Heft 4/2025 - Netzteil


Sonic Antifascism oder Avant-Pop?

Bewältigungsstrategien für die krisenhafte Gegenwart (oder: Ein Cargoschiff namens Hoffnung)

Vera Tollmann


Woran erkenne ich „sonic antifascism“? Welches Wissen ist dafür erforderlich – und was unterscheidet den betreffenden Sound dann beispielsweise von einer antifaschistischen Playlist? Fragen in Bezug auf einen Begriff, mit dem sich der Soundkünstler Anton Kats einiges vorgenommen hat: Unter anderem möchte er ihm ein epistemisches Fundament geben und betont im Gespräch, dass seine Lektüren dazu wesentlich aus der feministischen Theorie stammen, unter anderem von der Philosophin Ewa Malewska und der Schriftstellerin Ursula K. Le Guin. Als Stipendiat des Berliner Programms für künstlerische Forschung hat er eine Lesegruppe zum Thema initiiert, um in der Gruppe, seiner „community of practice“, Vorstellungen davon zu diskutieren, was „sonic antifascism“ ausmachen könnte. Ende Oktober 2025 stand der Begriff im Mittelpunkt von Kats’ viertägiger Ausstellung bei SAVVY Contemporary.
In der Ausstellung mit dem Titel Sudnozavod wurden das gleichnamige Video sowie Kats’ neues Album vorgestellt, flankiert von der Videoarbeit Eye Test. Letztere ist eine Animation eines typischen Sehtest-Layouts, das Kats mit seiner Musterungserfahrung als 18-jähriger in Cherson verbindet. Zwischendurch sortieren sich die zufälligen Buchstabenfolgen für Sekunden zu Sätzen wie „There is hardly a storm that a ship can’t survive“, „War comes in waves, subtly“ oder „Politics of fascism blossom into a fascist regime“. Fetzen von vermeintlichen Binsenweisheiten, deren Botschaften zwischen Gewissheit, Stress und Blindheit flirren – für Kats ein Versuch zu zeigen, dass Elemente, die nicht als faschistisch wahrgenommen werden, in Summe doch zu einem neuen Faschismus beitragen können. Zugleich ist Kats mit der zentralen Videoarbeit die zeitgenössische politisch-ästhetische Version eines „Musik-Bildes“1 gelungen, das hier zugleich dokumentarisch-performativ wie virtuell-illusionistisch, so unabhängig wie überlappend Video bzw. Sound affiziert und dennoch in beiden Medien eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt.
Der Titel Sudnozavod bedeutet wörtlich „Schiffsfabrik“ (sudno-zavod). Damit bezieht sich der Künstler auf einen konkreten Ort in seiner Heimatstadt Cherson, die nicht weit von der ukrainisch-russischen Grenze an der Mündung des Dnepr-Flusses gelegen ist: die Werft, in der 1974 im Rahmen der indo-sowjetischen Handelspartnerschaft ein Frachtschiff auf den Namen „Universal Hope“ getauft wurde. Was das Schiff betrifft, ist inzwischen alle Hoffnung verloren: In internationalen Schiffsregistern gilt es als abgemeldet, sein Verbleib ist unbekannt, erzählt Kats. Das Video beruht auf der Performance After Hope, die im Mai 2025 im freien Theater Sophiensæle in Berlin aufgeführt wurde, einem Gebäude, in dem einst Rosa Luxemburg aufgetreten war. Dafür hat Kats den Bühnenraum mit schiffsähnlichen Instrumenten (die zu seiner Soundinstallation Cemetary of Memories Alive gehören) und einem Steuerstand zum Schiffsdeck erklärt – „a shipless ship“. In seiner Rolle als antiheldenhafter Steuermann trägt er in dem Video ein maßgeschneidertes Werftarbeiter-/Seefahrerkostüm.2 Der an Wänden und Decke sichtlich abblätternde Putz leistet ebenfalls einen Beitrag zur ästhetisch-affektiven Atmosphäre, in dem sich Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges überlagern. Die Schifffahrt, die Stadt, der Fluss und die Stauseen – allesamt Kriegsziele im andauernden russischen Angriffskrieg. In seinem Buch über „elementare Medien“ fragt der Autor John Durham Peters im Anschluss an Henry David Thoreau: „What is our readiness for the catastrophe when our materials break down? When the ship crashes, what will we do then?“3 Peters sieht das Schiff auch als Metapher für „the ways in which we stake our survival on artificial habitats amid hostile elements“4. Das Schiff als existenzielle Überlebenshilfe – „in an emergency, ship, passengers, and cargo are all one“5.
Kats gelingt es mit der Schiffsmetapher – ein Schiff auf See sollte navigiert werden, um anzukommen – wie auch mit den teils von Erinnerungen inspirierten Tracks auf der Platte, eine leise Hoffnung zu signalisieren. Zum Teil für die Performance entstandene Voice Pieces, darunter First Grain („practicing hope“), Second Grain („harmony“) und Third Grain („war comes in waves“), wurden von der Schauspielerin Susanne Sachsse eingesprochen. Mit dem „Korn“ (grain) verweist Kats auf das Sandkorn (im Flussbett bei Cherson), aber auch auf Getreide (eines der wichtigsten Exportgüter der Ukraine)6 und nicht zuletzt auch auf das sprichwörtliche „Körnchen Hoffnung“. Es geht um eine geografische wie autobiografische Orientierungssuche in Raum und Zeit, zwischen Wiederholung und Hoffnung als Voraussetzung für gemeinschaftliches Handeln, aber auch als Pharmakon.7
Der tröstliche Song Don’t Be Afraid, gemeinsam mit George Lewis Jr. aka Twin Shadow aufgenommen, lässt sich, folgt man dem Poptheoretiker Thomas Hecken, dem „Avant-Pop“ zuordnen – einer Form, die „mit einigem theoretischen und interpretatorischen Aufwand“8 verknüpft ist. Vor dem Hintergrund der realen gewaltsamen und technologiegetriebenen Kriegsführung mit Drohnen und Bomben scheint es interessant, dass sich Kats als Klangkünstler weder medientheoretisch noch praktisch erwartbaren Ansätzen zuwendet, wie sie etwa in Steve Goodmans Buch Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear ausgearbeitet sind, darunter die Konzepte „politics of frequency“ und „unsound“. Stattdessen vermittelt eine Aufnahme, die im März 2024 in Kyjiw entstanden ist, durch urbane Geräusche – U-Bahn-Durchsagen, Vogelzwitschern, Radioprogramm, Haustür – die Fortsetzung des täglichen Lebens. Kurz ist in der Ferne ein Luftschutzalarm zu hören. Kats merkt im Gespräch an, er habe lange mit sich gerungen, ob er den Track überhaupt verwenden solle. Doch die Menschen sind weiterhin tätig und pflegen einen „grausamen Optimismus“ (Lauren Berlant) – eine Einstellung, die Kats selbst als „hopeless hope“ bezeichnet.
Die überraschend smoothen Jazzstücke auf dem Album beziehen sich auf Kindheitserinnerungen des Künstlers in Bezug auf Bootlegs (unter anderem Portrait in Jazz von Bill Evans), auf aussortierte Röntgenbilder kopierte Schallplattenaufnahmen, die in der Sowjetunion als „Knochen“ bezeichnet wurden und die sein Vater damals zu Hause auflegte.9 Klangmäßig ging bei dem Medium natürlich einiges verloren, „they were full of mistakes, it sounded like sand“, wie es in dem Dokumentarfilm The Vinyl Factory (2016), der diese Subkultur porträtiert, heißt. Mit Ewa Majewska ließe sich hier von „weak resistance“ sprechen – einer antiheldenhaften subversiven Tat, einer kleinen Geste, „aimed at survival“10. Als Kats während der Listening Session bei SAVVY Contemporary zum Schluss den Track von George Lewis auflegt, wendet er sich an das Publikum und sagt, dies sei „a reminder not to be afraid too much“. Vielleicht ist dieses Cargoschiff namens Hoffnung ein virtueller Ort und eine Frequenz, eine Haltung, die trotz aller Widerstände überlebt (und am Leben hält).

