Heft 3/2024 - Verwicklungen


Zusammenstehen

Gespräch mit Isabel Frey und Nadine Sayegh über die von ihnen gegründete Friedensinitiative Standing Together Vienna

Christian Höller


Isabel Frey, geboren in eine säkulare jüdische Familie, ist Sängerin und arbeitet am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu ihren Spezialgebieten zählen jiddischen Revolutions- und Widerstandslieder, festgehalten unter anderem auf ihrer Plattenveröffentlichung Millenial Bundist (2020).
Nadine Sayegh, geboren in Beirut, wuchs gleichfalls in Wien auf und ist ausgebildete Betriebswirtin. In ihrem Buch Orangen aus Jaffa hat sie 2021 die Vertreibung ihres palästinensischen Vaters 1948 aus Jaffa rekapituliert.
Im unmittelbaren Gefolge des 7. Oktober gründeten die beiden zusammen mit anderen die Initiative Standing Together Vienna, aufbauend auf der Arbeit des seit 2009 bestehenden Kunstkollektivs OneState Embassy (geleitet von dem palästinensischen Künstler Osama Zatar und seiner jüdischen Kollegin Inbal Volpo). Im Gespräch erläutern Frey und Sayegh die Hintergründe und Ausrichtung ihrer Bewegung.

Christian Höller: Die Friedensinitiative Standing Together wurde 2015 in Israel gegründet und hat dort inzwischen mehr als 5.000 Mitglieder. Wie kam es zur Gründung von Standing Together Vienna, und was genau hat Ihre Beteiligung daran motiviert?

Isabel Frey: Ausgangspunkt war, dass nach dem 7. Oktober plötzlich alle Brücken der Verständigung, egal, wie brüchig sie zuvor gewesen sein mochten, komplett abgerissen waren. Es gab in der Woche darauf in Wien zwei Kundgebungen: Bei der einen ging es um Solidarität mit Israel, woran auch viele Politiker*innen teilnahmen – ein großes Spektakel. Gleichzeitig gab es eine Demo auf dem Stephansplatz, die Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung bekunden wollte und der im Anschluss vorgeworfen wurde, sie habe den 7. Oktober bejubelt. Umgekehrt wurde der pro-israelischen Kundgebung vorgeworfen, sie würde die damals schon beginnende Bombardierung von Gaza begrüßen. Jedenfalls gab es nirgendwo einen Raum, in dem die Menschlichkeit der jeweils anderen Seite anerkannt wurde. Davon ausgehend bestand unsere Idee darin, eine wöchentliche Mahnwache für alle israelischen und palästinensischen Opfer abzuhalten, ohne dabei werten zu wollen.

Nadine Sayegh: Ich war überrascht und zugleich auch erfreut, als Isabel mich gefragt hat, ob ich an dieser Mahnwache teilnehmen und dort sprechen möchte. Als Diaspora-Palästinenser*in ist man gewöhnt, nicht öffentlich zu sprechen, weil wir darauf konditioniert sind zu schweigen. Schließlich werden wir, wenn wir uns äußern, üblicherweise als Antisemit*innen oder sonst wie beschimpft. Viele von uns haben sich daher lange hinter anderen Identitäten und Nationalitäten versteckt: Wenn jemand im Libanon geboren wurde, hat er*sie gesagt, er*sie sei Libanes*in; hat man zufällig eine italienische Mutter, ist man Italiener*in. Es ist schlicht und ergreifend nicht respektabel, in Österreich Palästinenser*in zu sein. Aber mit der Zeit reift man als Mensch und steht zu dem, was man ist. Mein Gedanke war daher: Wenn ich nicht für Gerechtigkeit einstehe, wer tut es dann?

