Heft 3/2024
Die Idee bzw. Praxis eines weitgehend gewaltlosen Miteinanders ist gegenwärtig harten Bewährungsproben ausgesetzt. Nicht erst seit dem grauenvollen Terrorangriff der Hamas auf Israel ist, um einen naheliegenden Konfliktherd zu nennen, der Gedanke eines friedvollen Zusammenlebens über ideologische oder ethnisch-politische Grenzen hinweg in weite Ferne gerückt. Was erschwerend zu dieser unheilvollen Gemengelage hinzukommt, ist der weithin dominierende Polarisierungsmodus, der nahezu jede betreffende Äußerung einem einseitigen Bekenntniszwang aussetzt. Gleichzeitig ist in diesem Kontext aber auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass unterschiedliche Subjekte auf unterschiedliche, oft radikal inkompatible Weise in den nicht enden wollenden Konflikt involviert sind – „verwickelt“ bzw. „impliziert“, wie man auch sagen könnte. Wie sind in einem solchen Klima tragfähige Vermittlungsversuche möglich? Wie lässt sich ein zukünftiges Miteinander, jenseits aller realpolitischen Separation, ins Auge fassen? Und können künstlerische Ansätze hier womöglich Blaupausen liefern, die der Politik oder anderen gesellschaftliche Akteur*innen längst entglitten sind, ja deren Vorstellungsräume entschieden überschreiten? Welche Verwicklungsgrade gibt es hier, und inwiefern weisen sie über die Dichotomie von Täter- oder Opfer-Sein hinaus? Die Ausgabe <i>Verwicklungen</i> widmet sich diesen Fragen mit Schwerpunkt auf der unlösbar erscheinenden Konfliktsituation Israel–Palästina. Wohlwissend, dass sich deren historischer Komplexität im gegebenen Zusammenhang nur unzureichend gerecht werden lässt, wollen wir unterschiedliche Schauplätze des Verwickelt-Seins in diesen Konflikt aufsuchen und zur Debatte stellen: historische Modelle einer gemeinsamen jüdisch-arabischen Welt ebenso wie aktuelle Friedensinitiativen oder Projekte eines gerechten, würdevollen Zusammenlebens. Wie, so eine der maßgeblichen Fragen, lässt sich eine künftige Koexistenz projektieren, ohne in wechselseitige Anschuldigungen oder Verdächtigungen zu verfallen – wobei es zweifellos auch die Erinnerung an vergangene Katastrophen wachzuhalten gilt? Welche gedanklich vielleicht noch gewagtere, universalistische Idee braucht es, um jeder militaristischen oder ethno-nationalistischen Auslegung des Konflikts ein für alle Mal abzuschwören? Oder nochmals anders: Wie lässt sich den multiplen, komplexen Verwicklungsmodi, denen die betroffenen Akteur*innen ausgesetzt sind, gerecht werden? Fragen wie diese bilden den multiperspektivischen Hintergrund des Herbst-Heftes.