of Discontent or Celebration?, in: British Journal of Middle Eastern Studies, 47(4), 2018, S. 544–559.
[4] Ebd.