Heft 4/2024 - Lektüre



Claire Bishop:

Disordered Attention. How We Look at Art and Performance Today

London/New York (Verso) 2024 , S. 75 , EUR 19

Text: Patricia Grzonka


Die Art, wie wir heute Kunst betrachten, ist eine völlig andere als noch vor 20 Jahren – Mobiltelefone mit hochauflösenden Kameras, Social Media, das Internet, sie alle haben einen exzessiven Kunstkonsum befördert und die durchschnittliche Verweildauer vor einem Kunstwerk verkürzt. Wer würde das bestreiten? Und doch, so einfach, wie es sich Claire Bishop in ihrem neuen Buch macht, ist die Sache auch wieder nicht. Wie jede neue Technologie stellen auch die Digitalisierung und der enorme Datenfluss nicht grundsätzlich den vorangegangenen Umgang mit Kunst infrage, sondern führen „lediglich“ eine neue Facette hinzu. Zugegeben, eine schwergewichtige Facette. Disordered Attention. How We Look at Art and Performance Today stellt diese These ins Zentrum, und zwar anhand einer „zerrütteten Aufmerksamkeitsspanne“, die uns ungeduldig durch Ausstellungen hetzen lässt – wir, die nur an die „Instagrammability“ eines Fotos denken.
Die vier Kapitel des Buches sind einzeln entstanden und behandeln unterschiedliche Kunstfelder: In „Information Overload – Research-Based Art“ geht es um die postkonzeptuelle Installationskunst mit ihrer im Regelfall nicht fassbaren Materialfülle; Kapitel zwei widmet sich der Performancekunst und einer Aufführungspraxis, die sich im Museum abspielt; das dritte Kapitel weitet diese Auseinandersetzung auf den Bereich der politischen Interventionskunst aus, die sich oft klandestin abspielt und erst im Nachhinein medial verbreitet wird, und Kapitel vier fragt, woher die Faszination für die Moderne, den Modernismus und die Utopie in Architektur und Design rührt. Während die ersten drei Teile jeweils eine bestimmte Kunstform und deren Rezeptionsbedingungen verhandeln, ändert sich der Fokus im letzten Kapitel mit dem Titel „Déjà-Vu: Invoking Modernist Art and Architecture“ völlig: Hier wird „die Anrufung“ (Invoking) des Modernismus durch zeitgenössische Künstler*innen beschrieben, dem das Publikum quasi wehrlos ausgesetzt ist.
Viele Abschnitte von Disordered Attention sind jedoch informativ und enthalten eine Fülle von teils historischen, teils aktuellen Daten. So beschreibt Bishop etwa Aufmerksamkeit als ein seit dem 19. Jahrhundert wertvolles Gut und eine psychologische Haltung, in der es auch um „agency“ geht: „Attention is a property, a force exuding from the subject, and expression of his interest (and it is always a he).“ Normative Aufmerksamkeit impliziere normative Subjekte, wie die Autorin weiter mit Blick und Kritik in Richtung marxistischer Theorie festhält. Sie lässt durchblicken, dass ihre Sympathien bei einem relationalen und sozialen Verständnis von Aufmerksamkeit liegen – und keine moralische Frage von „guter“ oder „falscher“ Haltung sind, wie in Jonathan Crarys Stigmatisierung des „Internet Complexes“. Es gehört generell zu den erfrischenden Aspekten von Bishops Ansatz, dass sie sich wenig um die kunsthistorischen Kanons der letzten Jahre kümmert und sich auch kritisch zum jüngsten Ausstellungsbetrieb äußert – auch Künstler*innen wie Renée Green, Wolfgang Tilmans oder Tino Seghal kriegen ihr Fett ab. Die schlichte Überforderung, die eine*n ergreift – Bishop spricht von „mild panic“, wenn sie eine recherchebasierte Installation mit Dutzenden Post-Its, Videos, erklärenden Texten, Dokumentationen und weiterem Infomaterial sieht –, kennt wohl jede*r Kunsthallen-Besucher*in. So ist das Kapitel zur Research-Based Art das vielleicht beste des ganzen Buches. Das Performancekapitel mit dem Titel „Black Box, White Cube, Grey Zone: Performance-Exhibition and Hybrid Spectatorship“ versucht eine Gegenüberstellung klassischer Ausstellungräume. In deren Zwischenbereich macht Bishop eine Grey Zone aus, in der die Museumsperformance plus das Smartphone angesiedelt ist, wo Besucher*innen selbst zu Museumsobjekten werden und sich gleichzeitig – durch ihre Social-Media-Gewohnheiten – an der Distribution von Inhalten beteiligen. Performances als Interventionen – wie paradigmatisch von Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale –, als vorbereitete Aktionen mit politischem Anspruch sind der Inhalt des dritten Kapitels „Seizing the Moment: Interventions.“ So weit, so gut.
Im letzten Kapitel wird es zusehends schwierig, Bishop zu folgen. Hier wird sie Opfer ihres deklarierten Ansatzes, Überblicke über Trends in großer Datenfülle zu präsentieren, anstatt einzelne Case Studies vorzunehmen, da die Masse an Einträgen im Internet sie dazu verleitet, vor dieser Fülle zu kapitulieren. Der konstatierte Überschuss an Modernismus-Auseinandersetzungen ist jedoch nur eines von Hunderten boomenden Themen in der Kunst der letzten Jahre, und die Tatsache, dass sich so viele Künstler*innen gerade damit beschäftigen – viele auch nicht ausschließlich –, ist eher ein Beweis für dessen Dringlichkeit. Schließlich ist die Dominanz totalitaristischer Gesellschaftsideen – wozu auch der Funktionalismus oder der Strukturalismus zählen – mehr als nur ein Modephänomen. Die Fotogenität von Sujets – breiten Raum nimmt beispielsweise Wladimir Tatlins Monument der Dritten Internationalen ein – ist nicht nur der Möglichkeit, diese digital zu verbreiten, geschuldet. Hier liegt vor allem eine Verschiebung von Inhalt und Form vor: Architektur abzubilden hat eine lange Tradition in der bildenden Kunst, es war aber nie ein eigenes Genre. Vielmehr ist es der Symbolwert von Tatlins Monument, der genauso wie im Blumenstilleben oder im Gruppenporträt „angerufen“ wird. Fazit: Superspannendes Thema, und es macht Spaß, die Kunst der letzten Jahre anhand von Bishops Ausführungen zu rekapitulieren, jedoch kann kein Buch mit einer Datenbank konkurrieren – es sei denn, man geht tatsächlich in die Tiefe statt in die Breite.