Höller: Im Gründungsstatement von Standing Together Vienna heißt es, man sei ein „jüdisch-arabisches Bündnis für den Frieden im Nahen Osten“, das sich gegen jegliche Form von Kriegsführung gegen Zivilist*innen, egal, auf welcher Seite, wende.1 Einseitige Sichtweisen oder Verabsolutierungen stellen eines der Hauptprobleme rund um den gegenwärtigen Konflikt dar, und meine Frage lautet, wie man dem entgegentreten kann. Mit dem bloßen Aufrechnen von Opferzahlen ist es vermutlich nicht getan …

Frey: Wir haben schon auch immer wieder Zahlen genannt oder zum Beispiel am Internationalen Frauentag versucht, die Namen aller israelischen und palästinensischen Frauen, die getötet wurden, aufzuzählen – wobei bei den palästinensischen verständlicherweise sehr viele fehlten. Fakt ist, dass palästinensisches Leben in der Region viel weniger zählt, zumindest aus Sicht des israelischen Regimes, weshalb es auch wichtig ist, konkrete Zahlen zu nennen. Leider gibt es von beiden Seiten immer wieder Bekundungen, „unsere“ Toten seien wichtiger als „eure“, und der Rest ist quasi Kollateralschaden. Hier wollen wir dagegenhalten und sagen: Wir werten nicht, welches Menschenleben kostbarer oder welche Art zu sterben schlimmer ist. Für uns ist das Töten auf keiner Seite legitimierbar.

Sayegh: Für mich sind diese Zahlen generell nicht wirklich fassbar – wenn man überlegt, dass es in Gaza 40.000 Tote, die meisten davon Zivilist*innen, davon wieder die meisten Frauen und Kinder, und dazu noch mehr als 80.000 Verletzte gibt. Wer möchte, kann das in den sozialen Medien genauestens mitverfolgen, man braucht dazu aber einen guten Magen. Was da passiert, ist meines Erachtens einfach nur bestialisch und mittelalterlich, und besonders schockierend finde ich, wie die westliche Welt darauf reagiert. Zusätzlich findet auch eine starke Polarisierung mit dem globalen Süden statt. Dort sagt man: Wir sind nicht wichtig, wir sind nicht reich, wir haben keine politische Macht, aber wir sind viele; ihr hingegen erlaubt euch, nur weil ihr der Westen seid und einfach alle diese Assets habt, dass das palästinensische Volk massakriert wird. Ich glaube, dass das insgesamt für die Welt sehr destabilisierend ist.
Das Ganze hat auch einen starken wirtschaftlichen Hintergrund: Wer seit einem dreiviertel Jahr schaut, was sich an der Börse abspielt, sieht, dass alle Aktien angezogen haben so wie in den Dekaden davor nicht, angetrieben durch die Rüstungsindustrie. Diesbezüglich gibt es keine Motivation, den Krieg in Gaza zu beenden. So wie es auch keine Motivation gibt, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Die Rüstungsindustrie zieht viele andere Industrien mit sich mit, die gleichfalls einen Höhenflug erleben.

Höller: Ein anderer Aspekt, den ich ansprechen wollte, ist, dass Standing Together sich dezidiert gegen „selektive Trauer“ wendet, oder wie es im Mission Statement heißt, „gegen die Manipulation von Trauer als Mittel zur Aufrechterhaltung von Gewalt“2. Wo sehen sie eine solche Instrumentalisierung am eklatantesten gegeben?

Frey: Auf israelischer Seite wurde relativ kurz nach dem 7. Oktober der Horror über das, was geschehen ist, dahingehend kanalisiert, dass nun ein Zerstörungskrieg gegen Gaza geführt werden muss. Wogegen sich sogar Angehörige von Opfern ausgesprochen haben, etwa Noy Katsman, der Bruder von Hayim Katsman, einem Friedensaktivisten und Wissenschaftler, der im Kibbutz Holit gelebt hat und dort ermordet wurde.3 Beide waren oft zusammen in der Westbank und haben dort gegen die Vertreibung von Palästinenser*innen durch israelische Siedler und die Armee demonstriert.
Von Israelis in unserer Gruppe weiß ich, dass im israelischen Fernsehen seit dem 7. Oktober nur noch Informationen über das Massaker laufen, aber nichts über das, was in Gaza passiert. Darüber erfährt man nur aus linksliberalen Medien wie Haaretz, aber das liest der Mainstream nicht. Ich muss auch sagen, dass in der jüdischen Gemeinde in Wien Menschen, die ich kenne und die sich als Liberale mit humanistischen Idealen bezeichnen, alles immer noch sehr selektiv wahrnehmen. Gleichzeitig schockiert mich auch die völlig entmenschlichte Verklärung des 7. Oktober in der akademischen, postkolonialen Blase: Hinüberzustechen in die Kibbutzim und dort Menschen zu massakrieren, so schaue halt die Dekolonisierung aus. Auch dass man die Hamas, die keineswegs repräsentativ ist für die palästinensische Bevölkerung, als emanzipatorische Gruppe sehen kann, ist mir ein Rätsel. All das schadet jenen, die realistisch auf die Situation blicken und Frieden wollen.

