Riyadh. Erst seit 2019 gibt es Visa für nicht-muslimische Reisende nach Saudi-Arabien und ein Jahr davor wurde der Führerschein für Muslima erlaubt. In der Hauptstadt Riyadh, dem Zentrum der saudi-arabischen Welt, leben mehr als sieben Millionen Einwohner*innen. Diriyah am Rand von Riyadh ist als Geburtsort des Königreichs Saudi-Arabien bekannt und für die Saudis von großer historischer Bedeutung, nicht zuletzt, weil sich hier die alte Hauptstadt At-Turaif befand, eine im 15. Jahrhundert gegründeten Lehmziegelsiedlung der Najd, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Im Rahmen eines 2016 begonnenen Masterplans wurden für die Entwicklung von Diriyah die Vision 2030 proklamiert – der ehrgeizige Plan des Königreichs, 150 Millionen Tourist*innen pro Jahr anzuziehen (der vorprogrammierte Over-Tourismus?!) und die Wirtschaft vom Öl weg zu diversifizieren. Stolze 63,2 Milliarden US-Dollar sind dafür bereitgestellt. Der historische Stadtteil Diriyah ist eine gute Stunde mit dem Taxi vom Zentrum entfernt, im JAX District, einem früheren Industriekomplex, der zur Art-City umgestaltet wurde, fand die Diriyah Biennale 2024 in sechs Ausstellungshallen, die vom Architektenduo Bricklab aus Jeddah in leichten Materialien elegant umgesetzt wurden, statt. Von dort hat man einen Ausblick auf den Wadi Hanifah, ursprünglich eine Oase, ein Tal mit einem jahreszeitlich bedingten Fluss, dessen menschliche Besiedlung etwa 80.000 Jahre zurückliegt – eine Geschichte, die derzeit archäologisch erforscht wird.
Die zweite Diriyah Biennale, die von Ute Meta Bauer als künstlerischer Leiterin, der global wie auch institutionell erfahrenen und krisen- und konflikterprobten Kuratorin und Lehrenden, mit einem vorwiegend weiblichen Team von Ko-Kurator*innen (Rose Lejeune, Wejdan Reda, Anca Rujoiu, Ana Salazar Herrera) sowie mit Rahul Gudipudi als adjungiertem Kurator erarbeitet wurde, versteht sich, so die Organisator*innen, als „kleines, aber wichtiges Flaggschiff“. Seit Beginn ihrer Karriere hat Ute Meta Bauer einen Fokus auf das Schaffen von Künstlerinnen gelegt, Interesse an Architektur und urbanen Entwicklungen verfolgt sowie an der Verschränkung von Kunst, Lehre und Forschung gearbeitet und den Feminismus explizit hochgehalten.
Die Biennale After Rain ist ein Unterfangen mit 177 Kunstwerken von 100 Künstler*innen aus 44 Ländern, wovon 30 Künstler*innen aus dem weiteren arabischen Kulturraum kommen. 47 der Arbeiten sind Auftragswerke. Der Titel After Rain ist eine mehrdeutige Metapher, die nicht nur den Fokus auf das Sehen, sondern sich als Appell an alle Sinne versteht. In Anlehnung an den Titel hat die in Berlin lebende Künstlerin Sissel Tolaas einen Duft entwickelt, der an Petrichor erinnern soll, den erdigen Geruch nach einem warmen Regen. Das Geruchsmolekül beinhaltet Serotonin, welches für den Menschen ein Antidepressivum ist. Der Duft des Petrichors zieht sich durch das gesamte Areal der Biennale. Auch die Französin Anaïs Tondeur hat sich der Erforschung des städtischen Petrichors verschrieben. Sie analysiert Bodenproben in Florenz-Kolben, die sie alle 200 Meter den Zwischenräumen der Backsteine der Stadt entnommen hat, und ordnet diese Glasbehälter zu einer Doppelhelix im Raum an. Die Visualisierung der Glasskulptur in der dunklen Halle wird mit Licht theatralisch in Szene gesetzt und verhält sich wie ein Luxusobjekt in einem Einkaufstempel, während Tolaas’ Duft unsichtbare Akzente aus Spendern setzt.
In der doppelten Strategie des Ausstellungskonzepts liegt das Geheimnis des Erfolgs dieser Biennale. Dala Nassa, Dana Awartani, Rossela Biscotti und viele andere verführen mit Farben und Materialien und setzen auf politische Erzählungen im Hintergrund. Ungeübte Besucher*innen können sich ganz dem Luxus der ästhetischen Darbietungen und Verführungen hingeben, während Biennalegewandte nach den Schrifttafeln suchen, um die vollständigen Informationen zu den Hintergründen der Arbeiten zu lesen. Im Parcours durch die sechs Ausstellungshallen entwickeln sich verschiedene Themenlinien wie „Geschichte und Geschichten“, „Forschung und Recherche“, wo über den Biennalezeitraum hinaus weiterführende künstlerische Forschung unterstützt wird – „Umwelt und Ökologie“, „Moderne Vermächtnisse und Geopoetik“, „Wasser und Habitate“, „Materialwissen und Spirituelle Intelligenz“ und „Zeit und Raum“ – und wo sich verschiedene Lichtstimmungen abwechseln: von ganz dunkel bis gleißend hell und in Nuancen dazwischen. Die Arbeiten finden sich in einem stark inszenierten, hoch ästhetisierten Setting eingebettet und präsentieren sich dadurch auratisch, fast entrückt. Klug und riskant zugleich umschiffen Bauer und ihr Team dabei politische, soziale und religiöse Tabus, öffnen aber im Assoziationsraum einzelner Arbeiten durchaus Resonanzfelder für Kritik an diesen.
