Heft 4/2024


Climate Dignity

Editorial


Klimagerechtigkeit zählt zu den offiziellen Nachhaltigkeitszielen, die in der von den Vereinten Nationen 2015 beschlossenen Agenda 2030 festgehalten sind. Zwar ist dort – als Ziel Nummer 13 – von „Climate Action“ die Rede. Doch ist nach wie vor offen und wird auf den jährlichen Weltklimagipfeln heftigst diskutiert, was genau unter diesen Begriff fällt. Zwar sind die Aussichten trübe, um nicht zu sagen vergeblich, dass das Ziel, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu beschränken, in irgendeiner Form noch erreichbar ist. Dafür wächst aber vielerorts die Geschäftigkeit, ein Stück Klimagerechtigkeit doch noch partiell, oder vielleicht auch nur für die „chosen few“, Wirklichkeit werden zu lassen. Blickt man demgegenüber auf maßgebliche Wahlergebnisse der letzten Zeit, kann einem*einer durchaus mulmig werden, dass noch irgendetwas groß in diese Richtung bewegt wird. Sobald Klimawandelleugner*innen an der Macht sind, könnte es um „Climate Action“, egal, welchen Zuschnitts und welcher Couleur, endgültig geschehen sein.
Dabei enthält das Konzept vielerlei Anknüpfungspunkte, ein freieres, demokratischeres – und vor allem auch gutes – Leben für möglichst viele betreffend. So lässt sich berechtigterweise fragen, inwiefern in dem besagten Nachhaltigkeitsziel auch der Aspekt des „würdevollen Daseins“ enthalten ist. Muss es, in Anlehnung an die Allgemeine Menschenrechtserklärung, nicht auch so etwas wie „Klimawürde“ geben – etwas, woran bei der ersten diesbezüglichen Resolution 1948 naturgemäß nicht gedacht wurde? Gemeint ist das Recht, im Übrigen weit von jeder globalen Realität entfernt, von der Klimakatastrophe nicht in humanen Grundkonstituenten wie Gesundheit, Freiheit, Wohlergehen etc. beeinträchtigt zu werden.
Insbesondere stellt sich diese Frage in Bezug auf jene Menschen, Gemeinschaften und Länder, die am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, selbst jedoch am wenigsten zu dessen rasanter Beschleunigung beitragen. Darüber hinaus kann es diesbezüglich auch nicht allein um die Würde von Menschen gehen, sondern – nimmt man das Wort vom „mehr-als-menschlichen“ Erdsystem ernst – auch diejenige aller übrigen Organismen und Lebensformen. Und mehr noch: Auf dem Spiel steht der Gesamtverbund der aktuell immer mehr außer Kontrolle geratenden Ökosysteme – ein Befund, der sich auf die Interdependenz zwischen Menschen und ihren Umwelten in sämtlichen Erscheinungsformen bezieht, der es Rechnung zu tragen gilt.
Imagine Climate Dignity: Artistic Collaborations lautete der Titel eines internationalen Calls, den die Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des österreichischen Außenministeriums Ende 2023 gemeinsam mit dem Künstlerhaus Wien ausgeschrieben hat (es handelte sich dabei um eine Fortsetzung der 2021 während der Corona-Pandemie unter der Leitung von Simon Mraz ins Leben gerufenen Projektreihe On the Road Again). Der Aufruf richtete sich an in Österreich lebende Künstler*innen, die sich gemeinsam mit internationalen Kolleg*innen dem Thema „Klimawürde“ auf imaginative bzw. spekulative Weise, zugleich aber auch realitätsnah und nach Möglichkeit transformatorisch orientiert annähern sollten. Ausgewählt wurden von einer Jury, bestehend aus Silvie Aigner, Günther Oberhollenzer, Tanja Prušnik, Deborah Sengl und Christoph Thun-Hohenstein, schließlich 15 Projekte. Im Lauf des Jahres 2024 wurden diese an internationalen Destinationen vom jeweiligen Österreichischen Kulturforum vor Ort in Zusammenarbeit mit lokalen Partnerinstitutionen präsentiert, im Frühjahr 2025 erfolgt eine Gesamtschau in Form einer Gruppenausstellung im Künstlerhaus Wien (eine Auflistung der Projekte findet sich unter www.ontheroadcall.at).
Die Ausgabe Climate Dignity, die in Kooperation mit diesem Call entstanden ist, nimmt eine Auswahl der Projekte zum Ausgangspunkt, um Fragestellungen wie diesen nachzugehen: Wie sehen zukunftsfähige Lebensmodelle aus, die den Menschen ein würdevolles Leben bei gleichzeitiger Achtung der Würde ihrer natürlichen Umwelt ermöglichen? Welche Klimaschutz- bzw. Anpassungsmaßnahmen sind gegenwärtig am dringlichsten, und wie können künstlerische Konzepte zur effektiven Umsetzung dieser Maßnahmen beitragen? Wie können Ansätze in der Kunst den Schutz von Biodiversität und anderer planetarer Grenzen befördern? Welche Rolle kommt neuen Technologien bei der Umsetzung von „klimawürdigen“ Lebensmodellen zu? Und schließlich: Wie kann es gelingen, auf Basis eines dauerhaften Gleichgewichts zwischen Menschen und Umwelt ein neues Zeitalter der ökologischen Regeneration einzuläuten?
Die Antworten auf diese komplexen Fragen fallen ebenso vielfältig wie reflexiv-bedachtsam aus. Allein auf künstlerischer Seite findet sich ein breites Spektrum medial wie konzeptuell divergierender Ansätze: vom performancegeleiteten, buchstäblichen „Tanz auf dem Vulkan“ der Gruppe Shaken Grounds über simpel wirkende Zeichnungen, was in transformatorischer Hinsicht als Erstes zu tun wäre (siehe das Projekt von Oliver Ressler und Claudia Schioppa), bis hin zu Untersuchungen, welche Zukunftsvorkehrungen heute schon in urbanen Praktiken einer Megastadt wie Kairo angelegt sind (Sabine Bitter/Helmut Weber gemeinsam mit Huda Lutfi).
Ergänzt werden diese künstlerischen Beiträge und aktiven Gestaltungsvarianten von Imagine Climate Dignity durch eine Reihe von Essays, die ergänzende bzw. kontextualisierende Aspekte ins Auge fassen. So fragt Gudrun Ratzinger nach den genaueren Grundrissen einer Ethik der Klimawürde, die den Weg aus dem „Misanthropozän“ weisen könnte. Bronislaw Szerszynski erläutert in seiner philosophischen Betrachtung, wie der Gestus des Experimentellen gerade in einer mehr-als-menschlichen Welt neue Brisanz erlangt, insofern darin mit alten Weltverständnismodellen „gebrochen“ wird. Raluca Voinea schließlich beschreibt anhand des von ihr mitinitiierten Praxisexperiments der Experimental Station for Research on Art and Life, einem Landwirtschaftsprojekt in der Nähe von Bukarest, wie „Klimawürde“ zu einer tagtäglichen Aufgabe und Wissensherausforderung werden kann.
In Summe lassen die ineinandergreifenden Mosaikteile dieser Ausgabe erkennen, dass Klimagerechtigkeit – und Klimawürde! – keine bloßen Worthülsen sind, sondern vielerlei Anregungen bereithalten: nicht nur, um sich eine lebenswertere und fairere Welt auszumalen, sondern auch, um dem Anti-Klimawandel-Machtgebaren der Gegenwart etwas entgegenzusetzen.