Heft 4/2025 - Bruchzonen


Sterben im Krieg, leben in der Diaspora

Die doppelte Realität der ukrainischen Gegenwartskunst

Herwig G. Höller


„Aus Sicherheitsgründen, die jenseits der Kompetenz des Museums liegen, sehen wir uns gezwungen, die Eröffnung der Ausstellung Mit Bändchen und Flaggen von Danyl [sic!] Chychkan bis zur Klärung aller Details abzusagen“, schrieb das Staatliche Kunstmuseum in Odessa am 19. Januar 2024. Die führende Kunstinstitution der Südükraine hatte die Ausstellung von Davyd Chychkan erst tags zuvor angekündigt, was rechte Aktivisten in sozialen Medien zu einem Sturm der Entrüstung veranlasste. Unter anderem beschimpften sie den Künstler als „Separatisten“. Auch von einem Anruf des traditionell mit rechtsradikalen Gruppen gut vernetzten ukrainischen Geheimdiensts SBU war die Rede. Versuche von Chychkan, etwaige Vorwürfe gegen seine Person auszuräumen, scheiterten – Vertreter des SBU verweigerten das Gespräch.
Das Museum selbst war eingeknickt und die Ausstellung sollte nie eröffnet werden. Dabei hatte der prominente Künstler in einer Reihe neuer Arbeiten in seiner typischen Ästhetik ausgerechnet Ukrainer*innen porträtiert, die in den Streitkräften gedient und ihr Leben im laufenden Krieg gegen Russland verloren hatten. „Vertreter rechter autoritärer Überzeugungen versuchen, meiner Tätigkeit zu schaden, indem sie mein Werk bewusst falsch interpretieren“, so der sich selbst als „Anarchosyndikalist“ positionierende Künstler zum Fernsehsender Suspilne. Mit seinem Projekt hatte er insbesondere illustrieren wollen, dass Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Überzeugungen die Ukraine verteidigten – darunter auch offen agierende Bekenner antiautoritärer Ideen wie er selbst.
Der Künstler war über die Absage und implizite Herabwürdigung gefallener Ukrainer*innen empört. Diese Vorgänge in Odessa haben auch eine Rolle dabei gespielt, dass sich Chychkan wenige Monate später freiwillig zum Wehrdienst meldete, erzählen Kolleg*innen und Freund*innen: „In einer Gesellschaft, die sich unter den Bedingungen eines Krieges stark nach rechts bewegt, so hatte er für sich verstanden, besteht die einzige Möglichkeit, das Recht auf Artikulierung seiner Überzeugungen zu erhalten darin, selbst in den Krieg zu ziehen“, so Künstler und Weggefährte Nikita Kadan.
Am 10. August 2025 sollte Chychkan in der Region Saporischschja fallen: Eine russische FPV-Drohne, die über ein kilometerlanges Glasfaserkabel gesteuert wurde und deshalb mit Störsignalen nicht bekämpft werden konnte, war neben seinem Minenwerfer explodiert und hatte ihm sowie einer weiteren Soldatin tödliche Verletzungen zugefügt. Der rasante technische Fortschritt hatte seinen Einsatz unweit der Front in kurzer Zeit sehr viel gefährlicher gemacht. „Davyd war nicht apokalyptisch gestimmt und dachte nicht daran, im Krieg zu sterben. […] Er glaubte daran, dass man das überleben kann, aber bis zum Sieg gehen muss. Außer direkter Aktion sah er keinen anderen Weg, wie man das aufhalten kann“, erzählte Witwe Hanna im September 2025 in einem ukrainischen Podcast.1
Der tragische Tod eines der wichtigsten Vertreter von politisch-engagierter Kunst in der Ukraine im Alter von nur 39 Jahren ist jedoch nur eine von vielen Episoden des größten europäischen Krieges seit 1945, mit dem Russland nicht nur Tod, Leid und Zerstörung über den osteuropäischen Staat gebracht hat. Der in der aktuellen Form seit mehr als drei Jahren laufende Aggressionskrieg wird auch langfristige Auswirkungen für das Land haben. Eine gesellschaftliche Polarisierung ist schon jetzt zu beobachten.
