Heft 1/1999 - Netzteil


Gedenkbibliothek von EmigrantInnen

Alte und Neue Medien als Kommunikationswerkzeuge für Translozierte

Vesna Manojlovic


Im ehemaligen Jugoslawien, dessen Schicksal es war, während des Krieges in seine einzelnen Bestandteile zu zerfallen, finden sich heute viele Menschen ohne Heimat wieder: Flüchtlinge, Menschen, die zwischen den neu gegründeten Staaten zerrissen waren und nirgendwo mehr hingehörten, Menschen, die auf einmal keine Möglichkeit mehr hatten, mit alten Freunden und Verwandten zu kommunizieren oder Briefe von ihnen zu empfangen, »gemischte« Ehepaare und deren Kinder, die plötzlich gezwungen waren, ihre Identitäten neu zu definieren.

Ich selbst zog vor zwei Jahren von meinen Eltern aus, um alleine zu leben. Das war das erste Mal, daß ich feststellen mußte, daß sich meine Büchersammlung nicht so leicht transportieren läßt. Das ist heutzutage in Serbien, wo das sogenannte »Kinderzimmersyndrom« stark verbreitet ist, sehr ungewöhnlich: Junge Leute im Alter von 20 bis 40 Jahren bleiben meist in ihren Kinderzimmern wohnen und warten auf den Tod ihrer Eltern, um dann ins Wohnzimmer zu übersiedeln. Gewiß gibt es wirtschaftliche Gründe für dieses Phänomen: keine Jobs, mangelnde Unterstützung durch die Regierung, ungelöste Wohnungsprobleme. Aber es gibt auch gewichtige psychologische Gründe dafür: Die Gesellschaft hält traditionelle Werte wie den Familienzusammenhalt hoch. Die Kinder werden nicht zur Selbständigkeit erzogen, wodurch sie nicht in der Lage sind, selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.

In den letzten zehn Jahren wanderten mehr als 400.000 BürgerInnen aus Serbien aus - »intellektuelle GastarbeiterInnen«, die nach Kanada, Neuseeland, USA und manchmal auch in die »Festung Europe« übersiedelten. Obwohl diese Länder damit kostenlos zu gut ausgebildeten Fachleuten kommen, wird es für ImmigrantInnen zunehmend schwerer, eine Einwanderungserlaubnis zu erhalten. Doch die Regierung Jugoslawiens zeigt sich in Anbetracht dieses intellektuellen Genozids wenig besorgt. Es zählt nicht zu ihren Anliegen, neue Arbeitsplätze oder bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Stattdessen verschlimmert sie die Situation, indem sie noch stärker einschränkende, anti-universitäre Gesetze erläßt und neue Steuerbestimmungen für unverheiratete Paare einführt. Somit sehen sich viele aus meiner Generation mit der Doppelrolle konfrontiert, gleichzeitig EmigrantInnen und ImmigrantInnen zu sein, je nachdem, auf welche Seite der Grenze sich ihr Status bezieht.

Die Ausbildung der meisten jungen Leute, die ausgewandert sind, beruht auf Büchern. Viele dieser Bücher mußten gemeinsam mit den Eltern und FreundInnen zurückgelassen werden und liegen nun nutzlos in Kellern und Mansarden. Ducrh das Projekt einer Gedenkbibliothek von EmigrantInnen sollen all diese zurückgelassenen Bücher gesammelt und damit vor Verlust und Zerstörung gerettet werden. Die Bücher könnten den Zurückgebliebenen zur Verfügung gestellt werden und zu deren Ausbildung beitragen. Darüber hinaus bezieht sich die Idee für dieses Projekt auf translokale, überregionale Kontakte zwischen Menschen, Ländern, Ideen und Büchern - die Verbindung von diasporischer und lokaler Öffentlichkeit. Realisiert werden soll es mit Hilfe elektronischer Medien.

