Heft 1/2025 - Lektüre



Aruna D’Souza:

Imperfect Solidarities

Berlin (Floating Opera Press) 2024 , S. 71 , EUR 17

Text: Paul Buschnegg


Bertolt Brecht sah es bereits ähnlich: Mitgefühl aktiviert nicht, sondern sediert. So führte er im Theater der 1920er-Jahre Elemente ein, die Spannung und Mitleid unterbrechen, um mit klarem Verstand zu solidarischem Handeln zu animieren. Die US-amerikanische Kunstkritikerin und Autorin Aruna D’Souza begibt sich in ihrem 2024 erschienenen Text Imperfect Solidarities aus ähnlichem Antrieb auf die Suche nach Alternativen zur Empathie. Dabei verliert sich der Text, der mit Szenen in Gaza anfängt, in Kunst- und Literaturanalysen, die zum Schluss genauso schöngeistig wirken, wie sie ratlos stimmen.
Es ist der 7. Oktober 2023, der D’Souza zum Anschreiben gegen das Mitgefühl animiert hat. Der Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel sowie Benjamin Netanjahus radikale Reaktion in Form von Bombardement und Bodenoffensive gaben den Anstoß, auf langjährige Überlegungen zurückzukommen, wie sie zu Beginn des etwa 100-seitigen Essays anmerkt. Empathie reiche bei vielen zeitgenössischen Konflikten nicht aus, schreibt sie. Sie kehre uns nach innen, mache emotional wie egoistisch.
D’Souzas Text, in dem der seit dem Terroranschlag der Hamas weltweit gestiegene Antisemitismus keinen Platz findet, will viel. Was könnte anstelle von Empathie als Grundlage von solidarischem Handeln taugen? Wie kann man politische Brücken bauen, die mehr Differenz aushalten als Mitgefühl, das wir laut D’Souza nur denen entgegenbringen, die wir „verstehen“ können. Sie fragt: Wie können wir mit marginalisierten Gruppen solidarisch werden, die uns so fremd sind, dass wir trotz jedweder Gewalt, die ihnen widerfährt, nicht mitfühlen können?
D’Souza stellt fest, dass das Ringen um Empathie heute vor allem von den sozialen Medien befeuert wird. Sie schildert das Dilemma, wenn sich palästinensische Berichterstatter*innen beim Senden von Videobotschaften aus den Trümmern selbst in Gefahr begeben. Dabei helfe die Empathie aber meist gar nicht denen, die sich in Gefahr befinden, sondern bekräftige eher Menschen in Sicherheit, so D’Souza. Diese seien meist weiß und privilegiert. Das zementiere Machtverhältnisse, anstatt ihnen entgegenzuwirken, so die Autorin.
Sie schildert, wie Empathie eher Ärger, Schock und Frustration provoziert, anstatt komplexen Problemen Logik entgegenzusetzen. Empathie wirkt dabei meist emotionalisierend – und werde gerade deshalb auch so gern politisch missbraucht. Leider wird D’Souza dabei selbst zum besten Beispiel ihrer eigenen These. Anstatt Trump oder Netanjahu ins Visier zu nehmen, diffamiert sie die US-amerikanische Schauspielerin Mayim Bialik, die kurz nach dem Überfall der Hamas 2023 in einem Video auf Social Media ihr Mitgefühl mit Israel kundtat, ohne dabei das Leid der Palästinenser*innen zu erwähnen. D’Souza nennt ihr Video als Beispiel, wie ein „Gefühlsspektakel“ Empathie „pervertieren“ könne. Das ist weder logisch noch solidarisch und lässt an den postempathischen Ambitionen der Autorin zweifeln.
Die theoretischen Überlegungen, die D’Souza in Folge in den Ring wirft, sind dennoch nicht uninteressant. So zitiert sie etwa den aus der Karibik stammenden Poeten und Kulturtheoretiker Édouard Glissant, der in seinem Werk den Begriff der Opazität geprägt hat. Opazität, so Glissant, ist das Recht marginalisierter Gruppen aufs Nicht-verstanden-Werden; auf ein eigenes Geheimnis. Das Konzept steht im Gegensatz zur zentralen Denkart des „aufgeklärten Westens“, die Welt nach gleichem, wohlgemerkt eigenem Maßstab auszuloten und nachzuvollziehen. Kein Verstehen – keine Hierarchie, so Glissant. Geht es nach D’Souza, kann das Konzept der Opazität als hilfreiche Alternative zur Ungleichheit produzierenden Empathie dienen. Ähnliche Alternativen sieht sie in Konzepten wie „Critical Whiteness“, „Intersektionalität“ oder „Care“. Letzteres stehe dafür, jeglicher Unterschiedlichkeit zum Trotz Fürsorge als fundamentalen Wert hochzuhalten.
D-Souza bemüht sich, ihre theoretischen Überlegungen anhand von zeitgenössischer Kunst und Literatur nachvollziehbar zu gestalten. So zieht sie etwa den Roman Sea of Poppies des indischen Autors Amitav Ghosh heran, um über die Vorzüge von Hybridsprachen zu schreiben, die zur Kolonialzeit auf Handels- wie Piratenschiffen gesprochen wurden. Wiederkehrende Missverständnisse können laut D’Souza als nützliche Antithese zur uniformierenden Macht der Empathie wirken. „Can we imagine a situation in which the Tower of Babel could be built?“, fragt sie.
Die Lösungsvorschläge und Beispiele, die D’Souza anbietet, reichen leider kaum über bildende Kunst und Literatur hinaus. Sie mögen hilfreich sein, um an der Uni Diskursaffinität zu beweisen; dem eingangs formulierten Anspruch, Konflikten wie dem in Gaza mit neuen Solidaritätsbegriffen entgegenzuwirken, können sie allerdings kaum gerecht werden. Welchen Nutzen haben Opazität oder hybride Sprachen im Angesicht von politischem Islam, Scharia und Antisemitismus? Wie könnte Critical Whiteness dabei helfen, der Unterdrückung und der damit einhergehenden Radikalisierung, die Palästina seit Jahrzehnten erfährt, entgegenzuwirken? Imperfect Solidarities bleibt diese Antworten nicht nur im Ansatz schuldig.
Dabei ist es genau die Radikalisierung, die D’Souza in ihren Überlegungen über Empathie außen vor lässt. In Zeiten, in denen viele Menschen ebenso viel Zeit in sozialen Netzen verbringen wie in der Realität, bekräftigt das Konzept der Empathie wahrscheinlich nicht nur bestehende Machtverhältnisse und fördert emotionale Kurzschlussreaktionen, sondern stärkt auch extremistisches Gedankengut, das so wie die Empathie besser in Schwarz-Weiß funktioniert. In einer Zeit, in der soziale Medien zunehmend auf Faktenchecks verzichten und den Weg für eine Zukunft ohne Wahrheitsanspruch ebnen, braucht es vielleicht keine imperfekten Solidaritäten, sondern zunächst einmal perfekte Deeskalation auf Meta, Google und TikTok.