Heft 2/2025 - Solidaritäten
Ana Teixeira Pinto: Ich habe den Eindruck, als würden derzeit alle an ein und demselben Artikel schreiben. Dessen Argumente gehen ungefähr so: Die Linke habe sich verirrt, weil sie Kulturkämpfe ökonomischen Kämpfen vorziehe. „Polarisierende Themen“ hätten die Linke der arbeitenden Klasse entfremdet, die folglich zu Trump und Le Pen übergelaufen sei, weil sie sich in politischen Bewegungen, die von einer „woken“ Gedankenpolizei beherrscht würden, nicht mehr zu Hause fühle. Diese Verachtung für die „Identitätspolitik“, die das Gegenteil der „Realpolitik“ sein soll, begründet dieser Artikel, an dem alle schreiben, dann frank und frei mit einem wahllosen bizarren Posting aus den sozialen Medien, dem zufolge „Anne Frank eine privilegierte Weiße“ gewesen sei, was wiederum Beweis genug ist, dass die „Cancel-Kultur toxisch ist“. Dann werden Schlagworte wie „Ungleichheit“, „Antiimperialismus“, „Genosse“ oder auch „Universalismus“ gegen alle in Stellung gebracht, denen es angeblich an Solidarität mangelt. Hin und wieder gibt der Artikel, den alle schreiben, sogar missmutig zu, dass Black Lives Matter oder #MeToo eine gewisse Berechtigung hätten, nur um dem dann spektakulär entgegenzuhalten, mit Worten wie „Vergewaltigungskultur“ oder „weiße Zerbrechlichkeit“ rhetorisch übertrieben zu haben …
Meiner Ansicht nach ist an diesem Narrativ problematisch, dass Bewegungen wie jene gegen Gender-Ungerechtigkeit oder gegen ethnisch motivierte Polizeigewalt mit dem Verdikt „Interessengemeinschaft“ abgetan werden. Diese Bezeichnung für Transgender-Rechte habe ich wirklich auf einer marxistischen Konferenz gehört! Vergessen wird bloß, dass gerade diese Bewegungen ja eine Debatte darüber eröffnen wollen, was soziale Gerechtigkeit überhaupt bedeutet – also genau über Vermögensverteilung, Chancen und Privilegien in der Gesellschaft diskutieren wollen.
Sven Lütticken: Ein Text, der sich meiner Meinung nach von diesem „immer gleichen Artikel“ doch etwas unterscheidet, stammt von Gabriel Winant, der nach dem Wahldebakel von Kamala Harris schrieb, die Demokratische Partei mache nach jeder Niederlage mit „business as usual“ weiter und ignoriere dabei die echten Sorgen der arbeitenden Wählerschaft. Es brauche das Gespenst der Wokeness gar nicht, denn „an jedem kritischen Punkt versuchten die Demokrat*innen mit ihrem Krisenmanagement, ihren Rettungsaktionen und mit Improvisation, wieder zum Normalzustand zurückzukehren. Es ist diese Orientierung ebenso wie inhaltliche Fragen im Bereich von Kultur, Herkunft und Gender, die sichtlich der wahre Grund dafür sind, dass die Demokrat*innen von der Mehrheit als eine hemmende und nicht mehr fortschrittliche Kraft angesehen werden. Genau diese Politik der Schadensbegrenzung ist der Grund, warum viele Trumps Obszönität als Befreiung erleben.“1
Die Obszönität kommt teilweise vom Reiz, andere zu entmenschlichen, indem man weiße und heterosexuelle Männer einmal mehr als Markenzeichen der amerikanischen staatsbürgerlichen Rechtsperson setzt. Alle anderen Menschen sind dann – manchmal sogar auf krasse Weise – weniger als eine vollwertige Rechtsperson. Allerdings meine auch ich, dass eine ernsthafte Kritik der liberalen Identitätspolitik nötig ist, aber nicht, indem man auf alles, was man für woke hält, einfach draufhaut. Dadurch riskieren ja einige in der Linken, es der extremen Rechten gleichzutun. Die Angst vor trans Personen beispielsweise ist kein irgendwie natürlicher Reflex, den wir möglichst nicht „triggern“ sollten, sondern eine Reaktion, die rechte Medien mit ihrer Panikmache permanent angestachelt haben. Der Kulturkampf der extremen Rechten ist zwar der Schlüssel. Dennoch bin ich keineswegs davon überzeugt, dass liberale Identitätspolitik, die Antirassismus, Frauen- und Trans-Rechte als integralen und nicht verhandelbaren Teil ihres emanzipatorischen Projekts begreift, durch Lifestyle und Moralpredigten zielführend ersetzt werden kann.