Auch die ukrainische Kunstszene war von Anfang an betroffen: Nachdem sie einen Monat lang während der russischen Besatzung von Butscha gehungert hatte, starb Ende April 2022 mit der Künstlerin und Modedesignerin Lyubov Panchenko (1938–2022) etwa eine wichtige Vertreterin der ukrainischen 1960er-Generation. Andere Künstler*innen, darunter die im Kyjiwer Vorort Musytschi lebende Alevtina Kakhidze, entgingen nur knapp der Okkupation, die für sie durchaus auch tödlich hätte enden können. Zahlreiche Vertreter*innen der Kunstszene flüchteten in den Anfangswochen des Krieges aus bedrohten Gebieten der Ostukraine sowie zunächst auch aus der Hauptstadt Kyjiw in westlichere Regionen der Ukraine. Künstler*innen zogen im Anschluss oftmals weiter in Staaten der Europäischen Union wie Österreich, wo etwa kurze Zeit später in Graz, Innsbruck und Wien mit Office Ukraine Programme zur Unterstützung von aus der Ukraine geflohenen Künstler*innen installiert werden sollten.
Vor allem eine Entscheidung des ersten Kriegstags sollte auch eine nachhaltige Relevanz für die ukrainische Kunstszene haben, die in den letzten 20 Jahren stark international ausgerichtet war: Als unmittelbare Reaktion auf die beginnende Invasion rief Präsident Volodymyr Zelenskyi mit Erlass Nr. 64 vom 24. Februar 2022 das Kriegsrecht aus und sorgte damit für eine laut ukrainischer Verfassung mögliche Beschränkung von Grundrechten, die insbesondere Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren betraf. Anders als ihre weiblichen Kolleginnen durften ab diesem Tag auch ukrainische Künstler im wehrfähigen Alter ihr Heimatland nur noch ausnahmsweise verlassen. Zu einer leichten, für die Kunstszene jedoch irrelevanten Entschärfung kam es erst im Sommer 2025, als jungen Männern unter 22 die Ausreise erlaubt wurde und Zehntausende aus dieser Altersgruppe diese Möglichkeit innerhalb weniger Wochen auch tatsächlich nutzten.
Konnten Künstler zwar in den Monaten nach Invasionsbeginn mit Unterstützung des Kulturministeriums die Erlaubnis bekommen, etwa zu Ausstellungen und Präsentationen kurzfristig ins Ausland zu reisen, wurde dies später sukzessive schwieriger. Nachdem ein zur Armee einberufener Kabarettist seine Rückkehr verweigert und sich öffentlich einschlägig positioniert hatte, kündigte das Kulturministerium im März 2023 eine strengere Handhabe bei Ausreisebewilligungen an: „Die Situation für jene, die die Ukraine wirklich an der kulturellen Front verteidigen, wird (dadurch, Anm.) schwieriger.“2. Nachdem auch 2024 500 Männer, denen mithilfe des Ministeriums eine temporäre Ausreise erlaubt worden war, nicht mehr zurückgekehrt waren3, wurden die Bedingungen im März 2025 erneut verschärft4. In den allermeisten Fällen haben freischaffende Künstler unter 60, die nicht etwa aus medizinischen Gründen für untauglich erklärt wurden, nunmehr nur noch geringe Chancen auf eine Erlaubnis für einen kurzfristigen Auslandsaufenthalt.
„Es ist nicht mehr klar, ob es überhaupt noch eine ukrainische Kunstszene gibt oder mittlerweile bereits verschiedene – in Berlin sowie in Kyjiw und in geringeren Ausmaßen in Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Dnipro und Charkiw“, sagt ein im Ausland lebender Künstler. In der Ukraine verbliebene Kollegen würden ihm bisweilen vorwerfen, dass er illegal ausgereist sei, erzählt er. Dies sei aber nicht der Fall gewesen: Er habe keinen Fluss durchschwommen, sondern habe mit einer formalen Erlaubnis die Grenze passiert und sei bloß nicht mehr in die Ukraine zurückgekehrt.