Anton Kats – Sudnozavod, SAVVY Contemporary, Berlin, 30. Oktober bis 2. November 2025.

 

 

[1] Vgl. Christian Höller, Das Musik-Bild. Wie pop- und gegenkulturelle Sounds zu einer visuell bestimmenden Größe wurden, in: Cosima Rainer et al. (Hg.), See This Sound. Versprechungen von Bild und Ton. Köln 2010, S. 194–199.
[2] John Durham Peters hält fest, dass Schiffskapitäne (neben Piloten, Astronauten und Tiefseetauchern) lange Zeit zu den prototypischen männlichen Helden gehörten (vgl. John Durham Peters, The Marvelous Clouds. Toward a Philosophy of Elemental Media. Chicago 2015, S. 73).
[3] Ebd., S. 45.
[4] Ebd., S. 101.
[5] Ebd., S. 104.
[6] Seit Kriegsbeginn ist der Export gefährlicher geworden. Von Odessa aus müssen Frachtschiffe eine längere Route entlang der Küsten von Rumänien und Bulgarien nehmen, um russische U-Boote zu vermeiden und den Bosporus zu erreichen; vgl. https://www.bbc.com/news/world-61759692.
[7] Vgl. Eben Kirksey, Hope, in: Environmental Humanities, 5 (1), 2024, S. 295–300; https://read.dukeupress.edu/environmental-humanities/article/5/1/295/8203/Hope.
[8] Thomas Hecken, Pop-Konzepte der Gegenwart, in: POP. Kultur und Kritik, Jg. 1 (2012), Nr. 1, S. 88–106.
[9] Vgl. www.x-rayaudio.com, https://www.youtube.com/watch?v=XMCCYnDvpJQ; https://www.theguardian.com/music/2015/jan/29/bone-music-soviet-bootleg-records-pressed-on-xrays.
[10] Vgl. Ewa Majewska, Weak Resistance in Semi-Peripheries: The Emergence of Non-Heroic Counterpublics, in: Esther Peeren et al. (Hg.), Global Cultures of Contestation. Mobility, Sustainability, Aesthetics & Connectivity. Palgrave Macmillan 2018, S. 49–68.