Heft 3/2024 - Artscribe


brecht: fragments

15. Juni 2024 bis 18. August 2024
Raven Row / London

Text: Georg Schöllhammer


London. Mitten in zwei angloamerikanische Wahlkämpfe hinein eröffnete im Londoner Projektraum Raven Row im Juni ein bemerkenswertes theatrales Ausstellungsprojekt, das ein zentrales Archiv der europäischen Theatergeschichte öffnete und für die Gegenwart – auch performativ – aktualisierte. Unter dem Titel brecht: fragments montierte das Kurator*innenkollektiv1 eine stringente und zur Gegenwart sprechende Auswahl eines bisher kaum sichtbaren Werkkomplexes aus originalen Arbeitsmaterialien von Bertolt Brecht. Brecht nannte diese auf Papierbögen fein kadriert auf die Fläche platzierten Tafeln, auf denen er ein ganzes Arbeitsleben lang Bildmaterial aus Quellen wie Zeitungen und Zeitschriften, Etiketten und Verpackungen anordnete, „Hieroglyphentafeln“. Dieser Hinweis auf die in den Bildern eingeschlossenen sozialen und politischen Texte ist doppelt interessant. Zwar sammelte Brecht diese Bilder für seine literarische Arbeit, mitunter auch für die Bühne – von mittelalterlichen Gemälden und chinesischem Theater bis hin zu zeitgenössischer Kleidung und industrieller Produktion –, aber es ging ihm um mehr: um einen Atlas von Warburg’scher Dimension, der die Gesten der Herrschenden mit dem Leid der Unterdrückten parallel führte und in einem alle Arbeitsmaterialen übergreifendem Collageprojekt festhielt, das die Verwobenheit von Kapitalismus und Faschismus zeigen sollte.
Im Zentrum der Auswahl bei Raven Row stehen Personenbildnisse, arrangiert zu thematischen Feldern in Bildtafeln an den Wänden und in Vitrinen, alles Originalblätter, ganz der Displaylogik historischer Ausstellungen folgend. Brecht arrangierte zeithistorische Ereignisse und ihre Akteur*innen: Politiker*innen, Soldaten, Arbeiter*innen und Menschen auf der Straße. Brecht entdeckte Parallelen der Gesten: der belehrend drohend mit Zeigefinger erhobenem Hand, etwa in einem Bild, das Hitler bei einer Rede zeigt, mit jenem einer Selbstverteidigung des korrupten New Yorker Bürgermeisters Jimmy Walker; er vergleicht das Elend der Armut in Nanking, Berlin und im Spanien des Bürgerkriegs; er montiert das Bild eines vor einer Nazi-Propagandapostille stehenden Schuljungen, der Hitlers Geste von drohend nach vorne gestreckten Fäusten imitiert, mit ebendiesem Bild usw. Oft waren diese Montagen von aufgeklebten Texten begleitet. Über das Foto eines Cockpits eines Jagdflugzeugs schrieb Brecht dann auch die Programmatik des Unterfangens. Es ging ihm um eine Epigrammatik der Gegenwart: „In den altgriechischen epigrammen sind die von den menschen verfertigten gebrauchgegenstände ohne weiteres gegenstand der lyrik, auch die waffen. /.../ es sind in unserer zeit nicht zuletzt moralische hemmungen, welche das aufkommen solcher lyrik der gegenstände verhindern.“ Mit Ausnahme der Kriegsfibel, Brechts Bild-Text-Essay über den Krieg im Kapitalismus, der ab 1936 entstand und erst 1955, von Ruth Berlau herausgegeben im Jahr vor Brechts Tod publiziert wurde, ist der größte Teil dieses Materials noch wenig bekannt und vieles in fragments zum ersten Mal ausgestellt.
Auch Brechts dramatische Werke, sein episches Theater, folgte dem Montageprinzip, der von Eisenstein filmisch vorgeführten Juxtaposition, wurde aus Textfragmenten collagiert, verließ den linearen Fluss des klassischen Dramas, indem es die Handlung kommentierte. Brecht skizzierte seine Theaterstücke in Mappings, ausgeschnittenen und auf großen Papierbögen zu Montagen zusammengestellten dramatischen Feldern, skizziert.