Ebenso nicht mehr in ihre Heimat zurückgekommen dürften die allermeisten ukrainischen Künstler sein, die sich am 24. Februar 2022 im Ausland befunden hatten. Er kenne in seinem künstlerischen Bekannten- und Freundeskreis kein einziges Beispiel für eine derartige Rückkehr in die Ukraine, sagt der in Belgien lebende Nikolay Karabinovych.

„Ich bin nun Volkseigentum“

Unmittelbare Auswirkungen auf die Produktion von Kunst haben auch die Bedingungen innerhalb der Ukraine selbst. Neben Künstlern wie Chychkan, die sich freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet haben, wurden andere zwangsläufig in die Armee eingezogen. Gleichzeitig versucht eine wachsende Anzahl von Ukrainern einem potenziell lebensbedrohenden Militäreinsatz durch Untertauchen zu entgehen. Letzteres war bereits im Sommer 2024 ein zentraler Aspekt von Yevgenia Belorusets’ Fotoarbeit Grey Series 2: Die für ihre Fotoarbeiten über gesellschaftliche Randgruppen bekannte Künstlerin und Literatin aus Kyjiw porträtierte Männer, die praktisch zu Einsiedlern wurden, um der Mobilisierung zu entgehen.
Emigration und Mobilisierung führten gleichzeitig dazu, dass komplexe künstlerische Produktionen im Land schwieriger geworden sind: Eigentlich habe sie sich Sorgen gemacht, dass Blackouts die rechtzeitige Fertigstellung ihres neuesten Animationsfilms behindern würden, erzählte Dana Kavelina im September 2025 in Graz.5 Doch dann sei etwas ganz anderes passiert: Zu ihrem Kernteam von sechs Personen habe auch ein Freund gehört, der für technische Umsetzungen zuständig gewesen sei. „Eine Nacht ist er im Studio geblieben und als er nach draußen austreten gehen wollte, wurde er von einem Mobilisierungskommando geschnappt“, so die Künstlerin weiter.
Kavelinas im steirischen herbst 2025 und bei der Kyjiwer Biennale in Warschau und in Linz präsentierter Film Grey Earth (work in progress) thematisiert die Situation ukrainischer Männer explizit: Die Puppe eines verloren wirkenden Infanteristen monologisiert auf verbrannter Erde über Aussichtslosigkeit, Sterben und Überleben an der Front: „Ich bin nun Volkseigentum“, erklärt er und klagt darüber, dass einfache Ukrainer gegen ihren Willen auf der Straße zwangsrekrutiert werden, während „Oligarchen“ sich in Diskotheken vergnügen können und von derartigen Maßnahmen verschont blieben.
Ukrainerinnen avancierten indes in der allgemeinen Katastrophe des Krieges unerwartet zu einer vergleichsweise privilegierten Gruppe. Sie waren nicht von Mobilisierung betroffen und konnten problemlos ins Ausland reisen. Für eine international orientierte Szene war und ist dies äußerst relevant.
Nach dem 24. Februar 2022 seien die persönlichen Erfahrungen von ukrainischen Künstler*innen sehr schnell auseinandergedriftet, konstatiert die nach Stationen in Polen und Graz nunmehr in Wien lebende Kateryna Lysovenko. „In den ersten drei Monaten gab es zunächst eine große Einigkeit, die anschließend geplatzt ist. Jetzt wird die Distanz immer größer“, sagt sie. Jene, die die Ukraine verlassen hätten, würden jene nicht mehr verstehen, die geblieben seien. Wobei es auch innerhalb der Ukraine sichere und weniger sichere Städte gebe. Und eine weitere Gruppe sei an der Front und würde von niemandem verstanden, schildert die Künstlerin.
Kunst selbst basiere nicht nur auf Erfahrung und sei auch etwas Universales. Aber es gebe gewisse Dinge, die man nur machen könne, wenn man Konkretes durchlebt habe, erläutert Lysovenko. „Deshalb gibt es auch Kunstwerke, die ich hier nicht machen kann“, sagt sie und nennt als Beispiel eine Arbeit von Vasyl Tkachenko, der etwa Kerzen gemalt habe und damit auf regelmäßige kriegsbedingte Stromausfälle in der Ukraine im Winter 2024/25 verwiesen habe.
