Heft 4/2024 - Netzteil
Es gebe niemals ein Dokument der Kultur, das nicht zugleich eines der Barbarei sei, flüstert eine männliche Stimme (auf Englisch) aus dem Off gleich in den ersten Minuten dieses Filmes. Es ist ein Zitat aus Walter Benjamins viel gelesener Reflexion „Über den Begriff der Geschichte“, die er im Frühjahr 1940 schrieb, ein halbes Jahr, bevor er sich auf der Flucht vor den Nazis in Port Bou, Spanien, das Leben nahm. Benjamin versuchte in seinem Essay eine Kritik der aus dem historischen Materialismus resultierenden Erkenntnismöglichkeiten. Er schärfte mit dieser und anderen Schriften auch den Blick auf eine Zeit, in der Bilder und Bildkonstellationen historische Wahrheiten produzieren. In unserer Gegenwart steht mit generativer Künstlicher Intelligenz eine neue Kulturtechnik für diese Wahrheitsfabrikation zur Verfügung.
Der Filmemacher Christian von Borries – oder genauer: Cricri sora ren, ein Duo, das er mit einer KI bildet – beschäftigt sich in Do You Want to See Part Two? mit der Rolle, die KI bei der Produktion von Geschichte spielen könnte. Kaleidoskopisch nähert sich der Film der Benjamin’schen Jetztzeit, einem Konzept, laut dem die Vergangenheit und die Zukunft stets als Set von Möglichkeiten in der Gegenwart enthalten sind. Dabei dreht sich der Film um ein narratives Moment, das eine alternative Geschichte entwirft: Putins Ermordung im Jahr 2022. KI-Bilder von dessen Beerdigung flackern über Screens, Bilder von einer Militärparade in Russland werden per Untertitel in eine „Military Parade in memoriam Vladimir Putin“ umgedeutet. Doch Putins Tod erscheint in dieser Fiktion nicht etwa als befreiender Ausweg. Die Massen sind längst gleichgeschaltet und feiern unter ihrer Flagge; das „Z“, das den Russ*innen als Zeichen für ihren „Sieg“ gilt, ist immer präsent.
Der Film springt hin und her zwischen mehreren Zeitebenen. Und überhaupt geht es ihm vor allem darum, die Orientierung des Publikums zu unterwandern. Die Zuschauenden tauchen ein in eine immersive Synthese aus gefundenem Material, dokumentarischen Aufnahmen und KI-Szenen. Fundstücke von YouTube, TikTok, OnlyFans oder Videospielen sowie historisches Filmmaterial treffen auf Aufnahmen, die während einer Siegesparade in Moskau, auf Demonstrationen in Berlin und bei Straßentänzen in Guiyang gedreht wurden. Und neben Benjamin hält die Kommentierung aus dem Off auch sonst einiges bereit: KI-Verse, die an die Dramen Shakespeares denken lassen, poetisch zusammengefügte Sätze, die wie Prompts klingen, die der Filmemacher der KI gegeben haben könnte.
Geschichte und Gegenwart legen sich in den Bildschichten des Filmes über- und ineinander: Deepfakes von Putin; Bilder aus der Ukraine: Krieg, Tote, Zerstörung; Berlin: Putin-freundliche Bürger*innen, die für den „Frieden“ auf die Straße gehen; ein Naziparolen grölender Björn Höcke; Berlin 1945: Trümmer, russische Soldaten mit Flagge; schließlich Szenen aus dem Staatlichen zentralen Museum für zeitgenössische Geschichte Russlands in Moskau, in dem die Ausstellung Nato: Chronicle of Cruelty zu sehen ist. Als Exponate dienen dort Gräuelbilder, SS-Helme und Gemälde im Stil des sozialistischen Realismus, die Panzer vor europäischer Flagge zeigen. Geschichtsklitterung führt der Film als zentrale Strategie autoritärer Politik vor, gestern wie heute.