Sayegh: Was mich stört, ist, dass gemäßigte Stimmen systematisch aus dem Diskurs eliminiert werden. Es gibt ein bewusstes Bestreben danach, nur extremistische Positionen gelten zu lassen und alles dazwischen auszumerzen. Ich werde immer wieder gefragt, wen es denn in Palästina außer Hamas oder Fatah gäbe? Meine Antwort lautet, dass es eine ganze Reihe von gemäßigten Politiker*innen gibt, dass aber jedes Mal, wenn eine*r davon etwas Oberwasser bekommt, eine von zwei Sachen passiert: Entweder werden sie in „administrative detention“ genommen und landen in israelischen Gefängnissen, oder sie werden von jemandem aus den eigenen Reihen umgebracht. Außerdem heißt es oft, dass sei ein völlig unlösbarer Konflikt – was überhaupt nicht wahr ist, schließlich gibt es für alles eine Lösung, jeder Krieg hat einen Anfang und ein Ende. Andere Länder wie Südafrika, Ruanda oder Bosnien haben das auch schon vorgemacht, es sind dazu halt ein paar schwierige Etappen nötig. Die erste davon sind wir meiner Meinung nach schon bis zu einem gewissen Grad gegangen: Es gab zum Beispiel hier nach dem Zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse, und es gibt jetzt einen Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der ebenfalls schon seit einiger Zeit arbeitet. Das zweite ist, dass wir eine internationale Konferenz brauchen, „gebrokert“ von einer ehrlichen Macht. Die USA haben sich ausgeschossen aus diesem Prozess, die Europäer*innen machen im Moment auch keine gute Figur, aber vielleicht kann man auf den globalen Süden pochen. Und schließlich noch zu den Politikern, die es auf palästinensischer Seite bräuchte – es gibt sie! Wir haben unseren Nelson Mandela, der heißt Marwan Barghuthi, sitzt aber im Gefängnis. Er ist nicht Hamas, und er ist nicht korrupt wie Fatah. Sollte er jemals freigelassen werden, würden sofort alle hinter ihm stehen.

Höller: Ich wollte zu einem anderen schwierigen Thema kommen: In der Anfangsphase des Krieges wurden Rufe nach einem Waffenstillstand oder pro-palästinensische Kundgebungen in Deutschland und Österreich umgehend mit Antisemitismus in Verbindung gebracht. Allein das Tragen eines Palästinensertuchs galt quasi als Zeichen für eine antisemitische Haltung. Was kann man dem sinnvollerweise entgegenhalten?

Frey: Es findet hier eine Bedeutungsverschiebung des Antisemitismusbegriffs statt – etwas, wogegen ich seit vielen Jahren ankämpfe. Abgesehen davon, dass damit jegliche Form von Israelkritik und jede Solidarität mit Palästinenser*innen mundtot gemacht werden, hilft es auch im Kampf gegen Antisemitismus nicht wirklich weiter – im Gegenteil, dieser wird dadurch noch schwieriger. Aber es gibt seit 2021ein tolles Tool, das ist die sogenannte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die von sehr klugen Wissenschaftler*innen, Holocaust-Forscher*innen und Antisemitismusforscher*innen konzipiert wurde, um hier Klarheit zu schaffen.4 Die Erklärung ist ziemlich hieb- und stichfest und macht deutlich, dass es antisemitisch ist zu sagen, alle jüdischen Israelis sollen raus aus dem Land, genauso wie es antipalästinensisch wäre zu sagen, alle Palästinenser*innen sollen raus aus dem Land. Gleichzeitig gilt es anzuerkennen, dass Menschen, die seit Generationen an einem bestimmten Ort leben, ein Recht haben, dort nach dem Gleichheitsgrundsatz behandelt zu werden. Zu sagen, man möchte eine binationale Lösung oder eine Konföderation, wie es Omri Böhm vorschlägt,5 kann nicht antisemitisch sein. Das betrifft auch den Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ – ein sehr unspezifischer Spruch, der so oder so interpretiert werden kann. Aber was passiert ist, ist, dass man zuletzt immer die schlimmstmögliche Interpretation hergenommen hat und behauptet, dass sei die alleinige Bedeutung. Umgekehrt kann der Spruch auch als gleichheitsbasierte Losung gedeutet werden, die auf gleiche Menschenrechte für alle abzielt.
Solche Verschiebungen passieren ständig und gehen so weit, dass alle, die sich für Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten einsetzen, unter Generalverdacht stehen, als wäre dieses Anliegen per se schon antisemitisch. Palästinenser*innen haben es sich ja nicht ausgesucht, dass ihre Besatzungsmacht Jüd*innen sind. Als jemand, der dem Zionismus kritisch gegenübersteht – auch weil ich glaube, dass er der Vielfalt jüdischen Lebens auf der Welt eher schadet als sie zu fördern –, denke ich, dass es auch den Antisemitismus eher antreibt, wenn der Staat Israel permanent so tut, als würde er im Namen aller Jüd*innen agieren.

