April 1995 präsentierten wir im Wiener Volksgarten unsere allererste Ausgabe, damals noch unter dem Namen springer – Hefte für Gegenwartskunst. Auf dem Cover war, mit bewusstem Augenzwinkern gewählt, ein Chamäleon abgebildet – nicht als Zeichen des zu der Zeit um sich greifenden neoliberalen Opportunismus, sondern im Gegenteil: als Signal für die (über-)lebensnotwendige Adaptionsfähigkeit bzw. thematische Offenheit gegenüber neuen Umständen, egal, ob geopolitischer, kultureller oder sozialer Natur. 1998 wurde aus dem springer die springerin, unter anderem aufgrund der durch die Herauslösung aus dem gleichnamigen Wissenschaftsverlag in die Selbstverwaltung und Autonomie notwendig gewordenen Titeländerung. springerin befindet sich bis heute im Eigentum ihrer Produzent*innen. Unsere Rechtsform ist die eines gemeinnützigen Vereins. Nur so wohl konnten wir dem von der neoliberalen Marktlogik des Verlagswesens angetriebenen Zeitschriftensterben, dem so viele kritische Journale erlagen, entgehen – und durch die Treue unserer Abonnent* innen und Inserent*innen und unserer Autor*innen sowie jener der öffentlichen Unterstützer*innen.
Im grammatikalischen Gendering deutete sich aber auch eine Erweiterung der inhaltlichen Belange an: Globalisierung, der (bis dahin kaum existente) Blick nach Osteuropa und auf die kreativen Szenen der Republiken der Post-Sowjetunion, die Auseinandersetzung mit der rasant an Fahrt aufnehmenden Globalisierung sowie das fortgesetzte Interesse für Randständiges, Nicht-Kanonisiertes bzw. Nicht-Marktgängiges – all das und vieles mehr waren wichtige Leitmotive des Jahr für Jahr in neue Diskursmaterien vordringenden Zeitschriftenprojekts. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, doch springer hatte mit Korrespondent*innen schon eine Vorform des Blogs entwickelt und der Netzteil kommentierte (und kommentiert) nicht nur die dystopischen, sondern auch die emanzipatorischen Potenziale des Digitalen.
Nach 30 Jahren begehen wir im März 2025 nun mit der insgesamt 120. Ausgabe ein Jubiläum der besonderen Art. Geplant war ursprünglich eine Art „reflexive Selbstethnografie“, in der Wegbegleiter* innen aus allen möglichen Sparten (praktischer wie theoretischer Ausrichtung) zu Wort kommen sollten. Herausgekommen ist, auch der Knappheit des zur Verfügung stehenden Platzes geschuldet, ein kleiner, aber wie wir meinen, durchaus repräsentativer Querschnitt von Autor*innen- und Künstler*innenstimmen, die uns all die Jahre begleitet haben. Die von uns vorgelegten Fragestellungen lauteten: Wo und in welchem engeren Milieu war unser Projekt vor drei Jahrzehnten angesiedelt? Wie hat es sich im Lauf der Dekaden verändert bzw. wo hat es sich hin entwickelt? Welche diskursiven Setzungen haben auch rückblickend noch Bestand, welche Kurskorrekturen waren bzw. sind nötig, um unserer Form von Gegenwartsanalyse zeitgemäße Geltung zu verleihen? Wie hat die kontinuierliche Publikationstätigkeit auf unsere Art, mit und über Kunst zu denken, abgefärbt, und welche Erweiterung bzw. Modifikation unseres Selbstverständnisses hatte dies zur Folge? Und weitergedacht: Welche Räume werden den avancierteren Sektoren des Gegenwartskunstgeschehens in Zukunft (noch) offenstehen? Welche zeitkritischen Assemblagen werden – spekulativ gedacht – nötig sein, um den Wirrnissen und Widrigkeiten des Hier und Heute zu entkommen? Welche Ausblicke lassen sich wagen, ja welche Form von Kunstdiskurs könnte dem Kommenden, Nochnicht-Etablierten über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus angemessen sein?
30 Jahre springerin versammelt Betrachtungen, Reflexionen, Kommentare und Fragmente, künstlerischer wie theoretischer Natur, zu diesem Fragenkomplex. Zu Wort – und visuellem Ausdruck – kommen einige der vielen langjährigen Begleiter*innen, denen die in unserem Medium geführten Auseinandersetzungen stets ein Anliegen waren. Und die mit uns, auch wenn wir zwischendurch einmal länger nichts voneinander hörten, stets eine gewisse Affinität teilten. Edit András etwa hat früh vor dem Erstarken des Ethnonationalismus gewarnt, dessen Aufstieg sie in Ungarn aus nächster Nähe mitverfolgen konnte. In dieser Ausgabe lässt sie ihre kritische Auseinandersetzung damit am Beispiel der von ihr in den 2000erund 2010er-Jahren verfassten Artikel Revue passieren. In eine ähnliche Kerbe schlägt Boris Buden, der den Übergang der postsozialistischen Staaten (vor allem jener Ex-Jugoslawiens) über die Jahrzehnte kritisch begleitet und kommentiert hat. Rückblickend führt er hier noch einmal die vielen blinden Flecken und verdeckten Schrecken dieser Transition anhand des Syndroms der „wohlwollenden Westernisierung“ vor Augen. Brücken aus der Zeit Mitte der 1990er-Jahre ins Hier und Heute schlagen Hans-Christian Dany und Yvonne Volkart: Dany, indem er den Gründungskontext der frühen Netzkritik- Initiative nettime aufsucht und von dort aus Verbindungslinien in die Gegenwart sucht; Volkart, indem sie, gleichfalls von der anhebenden Digitalkultur ausgehend, ganz andere Schlussfolgerungen in Richtung mehr-als-menschlicher Intelligenzen bzw. Überlebensstrategien zieht. Alice Creischer und Andreas Siekmann, ebenfalls Autor*innen und Korrespondent*innen der ersten Stunde, nehmen eine aktuelle Episode rund um einen Akademierundgang zum Anlass, um retrospektiv nach uneingelösten Versprechen aus der Zeit von vor 30 Jahren zu fragen.
Welche Räume dem avancierteren Gegenwartskunstgeschehen in Hinkunft offenstehen werden, versuchen Süreyyya Evren und Keti Chukhrov auf nahezu diametrale Weise auszuloten: Letztere beschreibt die Unfähigkeit der zeitgenössischen Kunst, gerade auch angesichts massiver Gewaltwellen so etwas wie Trauer zum Ausdruck zu bringen; Ersterer stellt angesichts der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Kunstkritik die Notwendigkeit einer „kämpferischen Wende“ in Aussicht.
An ebendieser mit Blick An ebendieser mit Blick auf die sich abzeichnenden geopolitischen und kulturellen Grabenbrüche zu arbeiten war auch immer eines der Motive unserer redaktionellen Position. Daran hat sich bis heute nichts geändert.