Heft 1/2025 - Netzteil


Das Raunen der Vernunft

Zu Selma Doboracs Film De Facto

Simon Nagy


Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges hat 1946 eine Kurzgeschichte namens Deutsches Requiem geschrieben, in der ein ehemaliger KZ-Aufseher am Vorabend seiner Hinrichtung Rechenschaft über seine Taten ablegt. Kein Funken Reue liegt in seiner Sprache, er steht stolz zu den Verbrechen, die er und unzählige andere verübt haben. Mehr noch, er beschreibt diese Akte als die höchste Stufe der Realisierung seiner Liebe zur bürgerlichen Kultur, zu Brahms und Schopenhauer, von denen er seitenlang schwärmt. Sein Handeln sieht er als die Verwirklichung der von ihnen verfolgten kulturellen Ideale.
Deutsches Requiem blieb von Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen lang ignoriert. Zu wenig passte es in das Bild des schöngeistigen Erzählmeisters der Postmoderne, dass er im Jahr nach Kriegsende eine so radikale Erzählung über die Dialektik der Aufklärung vorlegen sollte. Seine Figurenrede durchkreuzt liberale Vorstellungen davon, dass sich Intellekt und Gewalt ausschließen und dem Bestreben wider die Menschenverachtung mit dem Mittel der Vernunft beizukommen sei.
Der Spielfilm De Facto (2023) von Selma Doborac greift Borges’ Projekt auf, und zwar auf der Höhe sowohl gegenwärtiger Geschichtspolitik als auch filmisch-erzählerischer Methoden. Er beginnt so: Ein Mann sitzt an einem Tisch in einem ebenerdigen Raum. Durch die Fenster und die Türe, die alle nur Auslassungen in der weißen Wand sind, sieht man Bäume, Äste, rauschende Blätter. Der Mann fängt an zu sprechen, und innerhalb weniger Wörter wird klar: Hier spricht ein Täter.
Damit ist die 130-minütige Handlung des Filmes im Kern benannt. Der Mann spricht und spricht und spricht, er schaut dabei immer knapp an der Kamera vorbei. Bald stellt sich die Gewissheit ein, dass es Gerichtsprotokolle aus der Einvernehmung eines ehemaligen KZ-Aufsehers sein müssen, die durch den ruhig am Tisch sitzenden Körper des Schauspielers Christoph Bach laufen. Ein paar Minuten später jedoch bröckelt diese Gewissheit wieder, wenn er sagt, die Arbeit habe es ermöglicht, „ein paar Stunden auf Computergame zu machen“. Während er im Mordstempo und kaum innehaltend von Plünderungen, Hinrichtungen, Vergewaltigungen erzählt, reift langsam das Verständnis dafür heran, dass man es hier mit einer aufwendig montierten Textfläche zu tun hat, die verschiedenste Täterberichte aus dem letzten und dem gegenwärtigen Jahrhundert miteinander verzahnt. Die Sprache der Schlächter von Auschwitz geht nahtlos über in die der Kriegsverbrecher aus Srebrenica oder jene der Folterknechte in Abu Ghraib. Diese Spezifika bleiben aber nur eine Vermutung, denn keine Orte oder Jahreszahlen werden genannt. Dargelegt werden nur die im schlimmsten Sinne austauschbaren Schilderungen von Folter, Knechtung und Mord.
Nach 30 Minuten der erste Schnitt: Am anderen Ende des im Bild angeschnittenen Tisches sitzt der Schauspieler Cornelius Obonya, der den Sprachfluss von Christoph Bach aufnimmt. Er spricht aber im Gegensatz zu Bach nicht als „Ich“, sondern in der „Du“-Form. „Es ärgert dich noch immer, dass du einem Volk von primitiven Idioten angehörst“, sagt er etwa.
Die beiden Nicht-Figuren, die Bach und Obonya spielen, sind Geistesverwandte von Borges’ Erzähler. Wie ihm die Kultur das größte Anliegen ist, so inszenieren auch sie sich als gebildete Herrenmenschen, die sich auf Aufklärung und Rationalität berufen. Durch ihre nahezu unaushaltbaren Monologe werden die verschiedenen Facetten einer Vernunft der Täter durchdekliniert, körperlich erfahrbar gemacht und, trotz oder gerade wegen ihrer transhistorischen Collagiertheit, treffsicher in unserer Gegenwart verankert: konkret einer österreichischen Gegenwart, in der sich mit jedem Tag die Sprache der Rechtsextremen weiter normalisiert.