Sayegh: Ich pflichte dem bei und denke, dass die Deutschen und Österreicher*innen in Wirklichkeit Jüd*innen nichts Gutes tun, wenn sie umgehend alles als antisemitisch titulieren, was nicht pro-zionistisch ist. Damit sprechen sie Jüd*innen das Recht ab, vielleicht keine Zionist*innen sein zu wollen. Isabel und ich haben Freundinnen, die Jüdinnen sind und von österreichischen Politikern als Antisemitinnen beschimpft werden, weil sie sich für die palästinensische Sache einsetzen. Damit wird in Wirklichkeit einer Segregation Vorschub geleistet, und ich habe den Eindruck, dass das eine gewisse Eigendynamik angenommen hat. Deutsche und Österreicher*innen wollen hier Musterschüler sein und den Jüd*innen zeigen: Wir bereuen so sehr, was wir getan haben, dass wir jetzt sogar bereit sind, eure extremistischsten Strömungen zu unterstützen.

Höller: Gibt es konkrete Anfeindungen gegen Standing Together Vienna?

Frey: Nicht von der Öffentlichkeit, es wäre wohl auch schwierig, einer jüdisch-arabischen Friedensinitiative Menschenverachtung oder Ähnliches vorzuwerfen. Was es aber schon gibt, ist Gegenwind aus der jüdischen Gemeinde, den ich schon seit Jahren spüre, etwa dafür, dass ich in der Westbank und in Ost-Jerusalem demonstriert habe. Nach unserer Gründung kam von dort zum Beispiel der Vorwurf, wir würden die Opfer gleichsetzen – was wir aber von der anderen Seite genauso zu hören bekommen. Wobei die Mainstreammeinung in der jüdischen Gemeinde die ist, dass die israelischen Opfer die wahren Opfer seien; zu sagen, man trauert um beide Opfer, sei in etwa so, als würde man zugleich der in Auschwitz Ermordeten und der Bombenopfer in Dresden gedenken – ein Vorwurf, den ich extrem zynisch fand. Was wir auch immer wieder zu hören bekommen, ist, dass wir uns zu wenig abgrenzen würden, und wie man denn diesen Krieg nicht unterstützen könne.

Sayegh: Meine arabischen Freund*innen unterstützen mein Engagement für Standing Together und sind froh, dass überhaupt jemand etwas tut. Wie gesagt sind wir darauf trainiert, nicht zu sprechen und uns hier so unauffällig wie möglich verhalten. Insofern freuen sich viele, dass das Ganze durch jüdische und israelische Aktivist*innen getragen wird, weil das bei Österreicher*innen und Deutschen einfach besser ankommt. Wenn es eine rein palästinensische Initiative wäre, würde sie sicher sofort abgeschmettert werden.

Höller: Realiter sind sowohl Antisemitismus als auch Muslim*innenfeindlichkeit markant im Steigen begriffen, das zeigt eine Reihe von aktuellen Berichten.6 Was tun gegen diese Entwicklung? Und vielleicht damit zusammenhängend: Gibt es am Ende womöglich „Nutznießer*innen“ dieser gefährlichen Gemengelage, denen es machtmäßig in die Hände spielt, wenn immer mehr Feindseligkeiten in beide Richtungen auftreten?

