Heft 4/2024 - Artscribe


Avant-Garde and Liberation. Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne

17. Juni 2024 bis 22. September 2024
mumok / Wien

Text: Devika Singh


Wien. „Kunstgeschichte ist die Wiederaufnahme der Verbindung mit den Vorfahr*innen, die Arbeit an der Genealogie.“ So beginnt Christian Kravagna den Katalogessay der von ihm gemeinsam mit Matthias Michalka kuratierten Ausstellung Avant-Garde and Liberation. Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne. Als Motto umreißt dieser Satz auch das Ziel der Schau, nämlich die Bedeutung jener Kunst, die im Zusammenhang antirassistischer Gleichberechtigungskämpfe und dekolonialer Bewegungen entstand, für die zeitgenössische Kunst herauszuarbeiten. Über drei Stockwerke im frisch renovierten mumok demonstrieren vielfältige Arbeiten von 25 Künstler*innen nicht nur sehr überzeugend die dauerhafte Geltung dieser komplexen Strömungen für heutige Praxen, sondern auch den Wunsch von Kunstschaffenden, an sie anzuschließen.
Gleich am Anfang des Rundgangs empfängt uns Clin d’oeil à Cheikh Anta Diop – Un continent à la recherche de son histoire (2017) von Omar Ba, ein Gemälde von drei überlebensgroßen Figuren in westafrikanischer Kleidung auf einer wuchtigen Ziegelwand. Im Hintergrund eine Weltkarte und zwischen ihnen in der Ferne Wahrzeichen berühmter westlicher Städte (von der Freiheitsstatue bis zum Eiffelturm), im Vordergrund ägyptische Kunstgegenstände. Das Wechselspiel stellt somit afrikanische Sujets in den Mittelpunkt und ist ein Tribut an Cheikh Anta Diops in den 1950er-Jahren veröffentlichte augenöffnende Studien zur Verbindung Subsahara-Afrikas zu Ägypten.
Überhaupt thematisieren die meisten der ausgestellten Werke derartige Neuinterpretationen der Geschichte. Dabei beziehen sie sich auf Schlüsselmomente wie den Ersten Kongress Schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris 1956 (patricia kaersenhout, Le Retour des femmes colibris, 2022), den intellektuellen Aufruhr in Rabindranath Tagores Universität in Santiniketan (The Otolith Group, O Horizon, 2018) oder sie zollen wichtigen Gründerfiguren Tribut, wie zum Beispiel Toussaint Louverture, dem Anführer der Revolution in Haiti (Radcliffe Bailey, Untitled, 2010), oder historisch näheren Intellektuellen wie James Baldwin (Zoe Leonard, Tipping Point, 2016).
Gleichzeitig versuchen die ausgestellten Werke, die Kraft und Radikalität dieser Vorgänger*innen einzufangen und darzustellen. Verbindungen werden über direkte Verweise, aber auch spielerischere Arten des Zitierens hergestellt, wie bei Iman Issas skulpturalen Selbstporträts (Proxies with a life of their own, 2020–22), in denen sich die Künstlerin unter anderem mit dem Kunsthistoriker Ananda Coomaraswamy und dem Dichter Georges Henein von der ägyptischen Gruppe Art et Liberté identifiziert. Die stark abstrahierte Form ihrer Skulpturen und ihre glatte Oberfläche zitieren dabei das modernistische Erbe eines Constantin Brancusi und die afrikanische und ozeanische Kunst, von denen er und andere sich anregen ließen.
Die Konstellation kunsthistorischer Berührungspunkte ist bereits im Ausstellungstitel angelegt. Der Zusammenhang von Avantgarde und Befreiung impliziert ja nicht nur ein Abrücken vom künstlerischen Mainstream, sondern auch eine politische Agenda. Obwohl die Ausstellung dem eurozentrischen Ansatz treu bleibt, der die Deutung der Avantgarde so lange geprägt hat, wird hier nicht nur die subversive Schärfe und antikoloniale Haltung jener Künstler*innen betont, die beispielsweise mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht werden, sondern auch die Mehrheit der globalen Kunstschaffenden, die die Moderne mitgestaltet haben. Um noch einen Schritt weiterzugehen: Die Verwendung des Begriffs „dekoloniale Moderne“ impliziert erstens, dass nicht alle modernistischen Künstler*innen