Heft 1/2025 - Artscribe


Mathias Poledna

21. September 2024 bis 21. November 2024
HALLE FÜR KUNST Steiermark / Graz

Text: Christian Höller


Graz. „Lost Product“ nannte Mathias Poledna vor gut 25 Jahren sein Produktionsunternehmen, zunächst ein Ein-Personen-Betrieb, zwischenzeitlich aber immer wieder zu beachtlicher Variabilität angewachsen. Seiner ersten Einzelausstellung in Österreich seit über zehn Jahren, ausgerichtet von der Halle für Kunst Steiermark, ist der Grundgedanke des „verlorenen Produkts“ gleich mehrfach eingeschrieben. Ja, man hat die Poledna-typische Form der fragmentarischen Verdichtung, die auf diesem insinuierten Objektverlust aufbaut, selten zuvor so versatil und über mediale Bereichsgrenzen hinweg ausdifferenziert gesehen. Wobei das Kürzel „Lost Product“ klarerweise nicht dafür steht, dass hier wenig bis nichts ausgestellt wäre. Ganz im Gegenteil: Die Reduktion, die Poledna – architektonisch, medial, gestalterisch, konzeptiv – vornimmt, besteht darin, unterschiedliche Produktionsfelder und -logiken auf eine Weise zu verschränken, dass aus deren historischer Referenzialität heraus eine Produktivität höherer Ordnung Gestalt annimmt. Die Ausgangsmaterien, egal, ob popkultureller, kunstgeschichtlicher oder sonstiger Natur, mögen unwiederbringlich verloren sein. Das distinktive Moment liegt darin, und das zeichnet Polednas Kunst seit drei Jahrzehnten aus, dass genau dieser Verlust den Keim einer durch und durch zeitgenössischen Erfahrung birgt: dass neue Formen von Produktivität nur um den Preis radikaler Aufspaltung, und ja, bisweilen auch Auslöschung zu haben sind, selbst wenn oberflächlich der Anschein von Solidität dominiert.
In der Halle für Kunst setzt Poledna diesen Prozess zunächst architektonisch um. Indem er den Hauptraum durch eine lange weiße Wand in zwei Hälften teilt, splittet er das White-Cube-Prinzip auf geradezu ironische Weise: links ein „leerer“ Raum, in dem das institutionelle Setting sozusagen seiner selbst ansichtig wird; rechts die Inversion dessen, was üblicherweise ein Blackbox-Kinoraum wäre, in eine ebenfalls weiße Umgebung. (Für den in regelmäßigen Abständen gezeigten Film geht einfach das Licht aus. Der 35-mm-Projektor, in einem begehbaren Nebenraum platziert, bildet ein weiteres, gleichwertiges Exponat.)
Die knapp zehnminütige filmische Arbeit My Favorite Shop demonstriert die genannte fragmentierte Dichte in nuce. Allein die von Poledna im wahrsten Sinne komponierte (aus bestehenden Versatzstücken zusammengebaute) Tonspur spricht Bände, verlinkt sie doch, durchaus clubmusikaffin, so verschiedenartige 1960er- und 70er-Acts wie die Bee Gees, Kraftwerk, Wendy & Bonnie, Steve Reich oder die O’Jays. Die Produktionstechniken von Sampling, Looping und (zerhacktem) Remixing sind hier ebenso selbstverständlich präsent, wie der Track, gleichsam dialogisch über sich hinausgehend, visuell mit Sequenzen einer Modeschau verschränkt ist. Zwei Models führen darin das immergleiche, schlicht wirkende Seidenkleid – in unterschiedlichen Farben, mit stets herabhängendem Gürtel – auf einem diagonal durch das Bild verlaufenden Catwalk vor.
Auch die Filmbilder, Halbtotalen und Close-ups, tragen eine gewisse Verlustigkeit in sich. Ihr schwarze, indifferente Rahmung „entlokalisiert“ die Szenerie gewissermaßen (ein Verfahren, das Poledna 2001 schon bei seinem Film Actualité anwandte), was aber erneut nicht heißt, dass das Ganze völlig geschichtsenthoben wäre. Vielmehr konstruiert sich hier einmal mehr eine Art höhere Historizität – so wie heute jedes popkulturelle oder generell kulturgeschichtliche Gedächtnis unweigerlich Bruchstücke aus unterschiedlichsten Epochen bzw. Kontexten in eins blendet und so die ganze Zeit über Produkte „zweiter Ordnung“ entstehen, ohne dass der zugrunde liegende Prozess automatisch als Geschichtsvergessenheit zu werten ist. Polednas Meisterschaft, wenn man so will, besteht darin, dieses fragmentarische Verlustiggehen wenn schon nicht ins eindeutig Positive zu wenden, so doch als legitimes Konstruktionsprinzip heutiger Kultur herauszupräparieren.