Ungeachtet, ob dies mit formalen Beschränkungen zu tun hat oder nicht, befindet sich eine überwältigende Mehrheit der in der Ukraine tätigen Künstler*innen mittlerweile jedenfalls in einer dramatischen sozialen Situation. „Künstler*innen ohne die Möglichkeit, in einem internationalen Kontext zu funktionieren, können nur gerade noch überleben“, sagt Kadan, der sich selbst in einer sehr privilegierten Lage sieht. Ein Kunstmarkt im Land existiere praktisch nicht und Kunstwerke würden vor allem dann verkauft, wenn die Künstler*innen die Verkaufssumme an eine konkrete Einheit der ukrainischen Streitkräfte spenden – oftmals auch um dort dienende Freunde derart zu unterstützen. „Vertreter der Mittelklasse erhalten auf diese Weise ein angenehmes Souvenir für eine gute Tat. Aber der Künstler kann davon nicht leben“, schildert er.
Mit ihren Solidaritätsaktionen konnten Künstler*innen bisweilen auch beträchtliche Mittel lukrieren: Nachdem sie sich bereits in der Vergangenheit konzeptuell mit dem Marktwert ihrer Lebensmittelskulpturen beschäftigt hatte, kreierte die herausragende Bildhauerin Zhanna Kadyrova gemeinsam mit Denys Ruban aus Flusssteinen geschnittene Brotlaibe namens Paljanyzja und verwies damit auch auf ein für russische Invasoren schwer korrekt auszusprechendes Wort. Bis Anfang 2025 sammelte sie derart mehr als 420.000 Euro für die ukrainischen Streitkräfte.
Parallel zu Auswirkungen des Krieges und der oftmaligen Unmöglichkeit eines direkten Austauschs, der soziale Netzwerke und ihre Schwarz-Weiß-Logik wichtiger werden ließ, ist auch insgesamt eine zunehmende Polarisierung in der Kunstszene zu beobachten. Nachdem anfänglich im Ausland lebende Ukrainer*innen vor allem für punktuelle Kooperationen mit ebenso im Ausland lebenden Staatsbürger*innen der Russischen Föderation auf einen virtuellen Pranger gestellt wurden, sahen später manche bereits das Faktum der Emigration von Künstlerinnen bzw. des De-facto-Exils von Künstlern als Manko und potenzielles Ausschlusskriterium.
Zuletzt gab es aber noch weitergehende Vorschläge der Kategorisierung, die auch das bloße Verbleiben im kriegsgeplagten Land als nicht ausreichend erachteten. „Wie können neben (der gefallenen Künstlerin, Anm.) Marharyta Polovinko noch irgendwelche andere Künstler (ohne Fronterfahrung, Anm.) gemeinsam ausgestellt werden? Sie haben einfach kein Recht, mit ihr in einem Saal gezeigt zu werden“, referiert eine in der Ukraine lebende Künstlerin eine kürzliche Diskussion.
