Heft 4/2024 - Climate Dignity


Wege aus dem Misanthropozän

Gudrun Ratzinger


Wege aus dem Misanthropozän
Überlegungen zu einer Ethik der Klimawürde

Gudrun Ratzinger

Menschen haben seit jeher in ihre Umwelt eingegriffen. Sie nachhaltig umgestaltet. Doch erst seit rund 75 Jahren bestimmen menschliche Aktivitäten maßgeblich jene Zyklen, die einen großen Teil des Erdsystems ausmachen. Gegenwärtig hat die CO2-Konzentration in der Atmosphäre Werte erreicht, wie es sie in den letzten 800.000 Jahren nicht gab, und beinahe die Hälfte des gebundenen Stickstoffs verdankt sich anthropogener Prozesse wie der Düngung in der industrialisierten Landwirtschaft oder der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Die Gegenüberstellung von sozioökonomischen und ökologischen Megatrends ab Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt weitgehend parallele Kurven. Nach einem langen, sehr flachen Anstieg geht es ab den 1950er-Jahren bei globalen Parametern wie Wirtschaftswachstum, ausländischen Direktinvestitionen, Nutzung von Primärenergie und Einsatz von Kunstdünger steil bergauf. Ebenso bei planetaren Kennzahlen wie der Kohlenstoffdioxid-, Lachgas- und Methankonzentration in der Atmosphäre, der Oberflächentemperatur, der Ozeanversauerung oder dem Verlust von Biodiversität.1 Diese „Große Beschleunigung“ legt nahe, dass sich das Anthropozän mehr spezifischen historischen und sozioökonomischen Entwicklungen verdankt als der menschlichen Spezies per se. Oder wie es Joshua Clover und Juliana Spahr in der zwölften These von #Misanthropocene formulieren: „The tempo of the misanthropocene has been measured precisely by the decay of the workers’ movement. Zero o’clock came and went. More west melancholy.“2
Noch bevor der Kampf gegen den drohenden ökologischen Kollaps im Allgemeinen und gegen die Ursachen für den menschgemachten Klimawandel im Besonderen so richtig aufgenommen wird, macht sich allerorts Hoffnungslosigkeit breit. Die Überzeugung, dass es bereits zu spät ist – game over – trifft auf tief sitzende Vorstellungen von einer kurzsichtigen und zutiefst egoistischen Menschheit, die aus reinem Hedonismus Suizid begeht. Damit lässt sich ein abgeklärter Inaktivismus ebenso rechtfertigen wie das menschenfeindliche Festhalten am Status quo. Willkommen in der Katastrophe: Machen Sie es sich bequem!
Da es sich bei dem „Mythensystem rund um den Anthropos“ laut Donna Haraway um ein Narrativ handelt, dessen Geschichten alle schlecht ausgehen und dessen Protagonist – der Mensch – es nicht zulässt, gute Geschichten zu erzählen, plädiert die Biologin und Wissenschaftstheoretikerin dafür, den Fokus zu verlagern. Statt weiterhin auf den Menschen als Hauptakteur zu setzten, fordert sie vielfältige Geogeschichten ein: Die „Erdlinge stellen verwobenes, verflochtenes Leben und Sterben in sympoietischen, artenübergreifenden Fadenspielen her; sie machen keine Geschichte im Singular“3. In dem von Haraway ausgerufenen Chthuluzän sind menschliche Wesen anders als im