Bach und Obonya sprechen unterschiedlich. Ersterer ist kalt, überheblich und abgebrüht, aber verhältnismäßig austauschbar, einer unter vielen – eine Zuschreibung, die er permanent von sich zu weisen sucht, indem er sich rhetorisch über seine „Kameradenschweine“ erhebt. Obonya fügt diesem eisigen Sprech noch den Brustton desjenigen hinzu, der sozial immer schon bessergestellt war als die meisten anderen: ein Mann der Döblinger Oberschicht. Er verkörpert das, was seit ein paar Jahren als verrohte Bürgerlichkeit verhandelt wird. Aus ideologiekritischer Perspektive ist es deshalb nicht uninteressant, seinen wahnhaften Ausführungen über Effizienz, Vernunft und Natur zu folgen. So raunt er etwa, dass alle Menschen zu den Gewaltakten fähig seien, die er beschreibt, da Menschen bloß Instrumente der Natur seien – und sich damit die Frage erübrige, ob denn Gewalt ausgeübt wurde. Er distanziert sich von jeder Assoziation mit Schuld, da er seine Tätigkeit bloß als „Arbeit“, nie als „Lust“ empfunden habe. Und mit derselben Kälte legt er die Funktionsweise der schleichenden Entmenschlichung dar, die er und zahllose andere in der Alltagspraxis vollzogen: „Heute grüßt man einen nicht, morgen bewacht man ihn im Lager.“
Die beiden Figuren, die die Textcollagen der Täterschaft verkörpern, sprechen flüssig, gestochen und intellektuell. Sie sind Vernunftmenschen, der Ratio fähig, belesen und wortgewandt. Kein Stereotyp von den „dummen Nazis“ trifft auf sie zu, und das macht ihr Sprechen umso krasser und erschreckender. Ihr Geschichtsrevisionismus liegt nicht im Leugnen des Geschehenen, sondern darin, es in eine postulierte Vernunft der Historie einzugliedern.
Die Revolutionärin und Philosophin Simone Weil schreibt 1941: „Die Gewalt ahmt das Denken sehr gut nach.“ De Facto lässt die Zuseher*innen zwei volle Stunden lang diese präfigurativ-sprachliche Gewalt spüren, ohne sie irgendwie zu bebildern. Nur durch das Sprechen der beiden Nicht-Figuren im fein komponierten Gesprächssetting – bestehend aus kargem Raum inmitten opulenter Natur, smartem Kostüm der beiden Schauspieler sowie minimalistischem Mobiliar aus dreibeinigem Heimo-Zobernig-Tisch und Franz-West-Sesseln – wird ansonsten bilderlos, sogar bar jeder Gestik vermittelt, was der entmenschlichenden Sprache vorangeht und was auf sie folgt. Gegen Ende des Filmes sagt einer der beiden Männer: „Es ist doch erstaunlich, welchen Halt die Sprache einem gibt.“ In dieser Sprache raunt die Vernunft.
All seiner Gewaltnähe zum Trotz ist De Facto aber nicht nur beklemmend, verstörend und empörend, sondern auch sensibel: weil er sich der Brutalität, die er seinen Zuseher*innen zumutet, bewusst ist und einen Umgang mit ihr zu finden versucht. Nach 120 Minuten Tätermonologen erfolgt ein siebter und letzter Cut, endlich sieht man keinen Mann mehr, sondern den Raum, in dem man sich die letzten zwei Stunden befunden hat, von außen. Er wird erkennbar als der neoklassizistische Pseudo-Tempel im Wiener Pötzleinsdorfer Park, der auch „Freundschaftstempel“ genannt wird. Eine Weile sieht man den Bau nur dastehen, die Gräser wiegen sich sanft im Wind, und die Vögel zwitschern. Dann setzt unvermittelt ein bombastischer Schlagzeug-Beat ein, zu dem nach ein paar Takten Synthesizer-Akkorde hinzukommen. Sie schwellen über mehrere Minuten hinweg stakkatoartig an, die Drums werden immer ungestümer, bauen vorwärtstreibende Disziplin auf und brechen dabei immer wieder aus dem selbstgebauten Rhythmus aus. Es wird lauter und lauter, irgendwann ist das Bild schwarz, und die Musik geht weiter, und dann endet abrupt auch sie.
Mit dieser letzten Szene sorgt De Facto zuerst einmal dafür, dass die Zuseher*innen ein paar Minuten Zeit gewinnen, bevor sie aus dem Kinosaal auf die Straße gehen und sich dort die Frage stellen müssen, wie die Gewalt, die auf der Kinoleinwand unsichtbar blieb, in unserem Alltag ganz real fortdauert. Mehr noch aber fungiert der ruhige Tempel, über den die explosive Musik hereinbricht, als dialektisches Bild, das ein Verhältnis zum Film als Ganzen vorschlägt: unendliche Anspannung und zugleich die Möglichkeit des Aufbäumens gegen deren Ursachen. Dieser Film, der als Redeschwall der selbsterklärten Vernunft daherkommt, die noch die grausamsten Verbrechen in einen sinnvollen Lauf der Geschichte einzubetten weiß, legt minutiös diejenige Logik auf den verspiegelten Tisch, gegen die sich antifaschistische Praxis wenden muss. Nicht durch Rechthaberei oder intellektuelles Übertrumpfen, am allerwenigsten durch Kleinmachen, Abwerten oder Belächeln. Das alles, dies macht der Film überdeutlich, können die Faschist*innen am allerbesten. Vielmehr geht es darum, die Ideologien der Ungleichheit körperlich durchzuarbeiten, um sich ihnen aufs Entschiedenste entgegenzustellen. Die zehn Minuten Noise, mit denen De Facto schließt, stiften den Impuls, genau das zu tun, und sich nicht der Gewalt des Gehörten geschlagen zu geben.