Die Rede ist dabei von der aus Krywyj Rih stammenden Künstlerin, Jahrgang 1994. Nachdem sie zunächst als zivile Aktivistin bei der Evakuierung verwundeter Soldaten geholfen hatte, war Polovinko 2024 zur Armee eingerückt und nach einer Tätigkeit als Sanitäterin in einer Drohneneinheit tätig. Nach Beginn der russischen Invasion hatte die Absolventin der Malereiabteilung der Nationalen Kunstakademie in Kyjiw (NAOMA) mit Blut zu malen begonnen: „All diese Jahre habe ich den Krieg als etwas Unlogisches, Unnatürliches und Anormales wahrgenommen, das sich in keinen existierenden Kontext einordnet. Mit der Zeit wurde dieses Verständnis noch komplexer. […] Mit einem Stift hatte ich bloß meine primäre Angst illustriert. Nach einem Umdenken wurde mein Verständnis der Realität tiefgehender […]. Genau zu diesem Zeitpunkt tauchte bei mir Blut als Material auf. Es war nötig gewesen Material nicht von einer Oberfläche zu nehmen, wie bei Stiften, sondern aus der Tiefe“6, erklärte Polovinko ihre Kriegszeichnungen mit Blut, die sich schemenhaft insbesondere mit Tod und Zerstörung beschäftigten. Anfang April 2025 wurde sie im Kriegseinsatz getötet. Künstlerinnen des Kollektivs Situative Blumenbeete gedachten ihrer gefallenen Kollegin wenige Wochen später in einer Performance und pflanzten hinter dem Nationalen Kunstmuseum NAMU in Kyjiw 31 rote Margeriten – eine Pflanze für jedes Lebensjahr von Polivinko.7
Der Krieg in der Ukraine tangierte aber nicht nur Künstler*innen, sondern auch Kunstinstitutionen sowohl im als auch außerhalb des Landes. Auch als Resultat von institutioneller Schwäche in der Ukraine, die selbst eine Konsequenz der sowjetischen Kulturpolitik war, wurde zeitgenössische Kunst aus der Ukraine im Ausland lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt: In Ermangelung von ukrainischen Gesprächspartner*innen sahen viele westliche Institutionen die Nachfolgestaaten der 1991 aufgelösten Sowjetunion, darunter auch die Ukraine, vielfach weiterhin aus einer Moskauer Perspektive. Überblicksausstellungen über eine spätestens seit der sogenannten Orangen Revolution von 2004/05 virulente Szene wie Postorange (Kunsthalle Wien, 2006) blieben daher auch lange Zeit rar. Nachhaltiges institutionelles Interesse an ukrainischer Kunst blieb jedoch selbst nach dem Euromaidan von 2013/14 sporadisch und war vor allem bei polnischen Museen oder etwa dem M HKA in Antwerpen zu beobachten.

Kurze Konjunktur der Solidarität

Im Februar 2022 wurde schließlich vieles anders und unzählige Kunstinstitutionen in der EU setzten sehr kurzfristig in Solidarität mit dem angegriffenen Land ukrainische Ausstellungen auf ihr Programm. Zu sehen waren in Folge vor allem Gruppenausstellungen mit zeitgenössischen Künstler*innen von unterschiedlicher Qualität – größere museale Würfe wie Kaleidoskop der Geschichte(n). Ukrainische Kunst 1912–2023 (Albertinum Dresden, Museum de Fundatie Zwolle/Niederlande) oder In the Eye of the Storm. Modernismen in der Ukraine (Museo Nacional Thyssen-Bornemisza Madrid, Museum Ludwig Köln, Belvedere Wien, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique Brüssel, Royal Academy of Arts London) blieben eher die Ausnahme.
Der ukrainische Fokus blieb allerdings nur temporär: „Eine derartige Nachfrage gibt es jetzt praktisch nicht mehr und es kann auch ein konkretes Datum genannt werden, an dem sich westliche Institutionen in diesem Ausmaß aufhörten, sich für ukrainische Fragen zu interessieren: der 7. Oktober 2023 (Tag des Überfalls der Terrororganisation Hamas auf Israel, Anm.)“, konstatiert Künstler Karabinovych. Freilich, manche internationale Initiativen laufen weiter: Nachdem die Kyiv Biennial des Jahres 2023 in Antwerpen, Berlin, Kyjiw, Lublin, Iwano-Frankiwsk, Uschhorod, Warschau und Wien stattgefunden hatte, stellten die Organisator*innen auch im Herbst 2025 eine weitere internationale Ausgabe dieser Biennale8 auf die Beine, die in Antwerpen, Dnipro, Kyjiw, Linz und Warschau lief.
Parallel zum abnehmenden Interesse im Ausland nahmen hingegen in der Ukraine selbst institutionelle Aktivitäten wieder zu: Waren zu Beginn der russischen Invasion die meisten Kulturinstitutionen aus Sicherheitsgründen geschlossen worden und manche museale Sammlungen gar ins Ausland evakuiert worden, versuchte man bald wieder, einen Modus vivendi in einem nicht zu Ende gehenden Krieg zu finden.