Teixeira Pinto: Hier wird’s brenzlig, denn schließlich leben ja nicht alle im gleichen Milieu. Ein typisches Argument lautet, dass Kritik, wie scharf auch immer sie sein möge, auf jeden Fall gesund sei, weil sie die egozentrische Sicht jedes Menschen oder seine Fantasie, die Kontrolle zu haben, durchbreche. Nur so entstehe Raum für politisches Wachstum. Wenn du aber als Mitglied einer Minderheit aufwächst, muss man nicht erst deine Egozentrik durchbrechen, denn du hast die Brutalität struktureller Feindschaft in der Gesellschaft ja schon erlebt. Du brauchst vielmehr jemanden, der dir diese Erfahrung als echt bestätigt. Die Frage ist: Wer hat worauf Anspruch?
Ich will es noch deutlicher sagen. In einem Kommentar zu den Protestcamps auf US-Unis bemerkt Sam Adler-Bell, dass „in den letzten Jahrzehnten die Uni-Verwaltungen der Idee anhingen, die Studierenden müssten sich in ihrer Identität wahr- und angenommen fühlen. Bestimmte politische Meinungsäußerungen waren daher Grund zur Bestrafung. Der Krieg in Gaza indes hat diese Praxis in die Krise gestürzt. Aktivist*innen hatten jedes Recht, ihre Wut über die Gräueltaten in Gaza zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig konnten jüdische Studierende aber nicht erwarten, vor Aussagen geschützt zu werden, die ihr Selbstgefühl verletzten.“2
Ich bezweifle nicht, dass die Protestierenden das Recht hatten, sich gegen Kriegsverbrechen zu stellen. Trotzdem kann ich die Tatsache, dass sich jüdische Studierende „unsicher fühlten“, nicht einfach als deren enttäuschte Erwartung abtun – besonders in Europa, wo der Antisemitismus ja deutlich spürbar ist. Es handelt sich hier nicht um eine zur Waffe umgemünzte Verletzlichkeit von Incels oder TERFs.3 Zu entgegnen: „Ihr fühlt euch nicht unsicher, sondern bloß unwohl“, lässt außer Acht, dass die Grenze zwischen „sich unwohl fühlen“ und „sich unsicher fühlen“ hauchdünn ist. Lauren Berlant zum Beispiel argumentiert, dass Unwohlsein als Affekt in allen möglichen Intensitäten auftreten kann. Andererseits werden in Berlin arabische oder arabisch aussehende Jugendliche wie der afrodeutsche Sohn einer meiner Freundinnen regelmäßig auf der Straße belästigt. Ich kann palästinensische Demonstrant*innen nicht für ihre Tonlage kritisieren, denn auch ihre Gefährdungserfahrung muss ernst genommen werden. Ich erhoffe nicht, eine Lösung zu finden, sondern wäge nur gegensätzliche Forderungen ab. An diesem Punkt angelangt, habe ich den Eindruck, dass man die Diskussion vom Affekt wegbringen und stattdessen fragen muss: Welche Personen sind eigentlich primär von staatlicher oder staatlich sanktionierter Gewalt betroffen?