Der nasse Wüstensand, ein Versprechen an neues Leben, an Wachstum – Transformation ist das Gebot der Stunde in Saudi-Arabien. Ob die megalomanische Ökonomie mit ihren Gigaprojekten auch soziale Transformationen und Freiheiten mit sich bringen wird? Eines der Highlights von After Rain ist die Installation Saudi Futurism (2024) von dem aus Mailand stammenden Armin Linke und Ahmet Mater, dem Pionier der saudischen Kunst aus Riyadh. Eine gemeinsame Recherche auf der Halbinsel mündete in ihr erstes künstlerisches Experiment – eine Reflexion der Kartografie von Verflechtungen aus historischen, industriellen und wissenschaftlichen Stätten. Das Duo präsentiert seine Ergebnisse – meist in Form von Fotos – dem Publikum in einer visuellen Stellungnahme zu Fragen der Infrastruktur, der Landwirtschaft, der lokalen Ressourcen, des Städtebaus und der Landschaftspflege und zukünftiger Projekte wie das Megaprojekt NEOM. Die Geschwindigkeit der Veränderungen ist enorm, Images als „Datahype“ (Mater) auf unterschiedlich hohen Stahlträgern montiert lassen die Besucher*innen dazwischen für kurze Zeit im Jetzt spiegeln. Die Ambivalenz, der eine aufgeklärt-westlich codierte Ausstellungspraxis sich dabei aussetzt, wird derart ebenso ambivalent in lokale Hegemonien amalgamiert.
So gab es kaum offene Kritik am autoritären saudischen Regime und seiner Politik seitens der Biennalekünstler*innen, und wenn, dann auf sublime Weise. Die saudi-palästinensische Künstlerin Dana Awartani zeigte einen Animationsfilm Listen to my Words (2020), in dem einfache geometrische Muster sich aus Linien aufbauen und verdichten, durchaus im Sinne der islamischen Tradition. Auf der Tonspur hört man Verse über Freiheiten, die von modernen saudischen Frauen vorgetragen werden und sich aus Quellen von arabischen Dichterinnen aus der prä-islamischen Zeit bis zum 12. Jahrhundert speisen.
Der in Dammam (SA) lebende Abdulrahman Al-Soliman konnte zum ersten Mal die Serie von Kalligrafien Palm, Bow and Fragments aus den1990er-Jahren zeigen, worin er sich auf den Golfkrieg bezogen hatte. In seinen Tuschzeichnungen verwandelt sich eine Palme in eine Patrone, die Bögen der Häuser bilden eine Umarmung und Tintenkleckse zerplatzen zu Fragmenten. Der aus Beirut stammende und in Dubai lebende Künstler Vikram Divecha sichert Wandfragmente aus dem öffentlichen Raum als 1:1-Skulpturen, um so ein „Archiv der Gegenwart“ anzulegen und wichtige Fragen im vorherrschenden Transformationsprozess zu Formen des Zusammenlebens und Wohnens, zur eigenen Stadtentwicklung zu stellen.
Die Biennale war ein Publikumserfolg. Die Zahl der Besucher*innen hat sich gegenüber der ersten Biennale auf 222.000 verdoppelt, drei Viertel der Besucher*innen kamen aus der Region. Die vielen Veranstaltungen, freier Zugang und lange Abendöffnungszeiten (bis 23 Uhr), während des Ramadans von 15 Uhr bis 3 Uhr morgens, haben dazu beigetragen. Die beiden Künstler*innen Lucy + Jorge Orta konzipierten ein öffentliches Essensprojekt, ein Ramadan Suhoor mit lokalen Köchen im JAX District. Ein Teil des Erfolgs ist der von bricklab klug zwischen den Hallen platzierten offenen Flaniermeile geschuldet, mit Azra Akšamijas Schatten spendenden Dekorbändern, einer Kaffeebar mit arabischem Kaffee, die in einen belebten Gemüsegarten (Palan) und eine Gemeinschaftsküche (Pakghor) des Britto Arts Trust aus Bangladesch mündet, in der jeden Tag zu einem Abendessen geladen wurde. Das Gemüse mit Ausnahme der Tomaten, die einen Mehltau hatten, wuchs prächtig im Wüstenklima.
Einen stimulierenden Einstieg in die Biennale bot die Installation Charivari (2019) von der aus Dagestan stammenden, in Dubai lebenden Künstlerin Taus Makhacheva, die um Ikonen der sowjetischen Zirkustradition kreiste. Makhacheva überträgt Mikhial Bakhtins These zum Karneval auf den Zirkus, welcher einen freien Raum in einer Gesellschaft, die von Ideologie und staatlichen Narrativen kontrolliert wird, hervorbringt. Der gülden gleißende Wandteppich Detsi (2008–21) aus Flaschenkapseln des aus Ghana stammenden El Anatsui und die bunt bemalten, kopflosen Hampelmänner Kather Niprati (Wooden Lord) von Dhali al Mamoon aus Bangladesch, die sich von Zeit zu Zeit bewegen, üben durchaus auch eine Faszination auf Kinder aus – trotz der traumatischen Kolonialgeschichte im Hintergrund.
Im öffentlichen Raum gibt es Versionen des Billboards Dream (2004–) der französischen Künstlerin Tania Mouraud, in dem sie den Refrain der berühmten Rede von Martin Luther King Jr. aus 1963 aufnimmt und diesen auf Arabisch, Englisch und Urdu in fast abstrakten Bildertafeln visualisiert – ein durch den Stadtraum hallender Appell für Freiheit und Gleichberechtigung.