Heft 4/2025 - Lektüre



Josephine Berry:

Planetary Realism. Art Against Apocalypse

London (Sternberg Press) 2025 , S. 74 , EUR 22

Text: Martin Conrads


Die Shell Guides waren eine von 1934 bis 1984 veröffentlichte Reihe von Reiseführern durch die Grafschaften Großbritanniens. Gesponsert vom gleichnamigen Mineralölunternehmen, dienten sie dem Ankurbeln des „Mototourismus“ im Land. Hierfür wurden oft Künstler*innen beauftragt, die Reiseführer mit eigenen Arbeiten zu illustrieren. Der Dorset-Guide des englischen Surrealisten Paul Nash aus der Mitte der 1930er-Jahre stellt aufgrund der Visualisierung dessen, was der Künstler später als „unseen landscapes“ bezeichnete, eine Besonderheit in der Buchreihe dar. Die Straße als solche ist in dem von Nash selbst verfassten Guide fast abwesend, sie ist nur das Mittel, mit dem er von der durch die Fahrt ermöglichten Entdeckung „seltsamer Artefakte aus der Tiefenzeit“ in Dorset erzählt, wodurch sich sein Guide als eine „surrealistische Psychogeographie“ ausnimmt. Darauf verweist die Londoner Kunsttheoretikerin Josephine Berry in ihrem Buch Planetary Realism. Art Against Apocalypse. Nashs geologisches Bewusstsein – das sich etwa in der auf der Rückseite des Guides zu sehenden Fotomontage mit dem fossilen Abdruck eines Fisches zeigt – habe Allianzen mit Vergessenem und Vergangenem gebildet, mit dem materiellen Unbewussten der Erde. Dieses „geologische Reale“, so Berry, sei ein vorweggenommener „planetarischer Realismus“, es zeichne sich aber auch durch einen eskapistischen Zug aus, nämlich als Möglichkeit, das öldurchwirkte Vernichtungswerk der modernen Gesellschaft auszublenden, an dem Nashs Guide seinen Anteil hat. Diese Sublimierung des Industriellen durch die Psychogeologie verdecke so den Prozess, der sie erst ermöglicht – den „Petrokapitalismus“.
Es ist kein Zufall, dass die von Nash verwendete Abbildung des Fossils auch das Coverbild von Berrys Buch ist. In dessen Mitte platziert, steht Berrys Beschreibung von Nashs Dorset-Führer stellvertretend für künstlerische Arbeiten in der von ihr so benannten „Petroleum Culture“. Eine Kultur, die einen „unheimlichen Realismus“ hervorbringe, bei dem einst inkohlte und aktuell als Treibstoff verbrannte Lebensformen als verdrängte Geister wiederkehren. Berry führt hierzu, angelehnt an Amitav Ghoshs Begriff der „Petrofiction“, einen Neologismus ein: die „Petrofaction“. Dabei würden Fakten und Fantasie im bzw. durch das Petroleum verschmelzen und so verwandelte Landschaften zurücklassen – innere und äußere. In der „Petrofaction“ verbänden sich die Lebensträume des modernen Menschen mit dem Tod des Planeten.
Nicht Endpunkt ist die „Petrofaction“ für Berry allerdings, sondern eine Möglichkeit, „historischen Materialismus“ im Kapitalozän so zu denken, dass Imagination „dekarbonisiert“ werden könne, eine neue Beziehung zwischen dem Körper und der Erde hergestellt werde und künstlerische Produktion sich als „Kunst gegen Apokalypse“ realisieren lasse. Der ökomarxistische (bei Berry vor allem von Kohei Saito übernommene) Begriff des „Metabolic Rift“, des „Stoffwechselrisses“, also die Feststellung einer kapitalismusimmanenten, durch Extraktivismus erzeugten und ökologische Krisen hervorbringenden Trennung des Produktionsorts vom Ort der Konsumtion, dient der Autorin zu einer Extrapolation: Der „Aesthetic Rift“, ein Riss zwischen der sinnlichen Erfahrung eines Kunstwerks und dessen kommerziellem Wert, wie er sich seit der Globalisierung des Kunstmarkts nach 1989 verstärkt zeige, sei etwa vergleichbar mit der Bodenverarmung in der industrialisierten Landwirtschaft. Mit anderen Worten: Die Kunst befindet sich in einer ästhetischen Krise, die von der ökologischen nicht zu trennen ist.
Berry schlägt in diesem Sinn vor, Produktions- und Konsumtionsort von Kunst zusammenzuführen und so das Prinzip des ökonomischen Degrowth auf die Kunst anzuwenden. Hierzu führt sie etwa „neorurale“ Künstler*innenkommunen in Frankreich (Les Goutailloux, Zone à Défendre) ins Treffen, beschreibt Rebecca Belmores „überzeitliches Hören“ anstrebende Skulpturenserie Wave Sound oder macht sich für Paulo Nazareths (länderübergreifendes) Gehen als künstlerische Praxis stark. In diesen und anderen Beispielen – in der Streuung etwas zu nuancenreich, in der Sprache voller kritischem Elan – sieht sie die beiden (etwas zu kurz ausgeführten) Kategorien am Werk, die zentral für die Beziehung von Kunst zur planetarischen Krise sind: Gefühl und Berührung.
Der von Berry benannte „planetarische Realismus“ ist in diesem Sinn als die Kunst zu verstehen, „das, was uns umgibt, wahrzunehmen und darauf zu reagieren“. Aus dem Widerspruch heraus, dass es nach den gängigen Realismusbegriffen keine als unabhängige Instanz zu verzeichnende Realität gibt, wir aber andererseits davon ausgehen, dass uns „objektive“ wissenschaftliche Daten über den Zustand des Planeten unterrichten, richtet Berry ihren Realismusbegriff an einer diesen Widerspruch überschreibenden, selbstregulierenden Biosphärentotalität (≙ Gaia) aus. Dezidiert wendet sich Berry hierbei allerdings gegen Bruno Latours Rollenzuweisung zeitgenössischer Kunst. Zu sehr auf Datenvisualisierung fixiert scheint ihr sein Denken, zu limitiert sein Verständnis, das die realitätstransformierenden „Superpowers“ (Berry) ästhetischer Imagination unterschätze. Das „Reale“ im planetarischen Realismus bezieht sich so auf die Hoffnung auf ein wachsendes Verständnis von Empfindung und Schöpfung, Ästhetik und Poesie. Es sind Begriffe wie Zärtlichkeit, Kollektivität oder Schönheit, die Berry (neu) denken möchte. Allerdings dürfte es ein zu langer Weg sein, den metabolischen Riss zu kitten, indem man mit dem Kitten des ästhetischen Risses beginnt. Kunst ist hierfür weniger als ein Garant, auch wenn Berrys Buch dies hoffen lassen möchte.