Im Verlauf des 115 Minuten langen Werkes nähern sich die KI-generierten und dokumentarischen Szenen immer weiter aneinander an, so dass das Publikum fortlaufend zum Spekulieren aufgefordert ist. Der Film versteht sich, wie von Borries es selbst beschreibt, als postdramatisch und „narrativierend“. Damit greift er bekannte ästhetische Strategien aus Theater, Film oder auch Literatur auf, die vor allem auf die Dekonstruktion der eigenen medialen Tradition zielen. Den Kontakt mit seinem Publikum sucht der Film ganz direkt, indem er immer wieder offenbart, wie er konstruiert ist. Etwa, wenn er hinter die Kulissen blicken lässt, wo der Filmemacher selbst in einem Tonstudio den Text einliest, und oft auch in persiflierenden Untertiteln: „Why does the film become so slow here? Don’t worry if you don’t understand everything, we don’t either …“
In seiner postmodernen Found-Footage-Ästhetik wirkt der Film – einerseits – wie aus der Zeit gefallen, aufgrund der KI-Fragmente – andererseits – sehr zeitgeistig. Die maschinell trainierte KI reproduziert, was wir in Jahrzehnten an digitalen Bildern und Daten produziert haben. Wie ein Fiebertraum im Zeitraffer flimmert das Ergebnis unseres überbordenden Outputs über den Bildschirm (oder die Leinwand): morphende Gestalten in durcheinanderfließenden surrealen Landschaften.
Von Borries sucht in diesen Bildern nach Indizien für eine Verhaltenshomogenisierung. Das verrät er schon im Zusatz zum Titel: „A Behavioral Homogenization“. Damit ist ein Prozess gemeint, in dem sich Verhaltensweisen transkulturell angleichen, eine Art kulturelle Globalisierung, die sich im Digitalen vollzieht. „The cyber machines know more about your privacy than you do, it is a machine of behavioral homogenization“, erfahren wir aus dem Off.
Eine entpolitisierte, homogenisierte Masse hat sich im online-basierten Shopping, Gaming, Streaming verloren, nimmt, wie eine Szene suggeriert, etwa „AI generated Chinese Style Flavored Potato Sticks“ oder „AI generated Western Style Flavored Potato Sticks“ zu sich. Doch die vermeintliche Analyse der Verhaltenshomogenisierung, als die der Film sich ausgibt, verflüchtigt sich gleich wieder in den Bildern: Daran, dass es immer schwieriger wird, diskursiv durch eine ins Absurde abdriftende Welt zu navigieren, lässt das Werk keinen Zweifel.
In der Tradition des postmodernen Filmes, in die sich das Werk einreiht, hat sich das Konzept der Autor*innenschaft genauso aufgelöst wie die Gewissheit, dass das, was wir sehen, tatsächlich so gewesen ist. Die Praxis des Verarbeitens von Found Footage im Film weist bereits eine Verwandtschaft mit KI-generiertem Material auf, das letztlich per maschinellem Lernen schon Vorhandenes in neue ästhetische Konstellationen überführt, auch wenn hier das Ausgangsmaterial nicht mehr erkennbar ist. Wie schon der postmoderne Film Teil einer „kulturellen Logik des späten Kapitalismus“ (Fredric Jameson) war, ist die Kulturtechnik KI nun aufs Engste mit dem digitalen Kapitalismus verbunden, sie ist Teil von dessen „kultureller Logik“, wie man im Anschluss an Jameson sagen könnte.
In diese schleust von Borries auch Momente der Möglichkeit des antikapitalistischen Widerstands ein. So deutet er Träume eines Datenkommunismus an, in dem Daten zu Commons werden und die multinationalen Tech-Konzerne durch VEBs (Volkseigene Betriebe) ersetzt werden, während ein digitaler Anarchismus Aussicht auf Widerstand bietet. Es gebe Anzeichen dafür, heißt es in einer Szene, dass das maschinelle Lernen bereits feministisch werde, weil es die Vorurteile aufgedeckt haben könnte, die von weißen, männlichen Programmierern geschaffen wurden. Wäre das nicht Stoff für eine neue Utopie?
Doch das Dystopische überwiegt in einer Welt, in der die Postmoderne folgerichtig auch ihren eigenen Faschismus in Form von Postfaschismus, Neofaschismus, „Raschismus“ und so weiter produziert hat. Das Filmische, wie wir es kennen, erscheint hier selbst nur noch als Symptom einer Postmoderne, die ihre letzten Atemzüge haucht, um in etwas überzugehen, was aus der kulturellen Logik des digitalen Kapitalismus erst noch erwachsen wird. Etwas, auf das wir wie Benjamins Engel der Geschichte mit dem Rücken Richtung Zukunft zufliegen, angetrieben durch den Sturm des Fortschritts, den Blick auf die Trümmer gerichtet, die unsere Gegenwart produziert.