Sayegh: Ich glaube, dass diese Gefahr real ist, möchte dem aber ein Gedankenexperiment entgegensetzen: Wenn es einen gerechten Frieden im Nahen Osten gäbe, was würde dann mit dem Antisemitismus passieren? Implodiert er oder bliebe er inhärent? Ich weiß es natürlich nicht, würde jedoch darauf tippen, dass die Anfeindungen mit der Zeit weniger würden. Zum antimuslimischen Sentiment gibt es etwas, das mich etwas verärgert: Im Diskurs wird nämlich ganz darauf vergessen, dass es in Palästina, im Libanon und in Syrien große christliche Minoritäten gibt, wozu beispielsweise auch ich zähle. Das ist eine Bevölkerungsgruppe, die lange sehr viel zu sagen hatte und ausgezeichnet mit der muslimischen Mehrheit ausgekommen ist, aber das wird völlig ausgeblendet. Es wird auch ignoriert, dass fast alle christlichen Kirchen in Gaza zerstört worden sind – Kirchen, die es seit Jahrhunderten gab. Dass die christliche Bevölkerung ebenso wahllos getötet wird, liegt daran, dass man alles zuzuspitzen versucht, so wie George W. Bush es damals gemacht hat, als er vom Krieg der Zivilisationen, good versus evil, Moslems gegen Christen und Juden, sprach. Aber die Situation ist in Wirklichkeit eine andere, und ich kann sogar belegen, dass das Christentum in meiner Familie älter ist als jenes einer durchschnittlichen österreichischen Familie; und dass das Leben dort, ich vermute aus der Situation heraus, dass man unter Andersgläubigen lebt, so wie die Jüd*innen in Europa, tief verwurzelt ist in ihrer Tradition. Dass man ihnen das völlig abspricht und sagt, alle Palästinenser*innen seien Moslems, ist absurd und verkennt die Realität völlig.

Frey: Ich glaube ebenfalls, dass ein gerechter Frieden das beste Mittel gegen Antisemitismus wäre. Trotzdem würde er dann nicht verschwinden, sondern übrig bliebe wohl der alte Nazi-Antisemitismus in Österreich, der leider sehr tief verankert ist. Durch die momentane Zuspitzung auf Juden gegen Moslems wird man der Vielfalt in der palästinensischen Bevölkerung, aber auch der israelischen Bevölkerung, sicher nicht gerecht. Was wirklich perfide ist, ist, dass hier Minderheitengruppen gegeneinander ausgespielt werden, und in Europa dient der Kampf gegen Antisemitismus unter anderem dazu, andere Menschen auszugrenzen. Das beste Beispiel für mich ist ein Begriff, der in Deutschland sehr populär geworden ist, der des „importierten Antisemitismus“. Ich finde es absurd, dass in einem Land, das den größten Völkermord an Jüd*innen und eines der größten Menschheitsverbrechen überhaupt begangen hat, behauptet wird, der Antisemitismus sei importiert. Als sei das nicht die eigene Erfindung gewesen.
All das passiert, um sich selbst reinwaschen und die Schuld auf andere abzuwälzen, die überhaupt nichts mit all dem zu tun haben, etwa geflüchtete Menschen aus Sub-Sahara-Afrika. Und dann gibt es noch den perfiden Begriff des „judeo-christlichen“ Abendlands. Das ist ebenfalls ein Kulturkampfbegriff, der auf Ausgrenzung zielt. Nicht, dass jüdisch-christliches Zusammenleben heutzutage nicht funktionieren würde, das tut es in der Tat, aber von einer „judeo-christlichen“ Zivilisation kann wirklich nicht die Rede sein, wenn man sich anschaut, was alles an Gewalt und Vertreibung geschehen ist. Das sind einfach Methoden der Ausgrenzung …

Sayegh: … und der Desinformation. Ich war schockiert, als ich vor Kurzem im Radio einen Beitrag gehört habe, in dem es hieß, Israel sei das Bollwerk der judeo-christlichen Zivilisation im Nahen Osten. Ich dachte, mir wird übel – ein Bollwerk, um die schmutzigen Araber im Zaum zu halten.