Lütticken: Da ist etwas dran. Es ist entscheidend, sich solche Fragen immer wieder von Neuem zu stellen und dabei die Verwicklungen und Widersprüche nicht zu vergessen oder sie als Alibi fürs eigene Schweigen zu missbrauchen. Nehmen wir zum Beispiel die ach so liberalen Niederlande. Dort gibt es eine Studierendenfraktion, die an mehreren Unis aktiv ist, die Vrijmoedige Studentenpartij, die sich offenbar Thierry Baudets extrem rechtes FvD zum Vorbild genommen hat und die volle Bandbreite anti-woker Politik betreibt. Vor den Wahlen zur Studierendenvertretung 2025 an der Vrije Universiteit Amsterdam warben sie unermüdlich für das Recht auf den eigenen „Hausverstand“. Dazu fragten sie rhetorisch: „Hast auch du Angst auszusprechen, dass es nur zwei Geschlechter gibt? Dann wähle uns!“ Hier wird eine bestimmte cis Verblasenheit zur Waffe umfunktioniert: „Hilfe, wir werden unterdrückt, weil wir nicht mehr sagen dürfen, was wir wollen, und genau deswegen sagen wir es laut!“ Sie übernimmt Phrasen wie „Genderwahn“, die nicht das „Selbstverständnis“ queerer und trans Studierender gefährden, sondern konkret ihr Recht bedrohen, sich in einem gemeinsamen akademischen Raum aufzuhalten, ohne Angst vor verbalen oder körperlichen Angriffen haben zu müssen. Und dieses Recht gilt natürlich für alle Studierenden und Angestellten an der Uni. In der Verwirrung des Krieges wird leider die „Bedrohung des Ich“ auf vielfache Weise in den Dienst der hegemonialen Staatsräson gestellt, etwa wenn jede Kritik an Israel als „israelbezogener Antisemitismus“ gedeutet wird. Das untergräbt alle Versuche, jene Anti-Israel-Positionen zu bekämpfen, die tatsächlich mit antisemitischen Tropen und dogwhistles daherkommen. Am Ende landet man in einer Situation, in der Lobbygruppen und Netzwerke mit einem direkten Draht zu bestimmten politischen Parteien und Medien sich die Definitionsmacht über „Campussicherheit“ aneignen und in der verleumderische Aussagen eines Informanten über lebende und verstorbene Professor*innen der Angewandten zu FPÖ-Anfragen im Nationalrat sowie einem hetzerischen Artikel in der Kronen Zeitung führen können.4 Dies ist eine Kriegsmaschine, die die Sprache der Verletzlichkeit zu nutzen versteht.
Teixeira Pinto: Ich möchte zu deinem Argument vom „Reiz, andere zu entmenschlichen“, zurückkommen. Hier würde ich eine Kritik der Kulturpolitik einschließlich der „Beschuldigungskultur“ anschließen, die man als Eigenschaft oder besser als Geschäftsmodell der sozialen Medien ansehen kann. Durch affektive Polarisierung und eine durch die Anonymität ermöglichte Enthemmung normalisiert sie den Hass. Incels zum Beispiel fühlen sich isoliert und suchen Trost in Onlineforen. Solche Foren erhöhen aber wiederum den Gruppendruck und die Kontrolle. Dazu enthüllen die Incels auch noch intime Details, was ihre Isolation und ihr Leid weiter fördert.
Ich glaube, solche Dynamiken spielen auch in anderen Foren eine Rolle, wenngleich etwas abgeschwächt. Jedenfalls sollte man daran denken, wenn man über den „Reiz, andere zu entmenschlichen“, sprechen will, gegen den ja auch die Linke nicht immun ist. Auch sie ist der Aufmerksamkeitsökonomie unterworfen, bei der Herabsetzung die beste Methode ist, um Klicks und Likes zu bekommen. Auch hier ist die Entmenschlichung Teil der Logik des Geschäftsmodells. Es ist einfach nicht emanzipatorisch, jedes Schamgefühl abzulegen, denn Scham ist ein soziales Gefühl. Was dabei herauskommt, sieht man an der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs über die Auslegung der Bezeichnung „Frau“. Das ist ein kleinlicher und bösartiger Angriff auf trans Frauen, der ohne den endlosen Strom gehässiger YouTube-Podcasts, in denen Aktivist*innen, Ärzt*innen, Schulen usw. verunglimpft wurden, nicht möglich gewesen wäre.