Ab dem zweiten Kriegsjahr zeigten führende Kunstinstitutionen der Ukraine vor allem auch wieder zeitgenössische Kunst: Jeweils in Kyjiw eröffnete im April 2023 Formen der Anwesenheit9 im Mystezkyj Arsenal, im Juni 2023 mit Flugbahnen10 eine große Zhanna-Kadyrowa-Retrospektive im PinchukArtCentre, Wie geht es dir?11 im Ukrajinskyj Dim und Konzentration der Freiheit12 in M17 sowie im Juli 2023 in NAMU die Gruppenschau Vorahnung von Sieg13.
Neu starteten 2023 aber auch relevante Zentren abseits der Hauptstadt mit neuen Programmen und umfangreicheren Ausstellungen – im März zeigte das YermilovCenter in Charkiw Personal der militärischen Einheit14, im Juli DCCC in Dnipro Auf dass der lange Weg zu Himmelstreppen führe15, im Oktober Asortymentna Kimnata in Iwano-Frankiwsk den Kyiv Biennial-Teil In der Peripherie des Krieges16 und die neue Institution Jam Factory in Lwiw im November Unsere Jahre, unsere Worte, unsere Verluste, unsere Suchen, unsere wir17.
Praktisch alle Projekte reagierten dabei auf die Lage nach dem 24. Februar und an einem damit verbundenen inhaltlichen Fokus hat sich bisweilen nichts verändert. Er habe kürzlich einen Bekannten gefragt, ob in der Ukraine derzeit Diskussionen über die Form und nicht über Inhalt möglich wären, erzählte im September 2025 der ukrainische Theaterregisseur Andrii Zholdak bei einer Veranstaltung in Kyjiw. „Auch eine Katzen- oder Blumenausstellung wäre ein Thematisieren des Krieges“, habe sein Gesprächspartner geantwortet.18
Mit dem Krieg und seinen drastischen Konsequenzen für den Staatshaushalt der Ukraine ist aber auch eine prekäre Budgetlage des ukrainischen Kulturbetriebs verbunden. Angesichts anderer Prioritäten können etwa staatliche Museen in der Regel nur Mitarbeiter*innengehälter sowie das Allernötigste für den laufenden Betrieb finanzieren – sie benötigen insbesondere Sponsorenmittel zur Produktion von Ausstellungen. Da aber auch private ukrainische Sponsor*innen unter wirtschaftlichem Druck stehen, spielten nach 2022 ausländische Geldgeber*innen eine umso größere Rolle – in Kyjiwer Institutionen tendenziell etwas weniger, in anderen ukrainischen Städten etwas mehr.
Laut öffentlichen Jahresberichten von Asortymentna Kimnata im westukrainischen Iwano-Frankiwsk wurde dieses Kunstzentrum 2023 und 2024 zu mehr als 75 Prozent von Geldgebern aus der EU unterstützt, darunter das Goethe-Institut, das dänische Kulturinstitut, die Erste Stiftung sowie zahlreiche westeuropäische Kunstinstitutionen und NGOs. Das Ausmaß der ausländischen Unterstützung nahm beim konkreten Zentrum von 2023 auf 2024 jedoch merklich ab und dieser Trend dürfte sich auch auf andere ukrainische Institutionen übertragen lassen.
Eine sehr sichtbare Rolle spielte zuletzt im ukrainischen Kunstbetrieb ein neuer privater Player aus den USA: RIBBON International subventionierte Projekte internationaler Kunststars wie Barbara Kruger und Ai Weiwei in der Ukraine, war Sponsor einer Fotoausstellung von Boris Mikhailov und Wolfgang Tillmans im Charkiwer YermilovCenter und engagierte sich für Kunst im öffentlichen Raum von Zhanna Kadyrova und Nikita Kadan auf den Bahnhöfen von Lwiw und Kyjiw. Bei RIBBON selbst will man nicht verraten, woher die Mittel kommen, und verweist auf Anfrage auf ein „kompliziertes Modell“. Dabei gehen befragte involvierte Personen in Kyjiw allesamt davon aus, dass der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt eine maßgebliche Rolle für diese Initiative spielt. Schmidt gilt nicht nur als Unterstützer der Ukraine, eine von ihm unterstützte Firma ist laut Medienberichten aktiv an der Lieferung von Drohnen an das Land beteiligt.19.