In Raven Row zeugt davon eine große, aus Textsplittern und Fragmenten sowie Presse-Clippings aufgebaute Skizzenlandkarte, die er 1941 im finnischen Exil für die in nur drei Wochen geschriebene epische Theaterparabel Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui erarbeitete, welche den Aufstieg Hitlers in eine amerikanische Gangsterwelt eines Al Capone transferierte und als eine zentrale Archivalie um Brechts Montagekonzept zu verstehen ist. Ui ist ein Versuch, der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu erklären, dass er in ihr vertrautes Milieu versetzt wurde. Und zeigt, wie Brecht den Faschismus vor allem als Konsequenz der entfremdeten und pauperisierenden Produktionsverhältnisse verstand – angetrieben von einer rechten Propagandamaschine – und wie wenig er dabei dessen antisemitische und rassistische Grundlage mit reflektierte. Brecht kommentierte diese Arbeitsweise in seinem Arbeitsjournal, in das er ab Januar 1940 nicht nur private Bilder, sondern auch Fotos und Zeitungsausschnitte zum aktuellen Kriegsgeschehen aus britischen und schwedischen Printmedien montierte. Er notierte: „welche ausbeute für das theater bieten die fotos der faschistischen illustrierten wochenblätter! Diese akteure verstehen die kunst des epischen theaters, vorkommnissen banaler art den historischen anstrich zu geben.“ (Arbeitsjournal, Eintrag vom, 8. Oktober 1940)
Anders als etwa in Tucholsky und Heartfields zeitgleich entstandenem Bildband Deutschland, Deutschland über alles besteht Brechts Methode im Reframing, im Freistellen, im genau kadrierten Setzen von Gegenüberstellungen von Ähnlichkeit und Oppositionen. Diese Brecht’sche Montagetechnik wird in fragments kuratorisch und im Display der Ausstellung klug erneut reframed und kommentiert. Materialien und Textskizzen wandeln ihren Status vom Original zur Kopie, werden zur Dekoration verfremdet, zur wandzeitungshaften Collage und geben den Hintergrund für die in vielen Räumen der drei Etagen von Raven Row abgestellten Ministages und Bühnen-Props aus Karton, deren Status zwischen skulpturalem Kommentar und Requisite changiert. Diese Strategie des Reframings wird zusätzlich auf rein formaler Ebene durch die offensichtliche Rahmung unterstützt, welche das Archiv als epistemischen Hintergrund ausstellt: Denn diese doppelte Wendung verdankt sich nicht nur der Intention, historisches Material mit gegenwärtiger Repräsentation zu verschränken, sondern auch der performativen Anlage des Projekts: Phoebe von Held hat in den in die Schau integrierten 90-minütigenTheaterszenen aus vier unvollendeten, in den 1920er-Jahren geschriebenen Texten Brechts verschnitten, welche zweimal täglich von Schauspieler*innen in gleichfalls collagierten Kostümen, die sie ständig wechseln und durch die Schau ebenso theatral führen, wie sie dies zum Hintergrund einer Performance von zum heute sprechenden Brecht-Fragmenten machen.2
Dieses wichtige Projekt aktualisiert das Format der historischen Ausstellung und reflektiert es auf der Oberfläche der gegenwärtigen, oft blinden Imagophilie als Modell historisch-kritischer Gegenwartsanalyse. Deren Grenzen hatte auch Brecht erkannt. Er schrieb schon 1931 in sein Arbeitsjournal: „Die ungeheuere Entwicklung der Bildreporttage ist für die Wahrheit über die Zustände, die auf der Welt herrschen, kaum ein Gewinn gewesen: die Photographie ist in den Händen der Bourgeoisie zu einer furchtbaren Waffe gegen die Wahrheit geworden. Das riesige Bildmaterial, das tagtäglich von den Druckerpressen ausgespien wird und das doch den Charakter der Wahrheit zu haben scheint, dient in Wirklichkeit nur der Verdunkelung der Tatbestände. Der Photographenapparat kann ebenso lügen wie die Setzmaschine.“3

 

 

[1] brecht: fragments wurde von der von der Londoner Theaterwissenschaftlerin und Regisseurin Phoebe von Held in Zusammenarbeit mit dem Oxforder Brecht-Experten Tom Kuhn, Alex Sainsbury, der Raven Row gegründet hat und leitet, sowie Iliane Thiemann vom Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste, Berlin, kuratiert.
[2] Über die Performance kann ich hier leider nicht berichten, da sie während meines Besuchs wegen der Erkrankung eines Darstellers ausfallen musste.
[3] Erhellend für Brechts Methode ist hier folgende Studie: Thomas von Steinaecker, Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Dissertation, München, Bielefeld: Transcript 2007.