Lütticken: Und ohne Tausende Tweets von J. K. Rowling! Sollen wir an dieser Stelle die F-Bombe hochgehen lassen? Viel Tinte wurde ja vergossen in der Debatte, ob der Ausdruck „Faschismus“ (oder auch sein Fehlen) unter den heutigen Umständen begrifflich und analytisch produktiv sei. Offenkundig gibt es ja in der jetzigen Lage viele besondere Aspekte, die nicht so leicht mit den 1920er- und 1930er-Jahren parallelisiert werden können, wenngleich es auch starke Kontinuitäten und Wiederholungen gibt.5 Dann ist da die Tatsache, dass sogar die offenkundigsten Kandidat*innen die Bezeichnung für sich zurückweisen und sich dabei auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. „Wage nur nicht, mich faschistisch zu nennen“, sagen die Faschist*innen. Was für scheue Wesen sie sind! Im Kampf gegen einen Faschismus, den man nicht aussprechen soll, hat der Ausdruck Nutzen und bewahrt seine Aussagekraft. Ein noch brauchbareres Wort ist aber vielleicht der deutsche Begriff „Faschisierung“, der eine Tendenz bezeichnet, der auch viele bürgerliche Akteur*innen und Institutionen unterliegen. Wie dem auch sei, ich komme immer wieder auf dieselbe Frage aus einem Lied von The Fall zurück: „Who makes the Nazis?“ Welche Faktoren spielen eine Rolle, welche Formen der Subjektivierung, welche Formen der Subjektivität?
Teixeira Pinto: Ich würde den derzeitigen Zustand „Faschismus ohne Faschist*innen“ nennen. Nehmen wir beispielsweise Deutschland. Die Sichtweise auf den Krieg in Gaza ist eingeschränkt auf das Narrativ eines Kampfes der Zivilisationen und der damit zusammenhängenden angeblichen „islamischen Bedrohung“. Alle Parteien sind sich einig in ihrem Rassismus und ihrem Hass auf Migrant*innen. Die schamlose Entmenschlichung von Araber*innen im Allgemeinen und von Palästinenser*innen im Besonderen arbeitet aber dem Entzug ihres rechtlichen Schutzes zu, der diese Entmenschlichung weiter befeuert. Das ist ein Beleg für illiberale Tendenzen. Die politische Mitte rühmt sich, eine „Brandmauer“ gegen die extreme Rechte errichtet zu haben, billigt selbst aber gleichzeitig Polizeigewalt, missachtet frisch und fröhlich Grundrechte, schaltet auf Gangstermethoden um und schwächt damit deutsches und internationales Recht. Bei aller Abneigung gegen Trump schiebt auch Deutschland Migrant*innen ab, die sich an Protesten beteiligen. Sogar Bürger*innen der EU wird mit Abschiebung gedroht. Wenn Staaten das Recht von Bürger*innen aushebeln, betreten wir faschistisches Territorium.
Nun könnte man argumentieren, dass die Einschränkung durch den Staat dazu diene, soziale Einschränkungen zu verhindern. Doch solche Maßnahmen ebnen auch den Weg für ethnische Nationalstaaten, in denen Einwander*innen keine Bürgerrechte mehr haben – besonders kein Versammlungsrecht und kein Recht auf freie politische Meinungsäußerung. Mit dem Ausdruck „importierter Antisemitismus“ punziert man Migrant*innen als „Gefahr von außen“. Das ist wie bei den Nazis, die Jüd*innen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sahen. Wird Deutschland auch jüdische Bürger*innen abschieben, wenn man sie auf Demos gegen Israel erwischt? Jedenfalls ist klar, dass die AfD erst gar nicht an die Macht kommen muss, damit ihre Politik umgesetzt wird.
