Heft 1/2025 - Artscribe


Aleksandra Domanovic

5. September 2024 bis 26. Januar 2025
Kunsthalle Wien / Wien

Text: Mounira Zennia


Wien. Unter der neuen Leitung von Michelle Cotton eröffnet die Kunsthalle ihre erste Saison mit einer Werkschau der Künstlerin Aleksandra Domanović. Die Ausstellung umfasst Skulpturen, Videos, digitale Medien, Drucke und Fotografie und erstreckt sich über eine Fläche von 1.000 Quadratmetern im ersten Stock der Kunsthalle. Sie vereint Arbeiten aus den letzten 18 Jahren, darunter auch neu beauftragte Skulpturen und Videos, die an der Schnittstelle von Geschichte, Kultur und Technologie danach fragen, wie diese unser Verständnis von Identität und gegenwärtiger Gesellschaften prägen. Über 40 Werke zeigen die Entwicklung einer spielerischen und zugleich kritischen Praxis, die von der Informationskultur der Post-Internet-Ära geprägt ist.
Eine der frühen Arbeiten entstand inmitten der Finanzkrise und dem Aufkommen der sozialen Medien: Es handelt sich um die Arbeit hottesttocoldest.com (2008), eine Website, bestehend aus nur einem einzigen Link, der alle Hauptstädte der Welt in absteigender Reihenfolge fortwährend nach ihrer aktuellen Temperatur ordnet. Motiviert durch ihre Vorliebe für die Dynamik des Wetters, schafft Domanović einen sich ständig verändernden Text, der auf spielerische Weise Fragen zu globalen Klima- und Geopolitiken aufwirft.
In den Räumen der Kunsthalle bewege ich mich durch eine Landschaft aus großformatigen 3D-Drucken, die zusammen die Arbeit Things to Come bilden. Gedruckt auf großen, transparenten Folien, die von der Decke hängen, führt das Werk die Betrachter*innen durch eine Reihe von Bildern, die die Rolle der Frau in populären Science-Fiction-Filmen darstellen (bspw. in Aliens und Blade Runner). Umgeben sind die Transparente von zahlreichen Skulpturen. Ein Motiv, das sich wiederkehrend durch die gesamte Ausstellung zieht, ist eine charakteristische Handprothese. Sie geht auf die als Belgrader Hand bekannte Prothese zurück, die 1963 von dem serbischen Wissenschaftler Rajko Tomović entwickelt wurde. Als Sinnbild der jugoslawischen Geschichte in Cyborg-Ästhetik schuf Domanović ein 3D-Rendering der Hand, das es ihr ermöglichte, verschiedene Varianten der Prothese zu reproduzieren. Mit Metall und synthetischen Materialien überzogen, wirken die Hände ebenso organisch wie künstlich. In verschiedenen Haltungen und Gesten, scheinbar zufällige Objekte wie eine Zigarette oder das Yin-und-Yang-Symbol haltend, erscheinen sie als eine von vielen Materialisierungen der künstlerischen Praxis Domanovićs.
Im Untergeschoss der Kunsthalle ist eine neue Version des 30-minütigen Videoessays Turbo Sculpture (2009/24) zu sehen, eine Arbeit mit regionalem Bezug zum Westbalkan. Beim Durchstöbern internationaler Nachrichtenkanäle im Internet stieß die Künstlerin auf ein Bruce-Lee-Denkmal, das 2005 in Mostar, Bosnien und Herzegowina, errichtet wurde. Weitere Denkmäler von Bob Marley, Rocky Balboa, Tupac und Madonna, verteilt über den Westbalkan, werden folgen, bis Domanović 2009 plötzlich eine ganze Serie vor Augen hat und der Videoessay entstehen kann. Die visuelle Darstellung des Filmes erinnert an die Ästhetik einer Prezi-Präsentation, während eine futuristische Erzählstimme den Film begleitet und die Hintergründe und Ursachen der Statuenerrichtungen beleuchtet. „Die Glorifizierung nicht-politischer Celebrity-Figuren aus dem Westen sei wahrscheinlich das Ergebnis einer Identitätskrise, die auf den Jugoslawienkrieg der 1990er-Jahre zurückgehe“, lässt uns die Erzählerstimme wissen. Es folgen jedoch