Anthropozän und Kapitalozän nicht die einzigen Akteur*innen. Vielmehr sind sie „mit und von der Erde“, wobei die Erde mit ihren biotischen und abiotischen Vorgängen ins Zentrum der Erzählung rückt. Dabei kommt der detaillierten Auseinandersetzung mit spezifischen Verknüpfungen und gegenseitigen Hervorbringungen eine besondere Rolle zu. Trotz der zahlreichen Kräfte, die selbst in Teilbereichen zusammenfinden, bleiben auch die Handlungen von „situierten, konkreten menschlichen Wesen“ von Relevanz: „Ob wir wollen oder nicht, wir sind Teil eines Fadenspiels, das sich um gefährdete Welten kümmert; Welten, die durch den fossilienverbrennenden Menschen […] sehr viel stärker gefährdet sind als früher.“4
Beim Versuch, bessere Geschichten als jene vom Anthropozän zu erzählen, lassen sich zahlreiche Fäden aufnehmen und weiterspinnen. Es handelt sich um lose Enden, die einem reichen Erfahrungsschatz jenseits der allgegenwärtigen Nekropolitiken des globalisierten Neoliberalismus entstammen. Vielfach wurde darauf hingewiesen, dass die Geschichten und Praktiken von Indigenen als Anknüpfungspunkte für alternative Weltentwürfe dienen können, widersetzen sie sich doch seit geraumer Zeit dem Regime westlicher Ausbeutung und Profitmaximierung. Die Philosophin Deborah Danovski und der Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro bezeichnen etwa indigene amerikanische Gemeinschaften als „Meister der technoprimitivistischen Bricolage und der politisch-metaphysischen Metarmorphosen“ und sehen in ihnen eine „Chance für das Überleben der Zukunft“5.
Doch auch der vielfach beschworene und nur unzulänglich verwirklichte Universalismus der Menschenrechte bietet Anknüpfungspunkte für positive Zukunftsbilder. Das von der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten geförderte Jahresprogramm Imagine Climate Dignity schlägt daher vor, bei der Würde von Mensch und Natur anzusetzen, wie sie Hans Jonas in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung (1979) konzeptualisiert hat. Der Philosoph konstatiert darin angesichts von Nukleartechnologie, Gentechnik und kumulierenden Treibhausgaseffekten eine grundsätzlich neue Situation. Erstmals kann „der Zustand der außermenschlichen Natur, die Biosphäre als Ganzes und in ihren Teilen“ durch menschliche Aktivitäten nicht nur geändert werden, sondern sie ist grundlegend gefährdet. Indem die Natur nun also menschlicher Macht unterworfen ist, sei sie ein „menschliches Treugut“ geworden und habe „so etwas wie einen moralischen Anspruch an uns […] – nicht nur um unsretwillen, sondern auch um ihrer selbst willen und aus eigenem Recht“. Für diese Rolle als Treuhänder gebe es aber weder Ansätze innerhalb der (westlichen) Ethik noch innerhalb der Wissenschaft. Letztere würde geradezu „mit Entschiedenheit jedes theoretische Recht, über die Natur noch als etwas zu Achtendes zu denken“ ablehnen, habe sie doch diese „zu der Indifferenz von Notwendigkeit und Zufall reduziert und aller Würde von Zwecken entkleidet“6.

