Heft 4/2025


Bruchzonen

Editorial


Die Rede von einer Krise kritischer ästhetischer Produktion begleitet heute oft einen vielerorts vernehmbaren kulturpessimistischen Diskurs zur Befindlichkeit der Gegenwart. Kritik, so heißt es dort mitunter, werde aufgesogen und von hegemoniestrebenden Kräften der Rechten in ihr Gegenteil gewendet. Wo aber denn genau die Risse, an denen sich ästhetische Praktiken und politische Konflikte verschränken, verlaufen, bleibt oft vage. Dieses Heft setzt dort an: bei Bruchzonen, in denen Kunst nicht einfach auf Ereignisse reagiert, sondern selbst Teil konflikthafter Szenarien und Geografien wird – an Rändern von Staaten, an institutionellen Schwellen, in Szenen, die jederzeit kippen können. Die hier versammelten Beiträge führen von Georgien über Serbien und die Ukraine bis nach Myanmar und skizzieren nebenher auch eine verschobene Kartografie dessen, was meist unter dem Begriff „Globaler Süden“ verhandelt wird. In Tiflis etwa: Dort entfalten sich performative Eingriffe und institutionelle Interventionen vor dem Hintergrund manipuliert erscheinender Wahlen, postsowjetischer Brüche und einer sich verfestigenden Besatzungspolitik. Kunst taucht als verzögerte, manchmal zögerliche Form der Revolte auf: in körperlich exponierten Gesten, in der Recodierung staatlicher Fassaden, in Wohnungsausstellungen, die zugleich Schutzraum und politisches Labor sind. Die Frage, ob kreatives Denken selbst schon eine Form von Aufstand ist, durchzieht diese Szenen ebenso wie die georgische Theorieproduktion, die lange als „peripher“ markiert wurde und nun insistiert, aus der Mitte der Konflikte zu sprechen.
In Belgrad werden diese Spannungen anders artikuliert. Wenn Studierende, selbst Initiator*innen der gegenwärtigen Protestwelle, ein historisches Gedicht im Chor aufführen und sich dabei buchstäblich die Fäuste in den Mund schieben, dann
markiert das eine Grenze, an der Sprache nur noch als verschluckter Klang, als Atem und Kehren ins Schweigen existiert. Der Protestkörper verweigert sich zugleich den heroischen Bildern des klassischen Aktivismus und der Pose der Opferästhetik. Er steht, blockiert, hält aus. Dennoch gerät er schließlich selbst in die Falle des Nationalismus. Parallel dazu werden Kinos und Kulturzentren besetzt, in denen alternative Betriebsweisen ausprobiert werden, bevor die Polizei die Häuser räumt. Die performative Gemeinschaft der Proteste zeichnet eine andere, widersprüchliche Topografie des Öffentlichen. Die kritische und avancierte ukrainische Kunstszene ist längst selbst von Bruchlinien durchzogen und getrennt. Zwischen Front, Zwangsrekrutierung, innerer Emigration und Exil zerfällt das, was zuvor als vernetztes alternatives Feld erschien, in ungleiche Öffentlichkeiten. Wer im Land geblieben ist, teilt seine Erfahrungen mit jenen, die nur kurz ausreisen durften, oder mit der Diaspora; andere verlieren ihr Leben, weil sie der Anspruch auf eine eigene Stimme bis an die F ront treibt. Kunst wird zu etwas radikal Fragilem: zu Bildern unter Stromabschaltungen, zu Gesten am Rand der Kriegsökonomie, zu Arbeiten, die eine Szene beschreiben, die sich im Moment des Sprechens bereits wieder verschiebt.
Ganz anders, und doch verwandt, stellt sich die Lage in Myanmar dar, wo die „Spring Revolution“ in einem weitgehend vergessenen Krieg aufgeht. Zeichnungen, heimlich in Gefängnissen angefertigt, die Plakate der Gen-Z-Proteste, Performances im Exil oder kuratorische Projekte, die die Komplizenschaft autoritärer Regime kartieren, bilden hier ein Geflecht aus „anonymem Blau“, aus Botschaften an den Himmel und provisorischen Transitorten. Kunst erscheint als Informationsnetz, als Beweisstück, als Raum für kollektive Trauer, aber auch als Labor einer eigensinnig formulierten Moderne, die weder vor den Logiken von Macht und Repression aufgibt, noch in geopolitischen Stellvertreterbildern aufgeht.
Die hier skizzierten Bruchzonen verlaufen nicht nur entlang der bekannten geopolitischen Konfliktkarten. Sie durchschneiden auch die Felder „zu Hause“, in denen über Kunst gesprochen und geschrieben wird. Eines der Kurzgespräche über den Zustand der Kunstkritik, welche wir anlässlich von drei Jahrzehnten springerin initiierten, erinnert daran, dass längst auch hier kritische Öffentlichkeit nur unter Bedingungen sich immer verstärkender Prekarität entsteht: mit ausgedünnten Redaktionen, sporadischen Aufträgen, biografisch situierten Stimmen, die gegen die alte universalistische Geste von Kritik anschreiben und für sich diese nicht mehr beanspruchen können und wollen. Kritik verschiebt sich vom Urteil hin zu Formen der Kontextualisierung, der situativen Einmischung, der Offenlegung der eigenen Parteilichkeit.
Dass eine Zeitschrift wie diese überhaupt noch existiert, ist selbst Ergebnis einer fragilen Infrastruktur – und damit Teil jener Szene, von der hier die Rede ist. In dieser Perspektive erscheint auch die fast nostalgisch
wirkende Spurensuche nach der zerstörten Kinokultur aus dem Sudan – sich im Schatten eines zerfallenden Staates mit der Möglichkeit eines anderen Kinos auseinanderzusetzen, als weitere Linie desselben Geflechts: Bilder, die inmitten von Bürgerkrieg und militärischer Repression Öffentlichkeit und überhaupt einen verlorenen Raum wieder herstellen müssen, bevor sie dessen Verlust befragen können. Vielleicht setzt gerade wegen solcher Verwerfungen der letzte Beitrag des Thementeils dieses Heftes gleichsam einen bejahenden Schlusspunkt und wird fast zu einem Fanal auf eine Utopie des neuen Anfangs.
Die redaktionelle Konzeption dieser springerin will keineswegs als Überblick über globale Krisenszenarien missverstanden werden. Vielmehr ist sie als Montage von Beispielen gedacht, die zeigen, welche Konflikte und Aporien künstlerische Praxis unter Ausnahmebedingungen durchziehen – als Revolte, als Sorgearbeit, als Bewahrung von Erfahrung, als Beharren auf einer gemeinsamen Sprache, die immer wieder zu entgleiten droht: Bruchzonen nicht als Orte spektakulärer Katastrophen, sondern als Situationen, in denen sich die Verhältnisse nicht mehr reibungslos erzählen lassen, wo Protestlied und Patriotenhymne ununterscheidbar werden, wo Gefängniszeichnungen zu Archiven künftiger Verfahren werden, wo kritische Texte im Modus des Gesprächs statt der Verkündung auftreten. Dass diese Szenen nicht in einer einfachen Erzählung aufgehen, ist ihr gemeinsamer politischer Kern.