Dies zeigt sich auch an dem in die zweite Hälfte von My Favorite Shop eingebauten Schockmoment: Eines der Models trägt plötzlich, sozusagen als abjektes Accessoire, einen abgeschnittenen, bärtig-langhaarigen Männerkopf über den Laufsteg – nachdem in der Songmontage die Zeilen „The winter, it’s cold, it’s cold … since you’ve been gone …“ (Wendy & Bonnie, 1969) mehr als einmal geloopt, verfremdet, zerhäckselt wurden. Die Referenzen des abgetrennten Haupts sind (wie meist bei Poledna) mannigfach – biblisch, kunsthistorisch, zeitgeschichtlich etc. – und nicht auf eine einzige Lesart reduzierbar. Egal, welche man bevorzugt, geht es auch hier darum, dem dezidierten Widersinn, dem „Anderen“ einer Modeschau etwa, Platz im verdichteten Produktionskosmos heutiger Kultur einzuräumen. Mode mag immer schon nahe an Tod und Verzweiflung angesiedelt gewesen sein, in My Favorite Shop jedoch erscheint der Schrecken (bzw. eines seiner maßgeblichen Embleme) als integraler Teil alles Kulturindustriellen. Insofern eignet ihm auch nichts Antithetisches oder Dialektisches – worauf die Inszenierung hinauswill, ist das Eingeständnis, dass er tief in die Immanenz des Popkulturellen hineinverwoben ist.
Apsis und Keller des ehemaligen Künstlerhauses, übrigens der erste modernistische Kulturbau in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, halten Readymades bzw. Re-Photography bereit. In der Apsis, welche die Kunsthalle nach außen abschließt, hängt wie ein Altarbild präsentiert, die zwei mal drei Meter große Teppicharbeit Örtagården (Kräutergarten): 1928 entworfen von der schwedischen Designerin Märta Måås-Fjetterström 1928, wurde sie 1988 in dem von ihr gegründeten Studio handgefertigt. Die Figurationen des Musters evozieren weniger eine Welt der Botanik – deren reale Ansicht durch das einzige Fenster aus dem umgebenden Stadtpark in den Ausstellungsraum dringt –, als dass sie an Frühformen von Computerspielen bzw. -grafik erinnern. Auch das, gemeint ist die Auswahl bzw. Platzierung des Objekts, ein raffinierter Kniff, wie sich historische Artefakte behutsam ihrer Geschichtlichkeit entheben lassen, ohne dass der von ihnen verkörperte Produktionsmodus dabei gänzlich in Vergessenheit gerät. Schließlich bleibt erkennbar (bzw. nachlesbar), inwiefern hier weibliche Handarbeit zentraler Bestandteil des Fertigungsprozesses ist – und das bis heute.
Anders die Serie der 17 im Keller präsentierten Fotografien, die in einer filmkaderartigen Sequenz die Herstellungsschritte eines historischen Alfa-Romeo-Modells festhält. Oder besser: eine Dokumentation eben dessen re-inszeniert, handelt es sich bei der Serie doch um ein Re-Photography von Ausschnitten eines in den 1960er-Jahren veröffentlichten Bildbands. Kontrapunktiert ist diese Darstellung einer Darstellung einer Darstellung (Stufe eins wäre quasi der „verloren gegangene“ industrielle Prozess selbst) durch das in der Mitte des Raumes hängende Vintage-Objekt – ein teils noch verpackter Michelin-Reifen, erworben von einem Alfa Romeo Owners Club in Illinois.
Im Kreisrund des Reifens, mit offener Mitte, spiegelt sich das Konstruktionsprinzip des gesamten bereichsübergreifenden Parcours wider: Objekte oder aus ihnen hervorgegangene Bruchteile, die sich in ihrem hochgradigen Verweischarakter zu höherer – keineswegs hermetischer, sondern „frei“ besetzbarer – Produkthaftigkeit verbinden. Die Originalmaterie mag verloren sein; der darauf Bezug nehmenden Praxis gelingt es, umso schillerndere und zugleich kompaktere Formen hervorzubringen.