Fast forward in die Gegenwart: Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten der Status der Ökologie innerhalb der Wissenschaften grundlegend gewandelt, und die gewaltvolle Umformung der Erde wurde als zentrales Problem erkannt. Doch in weiten Segmenten von Politik und Wirtschaft sind Vorstellungen von Natur als ausbeutbare Ressource oder beherrschbares System immer noch bestimmend. Sich daher einer Ethik zuzuwenden, welche diese Prämissen ganz grundsätzlich verwirft und Menschen wie Natur einen unhintergehbaren Wert (also Würde) beimisst, ist durchaus konsequent. Dies umso mehr, als der von Jonas aufgestellte ökologische Imperativ „sich viel mehr an öffentliche Politik als an privates Verhalten richtet“7.
Der Bezug auf Hans Jonas ermöglicht gewissermaßen im Rückspiegel einen Blick in eine andere mögliche Gegenwart. Denn er plädierte bereits vor 45 Jahren dafür, bei Entscheidungen über den Einsatz technischer Anwendungen Überlegungen in Hinblick auf deren zukünftige Auswirkungen einzubeziehen. Wurde in den klassischen Ethikmodellen menschliches Handeln als zeitlich wie räumlich beschränkt verstanden, vertritt Jonas einen generationen- und kontinentübergreifenden Ansatz. Dem Wissen um mögliche Folgen von Handlungen kommt eine zentrale Rolle zu. Aufgrund der Komplexität des Erdsystems und von dessen Teilsystemen ist dieses prospektive Wissen jedoch viel weniger abgesichert als jenes technische Wissen, das potenziell lebensvernichtende Eingriffe erlaubt. Hans Jonas schließt diese Kluft mit einer „Heuristik der Furcht“. Denn Menschen wüssten erst, so sein Befund, was gefährdet ist, wenn sie wissen, dass es gefährdet ist.8 Darüber hinaus erfordert diese Zukunftsethik für ungesichertes Wissen über mögliche Technikfolgen eine „Umkehrung des Descartes’schen Zweifelprinzips“. Das unsichere Wissen, das in Zweifel gezogen werden kann, soll nicht, wie Descartes fordert, dem erwiesenermaßen Falschen gleichgestellt werden. Vielmehr sollen umgekehrt die nicht zwingend eintretenden, aber durchaus möglichen negativen Folgen den Entscheidungsrahmen vorgeben.9 Ein Gegenprogramm also zu den sich als erfolgreich erwiesenen Strategien der Merchants of Doubt: den Leugner*innen im großen Stil, die aus dem Zweifel ein Riesengeschäft machen.10
Von einer ganz anderen Richtung als Donna Haraway kommend, schreibt auch Jonas dem Wissen über geosoziale Zusammenhänge und der Imagination eine zentrale Rolle zu. Während es Haraway darum geht, Spielräume des Mehr-als-Menschlichen auszuloten, setzt Jonas auf eine katastrophische Vorstellungskraft, um mögliche Gefährdungen zu begrenzen. Ausgehend von seinen Prämissen hätten aus heutiger Perspektive viele technische Entwicklungen niemals zur Anwendung kommen dürfen. Doch selbst obwohl erdumspannende Prozesse unumkehrbar in Gang gesetzt wurden, erlaubt das „Prinzip Verantwortung“ kein Verharren im Verleugnungsmodus oder Schockzustand. Der Fokus auf die zukünftigen Konsequenzen gegenwärtigen Handelns verpflichtet Entscheidungsträger*innen vielmehr dazu, immer wieder Blick und Imagination auf bereits eingetretene Schäden wie potenzielle Risiken zu richten – und dabei verantwortungsvoll zu handeln. Dies trifft insbesondere auch dann zu, wenn, wie im Fall des Klimawandels, kumulierende Aktivitäten die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand von Menschheit und Biosphäre gefährden. Drill, baby, drill!, ein verfrühtes Ausrufen von game over oder ganz allgemein business as usual sind daher auf absehbare Zeit unzulässig.