Höller: Was Standing Together aktiv verfolgt, ist eine Ausweitung des antidiskriminatorischen Kampfes auf „alle ausgegrenzten Menschen in Wien, deren Leben durch den anhaltenden Krieg unmittelbar betroffen ist“7. Meine Frage dazu lautet, inwiefern das Leben hier in Österreich bzw. Wien tatsächlich direkt betroffen ist von den Vorgängen in zweieinhalbtausend Kilometern Entfernung.

Sayegh: Ich habe palästinensische Freunde in Wien, deren Verwandte auf offener Straße erschossen worden sind. Teil davon war der besonders tragische Fall einer 85-jährigen Frau, die als Kind die erste Nakba erlebt hat und deren Familie aus der Gegend von Jaffa nach Gaza geflüchtet ist. Nachdem die israelische Armee gesagt hat, wir werden euer Haus bombardieren, wollte sich die Familie in Sicherheit bringen, aber kaum hatten sie das Haus verlassen, sind alle erschossen worden. Ich weiß das von der Cousine eines Freundes, der in Wien wohnt.

Frey: Ich glaube, es gibt unterschiedliche Betroffenheitsgrade und biografische Bezüge zu der Region. Das muss nicht immer Familie sein, ich habe zum Beispiel nicht so viele Verwandte in Israel, aber trotzdem sind wir alle auf gewisse Weise involviert – als Jüdin in Wien ist man „impliziert“, ständig mitgemeint und gleichsam im Gefecht mit drinnen. Außerdem wollen wir durch persönliche Narrative dem kalten Blick von außen bewusst etwas entgegensetzen, deshalb war es uns auch sehr wichtig, bei allen Redebeiträgen auf den Mahnwachen persönliche Perspektiven in den Mittelpunkt zu stellen. Unser Bezug geht auch über die engere Region hinaus – so ist beispielsweise bei unseren Kundgebungen die kurdische Sängerin Sakina Teyna aufgetreten. Durch ihren Bezug zu Kurdistan kommen andere Formen der Betroffenheit ins Spiel, und es entstehen auch andere Formen von Solidarität, indem verschiedene Geschichten miteinander verwoben werden.
Viele Menschen hier sind ganz unmittelbar von antipalästinensischem und antimuslimischem Rassismus und natürlich auch von Antisemitismus betroffen. Ich habe beispielsweise immer gerne den Davidstern getragen, aber jedes Mal, wenn ein Gaza-Krieg ausbrach, habe ich damit aufgehört, weil ich mir gedacht habe, in der U-Bahn will ich einfach das Risiko nicht eingehen, deswegen attackiert zu werden. Was dazu kam, war, dass das letzte Mal, als ich in Israel war, in Ost-Jerusalem die Siedler überall mit Fahne und Davidstern aufgetreten sind, was eine klare Instrumentalisierung dieses alten Symbols darstellt, wie ich sie nicht gutheiße. Inzwischen bin ich auf der Suche nach einem anderen Symbol – infrage käme die Hamsa, eine Hand mit fünf Fingern, die auch ein religionsübergreifendes und verbindendes Symbol darstellt.
Eine andere Auswirkung zeigte sich, als wir für ein jüdisches Kulturfestival in Wien, das KlezMORE-Festival, eine eigene Security engagieren mussten. Ich selbst war gespalten, ob das wirklich notwendig ist, doch es wurde von vielen gefordert, die sich unsicher fühlten, und ich kenne auch Musiker*innen, die ihre Konzerte absagten, weil ihnen ein Auftritt zu heikel war. Meines Erachtens ist es genau die falsche Reaktion, jüdische Musikkonzerte abzusagen, weil man dem Antisemitismus vorbeugen will. Es leiden dann ja erst recht wieder zumeist prekäre Musiker*innen darunter.

Höller: Rudolf Scholten, der Präsident der Wiener Festwochen, hat rund um die Auseinandersetzung um diverse Festwocheneinladungen (etwa den Philosophen Omri Boehm betreffend), die sehr vehement geführt wurden, von „selbstverliebten Wiener Stellvertreterkriegen“8 gesprochen. Sehen Sie das auch so?

Frey: Ich sehe das genauso – diese Hysterie, mit der teilweise debattiert wird, von Leuten, die keine Ahnung haben. Menschen projizieren häufig etwas auf den Nahostkonflikt bzw. den Krieg, nur um sich selber darzustellen.