Lütticken: Die Faschisierung hängt entscheidend von Schulterschlüssen ab – vom unausgesprochenen Schulterschluss in der weißen, gut ausgebildeten Mittelschicht. Das ist die affektive und über die Individuen hinausreichende Infrastruktur der Staatsräson. Sie eint die Demokrat*innen im Kern mit den faschisierten MAGA-Republikaner*innen. Deshalb kann Stephen Colbert Antonin Scalia einen humorvollen Gentleman nennen. Deswegen ducken sich die Akademiker*innen weg. Und am Ende findet man sich vielleicht auf einer netten Gartenparty mit Hans-Georg Maaßen, oder man meckert händeringend über ein Foto von der Party, ohne zu begreifen, dass der „antifaschistische Kampf“ nicht mehr die Rückkehr zum alten Normalzustand bedeuten kann. Der alte Normalzustand bestand eben darin, dass man bestimmte Gruppen ausschloss, und war daher eine bereits bestehende Matrix für die AfD und die CDU von Friedrich Merz. Und wenn wir als Akademiker*innen weiterhin Kolleg*innen als normal behandeln, von denen wir wissen, dass sie vulnerable POC-Studierende unter den Bus schubsen und deren Karriere mit einem einzigen Post in den sozialen Medien zerstört haben, dann unterschreiben wir ebenso diesen weißen Schulterschluss. Denn stillschweigend geben wir dann zu, dass solche Vorgänge eine Angelegenheit persönlicher Ethik sind, die dem nächsten Symposium oder Sammelband bloß nicht im Weg stehen soll.6
In Bong Joon Hos Science-Fiction-Satire Mickey 17 versucht ein Raumschiff, um die Menschheit zu retten, einen entfernten Planten zu kolonisieren. Die Menschheit besteht allerdings, wenn es nach ihrem politisch-unternehmerisch-religiösen Führer Kenneth Marshall und seiner Frau Ylfa (gespielt von Mark Ruffalo bzw. Toni Collette) geht, in erster Linie aus Weißen. Ruffalo lehnt sich in seiner Darstellung Marshalls ein wenig an Trump an, hat aber offenbar auch mehr als nur einen Fernsehprediger studiert. Das christlich-fundamentalistische Element samt seinem Kampf gegen Gender und seinen zionistischen Endzeitfantasien darf bei der derzeitigen Faschisierung keinesfalls unterschätzt werden. Strukturell jedoch steht Kenneth Marshall und sein Volk oder seine Armee von Kolonisator*innen auch für das politische, finanzielle und mediale Establishment im weiteren Sinn. Denn auch das setzt auf Restauration, auf die Rettung des Systems, kurz: auf die Sicherung seiner Privilegien. Was sind die Lügen des Green New Deal und ähnliche Vorschläge anderes als Versprechen, der Globale Norden könne im Prinzip so weitermachen wie während der Pax Americana der Nachkriegszeit? Bloß dass nun Technologie und Energie auf magische Weise sauber sind. In dieser Hinsicht zumindest sind die Faschist*innen ehrlicher mit ihrem „Drill, baby, drill!“
Teixeira Pinto: Ich glaube nicht, dass sie ehrlicher sind. Feindseligkeit und Vorurteile kommen immer im Gewand von Prinzipien daher, also sagt man „Wir müssen Frauen schützen“ oder „Wir müssen jüdisches Leben schützen“ oder „Wir müssen die arbeitende Bevölkerung schützen“ statt „Ich hasse trans Frauen“ oder „Ich hasse Araber*innen“ oder „Ich hasse Migrant*innen“ … Zugegeben, ein paar, allerdings nur sehr wenige, sprechen ihre Ansichten offen aus, aber die große Mehrheit spricht immer noch so verschlüsselt. Schau dir doch Trump an! Er sagt, dass Zölle notwendig seien, um Arbeitsplätze zurückzubringen, er sagt aber nicht: „Ich will, dass die USA das Russland der Neunzigerjahre werden.“ Dennoch ist klar, dass er versucht, die Wirtschaft zu ruinieren, nicht sie zu reindustrialisieren.