Das Ausstellungsprogramm Imagine Climate Dignity ruft dazu auf, sich vorzustellen, was Klimawürde ausmacht und welche Konzeptionen von Rechten und Gerechtigkeit damit verknüpft sind, welche Aktanten, Räume und Zeiten dabei eine Rolle spielen. Allgemeiner noch, was auf dem Spiel steht, wenn Menschen sich nicht als Teil der Ökosphäre verstehen, sondern stattdessen Natur instrumentalisieren. Die von einer Jury ausgewählten Projekte setzen an ganz unterschiedlichen Stellen an. Einige beschäftigen sich direkt mit Aspekten von Klimawürde und sozialer Transformation: etwa indem Bilder zur ersehnten Klimagerechtigkeit gezeichnet werden, die menschliche wie mehr-als-menschliche Wesen einbeziehen (Oliver Ressler und Claudia Schioppa); indem in Märchenform über die Auswirkungen neuer Energiequellen auf den Alltag der Menschen spekuliert wird (Ernst Logar und Kinga Kiełczyńska); indem ein Stadtszenario rund um lebensgefährdende Luftverschmutzung anregt, gegenwärtige Handlungsweisen zu überdenken (Wolfgang Lehrner und Mladen Miljanović); oder indem Ansätze für eine zukünftige „regenerative Moderne“ in bereits existierenden Architekturen, Materialien, handwerklichen Techniken und urbanen Praktiken verortet werden (Sabine Bitter und Helmut Weber).
Andere Ausstellungsprojekte richten ihren Fokus auf konkrete Kontexte und die dort jeweils anzutreffenden Interdependenzen, sei es zwischen menschlichen und mehr-als-menschlichen Wesen oder zwischen belebten und unbelebten Entitäten. Diese Wechselbeziehungen treten in den Präsentationen in vielfältiger Form zutage: indem eine wert- und urteilsfreie Beobachtung angestrebt wird (Bianca Pedrina und Nicoleta Auersperg); indem Bioindikatoren befragt werden, um mehr von den durch Klimachaos und den Verlust von Biodiversität entstandenen ökologischen Verwerfungen zu erfahren (Anca Benera, Arnold Estefan und Pavel Brăila); indem Kunst als seismografische Praxis verstanden wird, mittels derer die Wechselbeziehung zwischen Menschen und ihrer geologischen Umwelt aufgezeichnet werden kann (die Gruppe Shaken Grounds); indem im Rückgriff auf traditionelle japanische Kosmologien, welche die Erde als Beziehungsgeflecht zwischen unterschiedlichsten Arten von Leben verstehen, die aktive Praxis der Fürsorge für den Planeten erfahrbar gemacht wird (Kay Walkowiak, Taichiro Takamatsu und Natalia Domínguez Rangel); und schließlich indem auf die komplexen gegenseitigen Abhängigkeiten von lokalen menschlichen Handlungen, der globalen Technosphäre und dem planetarischen Stoffwechselsystem verwiesen wird, um damit die Sinnhaftigkeit einer totalisierenden Erzählung und einer einzigen damit verknüpften Lösung infrage zu stellen (Christoph Weber und Luiza Crosman).
Die hier knapp umrissenen Projekte von Imagine Climate Dignity nützen eine ganze Bandbreite an künstlerischen Verfahren und Darstellungsmitteln. Sie loten Möglichkeitsräume aus und stecken die Grenzen sicheren Handelns ab. Sie untersuchen konkrete Situationen auf unserem angeschlagenen Planeten und gehen deren vielfältigen Verflechtungen im Raum und Zeit nach. Und sie tragen dazu bei, das schiere Ausmaß der menschlichen Eingriffe in das Erdsystem begreifbar zu machen. Sie zeigen gleichsam Wege aus dem „Misanthropozän“ auf: indem sie sowohl den Menschen als alleinigen Protagonisten dezentrieren als auch darauf beharren, dass Menschen Verantwortung für bessere Welten übernehmen. Dass diese Pfade sorgsam gepflegt sowie neu angelegt werden müssen, steht außer Zweifel. Ebenso, dass es zahlreiche derartiger Wege brauchen wird. Die Erdverbundenen heißen Sie bei diesem Projekt für eine gemeinsame Welt willkommen!

 

 

[1] Vgl. Will Steffen et al., The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration, in: The Anthropocene Review, 2015, Vol. 2(1), S. 81–98.
[2] Joshua Clover/Juliana Spahr, #Misanthropocene: 24 Theses, in: Art in the anthropocene: encounters among aesthetics, politics, environments and epistemologies. Hg. von Heather Davis und Etienne Turpin. London 2015, S. 381.
[3] Donna Hararway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Frankfurt am Main 2018, S. 72.
[4] Ebd., S. 80, 81.
[5] Deborah Danowski/Eduardo Viveiros de Castro, In welcher Welt leben? Berlin 2019, S. 154.
[6] Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979). Frankfurt am Main 1984, S. 29.
[7] Ebd., S. 37.
[8] Ebd., S. 63.
[9] Ebd., S. 81.
[10] Vgl. Naomi Oreskes/Erik M. Conway, Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. New York 2010.