Heft 1/1998 - Netzteil


Auf den verschlungenen Pfaden der Nonlinearität

Timothy Druckrey


Das Wiederaufleben der Debatten um Geschichtsschreibung, Philosophie, Wissenschaft und Technologie fällt mit der Veröffentlichung von Manuel De Landas »A Thousand Years of Nonlinear History« und Eric Hobsbawms »On History« zusammen. Dies kann als symptomatisch für eine Art Krise gelesen werden, in der Konventionen, die in der Aufklärung wurzeln, auf wackelige Dekonstruktionen und einen wiederbelebten Materialismus treffen. Noch dazu steht diese Debatte in einem beunruhigenden Verhältnis zur sogenannten »zweiten Moderne«, die sich dazu anschickt, nicht die implodierende (oder implodierte) Autorität des historischen Diskurses, sondern jene des widersprüchlichen »posthistorischen«[1 ] Diskurses zu verschleiern

Die postmoderne Destabilisierung der fehlerhaften aufklärerischen Annahmen, auf denen die Moderne beruhte, war selbst oft ein unpräzises und herumkrittelndes Projekt, das darauf abzielte, Periodisierungen, Illusionen und Autoritäten zu diskreditieren. Ebenso aber war sie ein notwendiges Erkennen desjenigen Feldes, das im Gefolge der »Rekulturalisierung« des historischen Denkens explodiert ist. Daher auch die sich häufenden Reaktionen auf postmoderne Theorie, die in Christopher Norris' »What's Wrong with Postmodernism?«, Paul Gross' und Norman Levitts »Higher Superstition: The Academic Left and its Quarrels with Science«, dem wohlbekannten Streich, den Alan Sokal der Zeitschrift »Social Text« gespielt hat (und seiner neuesten Veröffentlichung »Impostures Intellectuelles«) oder eben in Hobsbawms »On History«2 klar ersichtlich sind. Im Aufsatz »Identity History is Not Enough« schreibt Hobsbawm: »Die Vorstellung von Geschichte als Fiktion ist aus einer unerwarteten Ecke akademisch gestützt worden: dem 'wachsenden Skeptizismus gegenüber Aufklärung und Rationalität'. Die Mode dessen, was [...] unter dem vagen Begriff 'Postmoderne' bekannt ist, hat zum Glück unter HistorikerInnen, selbst in den USA, nicht so sehr an Boden gewonnen wie unter Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen sowie SozialanthropologInnen. Sie ist dennoch von Bedeutung [...], da sie Zweifel an der Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion, objektiver Realität und begrifflichem Diskurs aufkommen läßt. Sie ist von Grund auf relativistisch. [...] Sie ist falsch.« Hobsbawm, dessen Anspruch an die Geschichtschreibung ein entschieden materialistischer ist, erhält damit einen Dogmatismus aufrecht, der auf Disziplin und Verläßlichkeit beruht. Er ist nicht willens, postmoderne Theorie nicht als relativistisch oder als Erkennen der narrativen Trugschlüsse zu verstehen, die den deterministischen Teleologien des Modernismus und seiner HistorikerInnen (egal, wie »links« sie sind) inhärent sind.

Der Lauf des »unvollendeten Projekts der Moderne« (um Habermas' Beschreibung zu zitieren) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die fundamentalen Veränderungen solch historischer Tropen wie Produktionsweise, Tausch, Klasse, Kommunikation, Technologie oder Internationalisierung der Ökonomie radikal transformiert. Es scheint jedoch kein vernünftiges Erklärungsmuster zu geben, das Geschichtsschreibung als bloße Ansammlung relevanter Indizien aufrechterhalten könnte. Die Praktiken der Nachkriegskultur erfordern aber einen Ansatz, in dem die Wechselseitigkeit von Faktensammlung und Dekonstruktion betont wird. Solche Ansätze sind jedoch, wie Hobsbawm bemerkt, nicht von HistorikerInnen, sondern eher in Kulturtheorien oder Literaturgeschichten verfolgt worden. Diese Neuerfindung der Geschichtsschreibung, ausgehend von Michel Foucault, Fernand Braudel, Friedrich Kittler oder Barbara Stafford, fordert die Geschichte der Geschichte ebenso heraus, wie sie die Rekonstruktion der Geschichte eng an die sie einbettenden Ideologien bindet. Und selbst wenn die grandiosen Vorstellungen einer Meistergeschichtserzählung nicht mehr zu tolerieren sind, wird der Nachfrage nach sogenannten »Theorien für Alles« bereitwillig von VerlegerInnen nachgekommen, die eifrigst LeserInnen bedienen, welche Knappheit, Verdichtung und oft auch ein bedenkliches Fehlen von historischem Scharfsinn akzeptieren.

Manuel De Landas »A Thousand Years of Nonlinear History«3 ist eine Art Widerspruch in sich. Es verkündet, daß »trotz seines Titels dies kein Buch über Geschichte [sei], sondern ein Buch über Philosophie - eine zutiefst historische Philosophie.« Die Überlegungen, die De Landa anstellt, erscheinen jedoch eher wie freie theoretische Assoziationen denn wie Philosophie, eher als Montage denn als Rhizom und eher interessant denn überzeugend. Indem das Buch drei zentrale »Narrationen« verfolgt - eine geologische, eine biologische und eine linguistische - evoziert es eine Verbindung zwischen den Begriffen Nicht- Gleichgewicht und Nonlinearität. Diese stellen einen eigenartigen Akzent des Buches dar, nämlich: »es zuzulassen, daß die Physik die menschliche Geschichte infiltriert«. Die vage Verordnung von Chaostheorie und einer Art »Sozialdawkinismus«4bildet ein Paar beweglicher Ziele innerhalb einer Argumentation, die De Landa »philosophische Physik« nennt: diese »könnte die Basis für einen erneuerten Materialismus darstellen, der von den (essentialistischen und teleologischen) Dogmen der Vergangenheit befreit ist«.