Lütticken: Deswegen hat man in den sensibleren Teilen der akademischen und kulturproduzierenden Klasse – und ich meine mit sensibel hier feinfühlig gegenüber den heutigen politischen Erdbeben und der sich beschleunigenden Katastrophe – das Gefühl, man müsse dringend „vom Globalen Süden lernen“. Die indigenen Kulturen haben das Ende der Welt ja schon hinter sich, und nun sind es wir, die sich das Ende der Welt vorstellen müssen, nicht das Ende des Kapitalismus. Daher sind wir gerade dabei, indigen, aber auch Schwarz zu werden (um Achille Mbembe zu zitieren), und zwar im Sinn eines weltweiten Zustands, der natürlich nicht überall gleich stark zu spüren ist.7 Einige dieser Ideen gehen leider in so etwas wie kosmologisch-epistemologischen Kitsch über, den ich für gefährlich attraktiv für schuldbewusste liberale Akademiker*innen halte. Ihnen geht es letztlich immer darum, sich selbst gut zu fühlen – aber das ist ja normal.
Teixeira Pinto: Dieses Suchen nach neo-ancestrality ist als Stil recht formelhaft, und ich mag auch die Flucht ins Spirituelle nicht. Genauso kitschig finde ich aber, wie das Globale zum Fetisch gemacht wird. Aus der Perspektive der westlichen Linken bedeutet jede Auseinandersetzung mit lokalen Kämpfen oder lokalem Dissens, dass man das Globale ausgrenzt. Die Linke neigt auch dazu, die Rettung episch zu dramatisieren und normale Überlebensstrategien zu belächeln. Das Gegenteil von Vernichtung ist jedoch nicht Rettung, sondern Ausdauer – in Form der unzähligen Methoden, wie Menschen irgendwie über die Runden kommen. Das ist Resilienz ohne Rettung.
Lütticken: Ja, ich denke, Ausdauer, Überleben und Durchkommen werden aus guten Gründen wieder mehr wertgeschätzt. Daher kommt zum großen Teil das neue Interesse an maronnage und quilombos, angefangen bei Harney und Motens Studien über Maroons an amerikanischen Unis bereits vor Trump. Er hat natürlich noch viel mehr Menschen in eine Lage gebracht, in der ihnen solche Analysen viel sagen.8 Darin liegt eine Art historische Ironie, historisches Karma vielleicht, weil auch die Komintern sich in den 1930er-Jahren wieder für die Rechte von Schwarzen einzusetzen begann und Schwarze Arbeitende dabei als Gruppe mit eigenem „Partikularinteresse“ auffasste, um auf diesen Ausdruck zurückzukommen.
Ein begrifflicher Widerspruch entsteht dadurch, dass der Mehrheitsdiskurs im deutschsprachigen Raum weitgehend von Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft ausgeht – und bis zu einem gewissen Grad auch Helmuth Plessners liberaler Kritik der gemeinschaftlichen Tendenzen in der deutschen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts verpflichtet ist. Daher gibt es die Neigung, die Gesellschaft als durch Gesetze verankert und damit automatisch inklusiv und vernünftig (ein wenig Habermas ist in der Regel auch mit dabei) gegen Gemeinschaften, also Gruppen auszuspielen, die als potenziell gewalttätig und intolerant gedeutet werden. Man kann dies zum Beispiel auch an den derben Kritiken an der documenta fifteen erkennen, in denen die Lumbung-Community in die Rolle einer antisemitischen Gemeinschaft gedrängt wurde. Nun ist diese Community allerdings in mancherlei Hinsicht gescheitert, weil es ihr nicht gelang, die Verwendung antiimperialistischer, antisemitischer Tropen in einigen Arbeiten von Taring Padi zu thematisieren, und sie sichtlich nicht begriff, wie diese in Deutschland interpretiert werden würden. Aber ja, Gemeinschaften dürfen offensichtlich nicht als Utopien verstanden werden. Die Frage ist, wie sich Gegengemeinschaften, um Daniel Loick zu zitieren, selbst kontrollieren, ausbalancieren und Meinungsverschiedenheiten verhandeln können.9 Wie dem auch sei, angesichts einer faschisierenden Staatsgewalt (in den Vereinigten Staaten, Deutschland und anderswo), die den nekropolitischen Unterbau der universellen Vernunft offenlegt, ist es kein Wunder, dass (Gegen-)Gemeinschaften den Menschen einen gewissen Schutz gewähren, um atmen und sprechen zu können. Und vielleicht könnten sich Gegengemeinschaften zu so etwas wie einer Gegengesellschaft verbinden – oder einer Parallelgesellschaft, um diesen geschichtsträchtigen deutschen Begriff zu verwenden.