Sayegh: Das war eine sehr elegante Wortspende von Dr. Scholten, weil er damit alle Beteiligten sehr subtil kritisiert und jede*r trotzdem glauben kann, dass nur der*die jeweils andere gemeint ist.

Höller: Im kulturellen Feld gab es immer wieder jüdisch-palästinensische Vermittlungsversuche, man denke nur an das 1999 von Edward Said und Daniel Barenboim gegründete West-Eastern Divan Orchestra, das die Zusammenarbeit zwischen israelischen, palästinensischen und anderen arabischen Musiker*innen forcieren wollte und das bis heute in einer eigens eingerichteten Akademie tut. Wie schätzen Sie den Wert solcher kulturellen Projekte ein? Hat die Kunst hier eine Vorreiterrolle, oder muss man anerkennen, dass ihre Effektivität im realen Leben doch eher überschaubar ist?

Frey: Generell ist es wichtig, Räume für Dialog auch über die Kunst zu schaffen, selbst wenn das in einer asymmetrischen Situation nicht immer leicht ist. So ist es etwa schwierig zu sagen, man nimmt Menschen, die in Tel Aviv in einer schicken Stadtwohnung leben, und setzt sie zusammen mit jemandem aus dem Gaza-Streifen oder einem Flüchtlingscamp in der Westbank, der*die aus Ost-Jerusalem vertrieben wurde und jetzt keine Papiere mehr hat. Das sind Ungleichheiten, die man nicht einfach ausblenden kann. Andererseits ist der Dialog total wichtig, und die Palästinenser*innen und Israelis, die vor Ort leben, wissen, dass es gar nicht anders geht. Wir haben bei Standing Together zum Beispiel eine Palästinenserin, die in Jerusalem aufgewachsen ist, seit 15 Jahren in Wien lebt, die jetzt das erste Mal Hebräisch in einem freundlichen Kontext aus der Gegend von Jaffa hört. Davor hat sie Hebräisch immer nur von israelischen Soldat*innen gehört.
Ich glaube auch gar nicht, dass Vermittlungsversuche über die Kunst so wenig Effekt haben – jedenfalls nicht weniger als in anderen Bereichen. Was beim West-Eastern Divan Orchestra hinzukommt, ist, dass die Vermittlung über westliche Kunstmusik erfolgt und damit über europäische, weiße, alte Meister – um Frieden zu schaffen in einer Region, die mit dieser Art Kultur eigentlich wenig zu tun hat. Man reproduziert hier auf gewisse Weise die Hegemonie der westlichen Kunstmusik, und ich sage das als Ethnomusikologin, die sich stark mit traditioneller Musik beschäftigt.
Unsere gemeinsame Freundin Petra Klose, die lange Zeit Kulturbeauftragte am Willy Brandt Center in Jerusalem war, hat immer wieder von Projekten mit israelischen und palästinensischen Musiker*innen erzählt. Die Israelis steigen einfach am Flughafen Ben-Gurion in den Flieger nach Deutschland. Die palästinensischen Musiker*innen hingegen müssen teilweise von Checkpoint zu Checkpoint erst nach Jordanien reisen, dann wird ihnen auch noch das Cello abgenommen, irgendwann bekommen sie es dann wieder, und 15 Stunden später kommen sie in Deutschland an und sollen dann gemeinsam Mozart im Zeichen des Friedens spielen. Solche Projekte müssten einfach anders realisiert werden, wobei auch diese Machtungleichheiten nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfen.

Sayegh: Ich kann dem nur beipflichten und möchte hinzufügen, dass uns tatsächlich die Kunst zusammengebracht hat. Wir haben uns in Jerusalem kennengelernt, Isabel war eingeladen, um jiddische Lieder zu singen, und ich war eingeladen als Autorin, um mein Buch vorzustellen. Bei diesem Meeting sind wir draufgekommen, dass wir beide Wienerinnen sind. Wir sind zurückgekehrt und haben das Projekt Standing Together begonnen. Zwar steht die Kunst dabei nicht im Vordergrund, vielmehr geht es um politisches Engagement, ausgelöst wurde das aber in einem kulturellen Zusammenhang.

https://www.onestateembassy.com/standingtogethervienna