Statuen von US-Präsidenten und anderen politischen Persönlichkeiten des Westens der Gegenwart. Die Bezeichnung „Turbo Sculpture“ leitet sich aus dem Musikgenre Turbo Folk ab, das sich durch eine in sich widersprüchliche Fusion von elektronischen Tanzrhythmen und neotraditionellen Melodien auszeichnet. Besiegelt wird dieser Widerspruch schließlich im 2024 neu hinzugefügten Epilog, der zeigt, wie ein Jahrzehnt später die Hinwendung zu nationalistischen Ikonen der Antike und des Mittelalters nun die Denkmallandschaft des Balkans bestimmen. Das Konzept der Beständigkeit von Denkmälern, das verhindert, überlieferte historische Narrative infrage zu stellen, wird in den letzten Jahren zunehmend hinterfragt. Domanović beobachtet in Bezug auf den Balkan eine beunruhigende Entwicklung: „Während der Rest der Welt koloniale Denkmäler abbaut und sich kritisch mit seiner Geschichte auseinandersetzt, errichtet der Westbalkan immer noch gerne Denkmäler für alle möglichen Berühmtheiten aus Hollywood oder dem Mittelalter, solange sie ihn davon abhalten, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen“, wie die Künstlerin im Interview mit Michelle Cotton beschreibt. Der Epilog wird von Domanović als Aufforderung interpretiert, die manifesten und latenten Geschichten und Werte, die durch Denkmäler repräsentiert werden, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und sich der Grenzen und Vorurteile bewusst zu werden, die diesen Repräsentationen innewohnen.
Ausgehend von einer Fülle von Material, das über einen Zeitraum von 18 Jahren zusammengetragen wurde, präsentiert die Ausstellung eine umfassende Untersuchung der drängenden Fragen unserer Zeit. Dabei geht es um die komplexen Dynamiken von Identität, Politik, Nationalismus, Gender und Informationsverbreitung sowie um die fortwährende Neuschreibung historischer Narrative. Innerhalb dieser Diskurse werden tiefgreifende Reflexionen über Wahrnehmung, Wahrheit und deren Überschneidungen mit Massenmedien und technologischem Fortschritt angestellt.
Ebenso selbstverständlich wie zur Zeit ihrer Entstehung Mitte der Nullerjahre werden die Künstlerin und ihr Werk der Kunstbewegung des Post-Internets zugeordnet, die eine Praxis von Künstler*innen beschreibt, die das Internet als Grundlage ihrer Arbeit benutzen, aber keine große Sache daraus machen. Anders als für Künstler*innen früherer Generationen ist das Web für diese Künstler*innen nur ein weiteres Medium wie Malerei oder Skulptur. Ihre Kunstwerke bewegen sich fließend zwischen den Räumen, erscheinen mal auf einem Bildschirm, mal im Raum oder an der Wand.1
In einer Zeit, in der das Internet zunehmend als Instrument der Kommerzialisierung und Zensur missbraucht wird, stellt sich die Frage, ob die Idee des Internets als bloßes Medium einer Aktualisierung bedarf. Domanović, die regelrecht durch das Internet zur Kunst gefunden hat, setzt trotz seiner radikalen Veränderungen dennoch auf die Kraft und Reichweite des Mediums und stellt stattdessen die Frage: „Können wir diese Räume nutzen, ohne von ihren Regeln völlig vereinnahmt zu werden?“2

 

 

[1] Vgl. Kenneth Goldsmith, Post-Internet-Poetry Comes of Age, in: The New Yorker, 2015; https://www.newyorker.com/books/page-turner/post-internet-poetry-comes-of-age.
[2] Carson Chan/Aleksandra Domanović, You Saw History Being Written and Rewritten in Front of Your Eyes: Aleksandra Domanović and Carson Chanin Conversation, 2024, https://mostmagazine.org/2025/01/24/you-saw-history-being-written-and-rewritten-in-front-of-your-eyes-aleks-domanovic-and-carson-chan-in-conversation/, Übersetzung der Autorin.