Im Versuch, den Materialismus sowohl zu »erneuern« als auch zu entmetaphorisieren, verfällt die Argumentation auf das eklatant Naheliegende (»Vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert haben sich nicht nur einzelne Geschäfte an monopolistischen Praktiken beteiligt, sondern ganze Städte taten dies, selbst Städtegemeinschaften«, S. 47), das verzwickt Exzessive (»Eine mittelgroße Stadt im Mittelalter mußte mindenstens zehn Dörfer um sich herum kontrollieren, um eine stetige Versorgung mit eßbarer Biomasse zu gewährleisten«, S. 107) oder das gespenstisch Verwirrende (»Die Mineralisierung der Menschheit hat Formen angenommen, die Ergebnis der bewußten Manipulation des urbanen Raums durch ein Zentralorgan einerseits und der Aktivität vieler Individuen ohne irgendeine zentrale 'Entscheidungsinstanz' andererseits sind«, S. 30). Städte und Dörfer seien nicht voneinander abhängig gewesen, wie dies der orthodoxe, aber leider lineare Marxismus behauptet, sondern die Stadt sei »parasitär« gewesen. Bestimmt sind die keineswegs trivialen Zusammenhänge von Kapital, Nahrung und individueller Kontingenz Angelpunkte der Kulturentwicklung. Problematisch ist nur, daß diese Argumentation die Rolle menschlicher Interventionen noch mehr verringert als eine Dawkins'sche »egoistische Genmaschine« dies tut, sodaß selbst veraltete deterministische Theorien hier plausibler erscheinen. Dies folgt aus einer Überdeterminierung der »abstrakten Maschine« von Deleuze und Guattari und einer übermäßig gefrönten Systemtheorie, die auf eine Geschichte aufgepfropft wird, welche als Philosophie dargestellt wird, tatsächlich aber eine Mutmaßung bleibt.

Es besteht kein Zweifel daran, daß De Landas Lektüre der Wissenschaft, Technologie, Philosophie und Geschichte die notwendige Verbindung dieser Bereiche mit der Komplexitätstheorie skizziert, in welcher sogenannte »emergente« Prozesse der Thermodynamik, Ökonomie und Genetik am Computer modelliert werden. Das Feld der Komplexitätstheorie könnte tatsächlich den analytischen Rahmen bilden, in dem historischer Wandel in einer integriert-quantitativen Form begreifbar wird. Dieser reduktive Ansatz, der »die Realität selbst entschichtet,« wirft komplizierte Fragen im Hinblick auf Kausalität, Bifurkationstheorien und die weniger subtilen Technologien auf, die immer noch benutzt werden, um das Selbst, Identität, Kultur und Ökologie in Machtverhältnisse einzubetten. In dieser Hinsicht wäre De Landas komplexes »Maschenwerk« keine wirklich treffende Metapher für Gemeinschaft und menschliche Handlungsfähigkeit doch ein bißchen mehr als eine fügsame Biomasse, die einem »blinden Uhrmacher« in Form nicht- hierarchischer, »lebensfähiger Hybride« folgt. De Landa legt jedoch Wert darauf, daß in einer »nonlinearen Welt die gleichen grundlegenden Prozesse der Selbstorganisation im mineralischen, organischen und kulturellen Bereich stattfinden« (S. 70). Diese These mag sich innerhalb eines technologischen Imperativs, der Systeme als dynamische und statistische betrachtet, als vertretbar erweisen. Sie stockt aber paradoxerweise dann, wenn sie mit Problemen der Unentscheidbarkeit oder der Unschärferelation zurechtkommen soll (obwohl zu vermuten wäre, daß diese von Komplexitätstheorien bestens abgedeckt sind).

Trotz prägnantem Quellenmaterial (unglücklicherweise hat das Buch weder einen Index noch eine Bibliografie), einer wichtigen Ausgangsfrage und dem offensichtlichen Willen, ein eindrucksvoll multidisziplinäres Thema in den Griff zu kriegen, erscheint »A Thousand Years of Nonlinear History« eher kaleidoskopisch denn theoretisch, eher hypothetisch denn philosophisch. Dennoch is dieses Forschungsgebiet so wichtig, daß es nicht den Technophilen überlassen werden kann, De Landas Bemühen sollte daher nicht ignoriert werden.

 

Übersetzt von Dagmar Fink

 

1 Lutz Niethammer hat den Unterschied folgendermaßen charakterisiert: »Geschichte [wird] als ein Prozeß subjektiver, bedeutungsorientierter Auseinandersetzungen verstanden, Post-Historie hingegen bezieht sich auf Bedingungen, unter denen die Weltzivilisation als gewaltiger, wissenschaftlich ausgebildeter Apparat fungiert und unter denen Kultur zu einem natürlichem Phänomen versteinert wird.«

2 New York (The New Press) 1997.

3 New York (Zone Books/Swerve Editions) 1997.

4 Anspielung auf den Biologen und Darwinisten Richard Dawkins.