Teixeira Pinto: Vielleicht fasst man die heutige Lage besser als Gegensatz zwischen Nation (einem kulturell, geschichtlich und sprachlich einheitlichen politischen Körper) und Staat (einer politisch organisierten Gemeinschaft unter einer Regierung) auf. Unter diesem Blickwinkel bin ich antinationalistische Etatistin.
Ich werde jetzt etwas Sentimentales sagen: Vor einiger Zeit gestand mir eine Künstlerin zum Thema Solidarität oder vielmehr mangelnder Solidarität: „Die arabische Gemeinschaft fordert Solidarität auf ihre eigene Art und befasst sich nicht mit dem Anti-Schwarzen Rassismus in der arabischen Welt.“ Diese Meinung erschütterte mich, kam sie mir doch wie eine kaum verfeinerte Variante des Wahlspruchs „Hühner für Kentucky Fried Chicken“ vor. Sie geht von einer Transaktionsmatrix aus, der zufolge man niemandem helfen solle, der die eigenen Werte nicht teile, denn schließlich bekomme man nichts zurück. Ich dagegen bin der Ansicht, dass Solidarität immer Gemeinschaft schafft und nicht andersherum. Ich habe der Künstlerin damals nichts geantwortet, aber dafür tue ich es hier: jedem nach seinen Bedürfnissen.
Übersetzt von Thomas Raab
[1] Gabriel Winant, Exit Right, in: Dissent, 8. November 2024; https://www.dissentmagazine.org/online_articles/exit-right/.
[2] Sam Adler-Bell, Liberal Jews say antisemitism is being misused. The truth is more complicated, in: New York, 5. April 2025; https://nymag.com/intelligencer/article/liberal-jewish-antisemitism-trump-protection.html.
[3] Incel: unfreiwillig sexuell enthaltsame Person; TERF: trans Personen ausschließende(r) Radikalfeminist(in).
[4] Antisemitismus-Vorwurf: FPÖ nimmt Uni ins Visier, in: Kronen Zeitung, 26. April 2025.
[5] Vgl. Enzo Traverso, The New Faces of Fascism: Populism and the Far Right. London/New York: Verso 2019, sowie Alberto Toscano, Late Fascism: Race, Capitalism and the Politics of Crisis. London/New York: Verso 2023.
[6] Hier wird indirekt verwiesen auf Charles W. Mills, The Racial Contract. Ithaca: Cornell University Press 1997, und auf Gloria Wekker, White Innocence: Paradoxes of Colonialism and Race. Durham: Duke University Press 2016.
[7] Achille Mbembe, Introduction: The Becoming Black of the World, in: Critique of Black Reason. Durham: Duke University Press 2017, S. 1–9, sowie Afrofuturism and the Becoming-Black of the World, in: Eric de Bruyn/Sven Lütticken (Hg.), Futurity Report. Berlin: Sternberg Press 2020, S. 203–214.
[8] Stefano Harney/Fred Moten, The Undercommons: Fugitive Planning & Black Study. Wivenhoe: Minor Compositions 2013.
[9] Daniel Loick, Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften. Berlin: Suhrkamp 2024.