des sogenannten globalen Südens als Vorreiter*innen jener Anliegen angesehen werden können, die von den heutigen nicht-westlichen Künstler*innen vertreten werden, und dass zweitens die die zeitgenössische Praxis prägenden Einflüsse nicht immer intellektuell, sondern manchmal auch rein künstlerisch sind. Während man die geografische Verbreiterung der modernen Kunst, die aktuell in den Ausstellungsprogrammen und Sammlungspräsentationen vieler europäischer Museen zu beobachten ist, nur begrüßen kann, müssen also präzisere Verbindungen zur Geschichte hergestellt werden, um die neue Genealogie von der Moderne bis zur Gegenwart hinreichend nachzuzeichnen.
Und darin liegt eine große Stärke dieser Ausstellung – in ihrer intellektuellen Kohärenz und Kraft. Indem sie nämlich den umgekehrten Weg einschlägt und historische Künstler*innen und Intellektuelle in den Mittelpunkt stellt, die das zeitgenössische Schaffen bis heute beeinflussen, legt sie eloquent gemeinsame Wurzeln und wiederkehrende Inspirationsquellen frei. Das Ergebnis ist ein breiter angelegter Nexus radikaler Ideen und intellektueller Affinitäten.
Die Ausstellenden kommen dementsprechend nicht nur aus der afrikanischen Diaspora, sondern auch aus Vorderasien, Asien, den Vereinigten Staaten und Europa. Die Schau belegt damit ein nuanciertes Verständnis der Relevanz einzelner Traditionen für die Gegenwart. Was Indien anlangt, so blicken die Arbeiten von Atul Dodiya und Vivan Sundaram, wie der Hauptkurator klarstellt, im Kontext des heutigen Hindunationalismus auf Indiens friedlichen antikolonialen Kampf zurück. Dodiya greift auf Mahatma Gandhi und Rabindranath Tagore zurück, während sich Vivan Sundaram auf historische Kunstwerke bezieht. So besteht sein Werk One and the Many (2024) aus 220 grob modellierten Kleinplastiken aus Terrakotta, die nach dem Tod des Künstlers hergestellt wurden und auf flach ansteigenden Stufen präsentiert werden, damit man sie auf einem Blick fassen kann. Bei den Figurinen handelt es sich um verkleinerte Nachbildungen von Ramkinkar Baijs öffentlichen Skulpturen Santhal Family (1938) und Mill Call (1956), die in Santiniketan hergestellt wurden und Indiens Arbeiterklasse und die indigene Santhal-Gemeinschaft würdigen.
Es gibt aber auch zukunftsgewandte Werke in der Ausstellung, wenngleich diese eine ganze Reihe historischer Punkte berühren. Cauleen Smiths utopistischer Film Sojourner (2018) spielt in der kalifornischen Wüste und behandelt Beispiele für etwas, das die Künstlerin als bewusstes Community-Building und Freigiebigkeit in den USA nennt. Konzeptuell ließ sich Smith von den Lebensgeschichten mehrerer afroamerikanischer Frauen inspirieren, während ihre Bildsprache von einem ganzen Inventar aus der analogen Vergangenheit wie beispielsweise Transistorradios geprägt ist, durch das man ein destabilisierendes und zugleich anheimelndes Gefühl der Vertrautheit vermittelt bekommt.
Anderswo in der Ausstellung stößt man auf Maud Sulter, die mit der in den 1980er-Jahren in Großbritannien entstandenen Black British Arts Movement in Verbindung gebracht wird und mit einer Reihe großer Polaroid-Selbstporträts Les Bijoux, (2002–06) vertreten ist, auf denen sie Jeanne Duval, die aus Haiti stämmige Muse Charles Baudelaires verkörpert. Immer im gleichen Gewand zieht die Künstlerin hier unterschiedlichste Register. Mal schenkt sie uns einen sanft wissenden, mal einen durchdringlichen Blick, der direkt aus der Vergangenheit zu kommen scheint.
Alle diese multiplen, komplexen Bezüge ermöglichen es dem Publikum, die Kunstgeschichte als „Wiederaufnahme der Verbindung mit den Vorfahr*innen“ sehen zu können. In der Gesamtschau machen sie deutlich, dass es stringenten und mutigen Ausstellungen wie Avant-Garde and Liberation gelingen kann, seit Langem etablierte Geschichten neu zu sehen.

 

Übersetzt von Thomas Raab