Die Bibliothek besteht aus drei Teilen: einem realen Raum - einem geografisch festgelegten Ort für die zurückgelassenen Bücher und Treffpunkt für bücherliebende Menschen; dem imaginär-geistigen Raum - der Erinnerung an die EmigrantInnen sowie den zirkulierenden Ideen von SchriftstellerInnen und LeserInnen; schließlich einer virtuellen Gemeinschaft im Internet.

Die Bibliothek im realen Raum soll klassische Dienstleistungen wie Entlehn- und Kopiermöglichkeiten bieten. EmigrantInnen werden gebeten, ihre Bücher - oder zumindest eines davon - der Bibliothek zu vermachen, und jedes Buch wird den Namen der Spenderin oder des Spenders tragen. Bücher können der Bibliothek als Geschenk oder als Leihgabe übertragen werden. Das Konzept der Mitgliedschaft besteht zwar, jedoch nur für die Buchführung. Sie wird durch die jährliche Spende eines Buches aufrechterhalten. Im digitalen Feld ist die Adreßdatei am wichtigsten. Als Vorbilder für deren Struktur gelten »Who Is Where« - die Adreßdatei der Programmierer von ETF Belgrad - sowie die Kundendatei von Amazon.com. Die Adreßdatei ermöglicht allen eingetragenen Mitgliedern, miteinander in Kontakt zu treten. An zweiter Stelle stehen die Möglichkeiten, die das Internet selbst bietet: Der Bibliothek-Server sollte kostenlose Email-Accounts, Speicherplatz für Netzseiten, Mailinglisten, Diskussionsforen, Chat Rooms und Aktuelles aus dem Netz anbieten. Die Bibliothek könnte schließlich auch selbst Bücher im Internet veröffentlichen.

Da die Aktivitäten der Bibliothek nicht profitorientiert sind, besteht der Bedarf nach finanzieller Unterstützung. Die Ausgaben, die mit dem Unterhalt eines geeigneten Raumes, dem Erwerb von technischen Geräten und der Bezahlung der Angestellten einhergehen, müssen idealerweise von einem Sponsor getragen werden. Zu Beginn werden die von Individuen gespendeten Bücher nicht ausreichen, also müssen Institutionen um Unterstützung gebeten werden: Stiftungen, bereits existierende Bibliotheken, Verlagshäuser, reiche Ex-JugoslawInnen, Kulturzentren und Studentenorganisationen. Die Stationierung der Bibliothek ist ein anderes Problem: Ich habe das Petnica Science Center in Belgrad, Amsterdam oder aber das Modell einer mobilen Bibliothek in Betracht gezogen. Vorbilder sind die »Hippie Libraries in Kathmandu«, wie sie Stevan Pesic beschreibt, und die »Walking Libraries« in Ray Bradburys »Fahrenheit 451«.

Das Internet gibt vielen Leuten aus Ex-Jugoslawien die Möglichkeit, weiterhin miteinander in Kontakt zu bleiben. Bereits während der Kriegssanktionen wurden Netzwerke wie Zamir, Sezam, SetNet, YUCCA und OpenNet eingerichtet. In dieser Phase wurde die Mehrheit der serbischen Netzseiten von amerikanischen Servern »beherbergt«. Heute gibt es mehrere Mailinglisten - IRC#serbia, um nur eine zu nennen -, Diskussionsforen und international vernetzte Medienunternehmen wie Radio B92. Darüber hinaus sei auch auf die Tätigkeit des »Classroom Education Team« verwiesen, das innerhalb eines Jahres mehr als 150 SeniorInnen grundlegende Computerkenntnisse beibrachte, damit diese mit ihren Kindern im Ausland kommunizieren können. In Zusammenarbeit mit der University for the Third Eye, dem American Center und dem Soros Fund gelang es, dieser Initiative täglich eine Stunde kostenloser Online-Zeit zur Verfügung zu stellen. Das Projekt bekam schließlich ein eigenes »Klassenzimmer«, und die 10 besten SchülerInnen wurden selbst zu LehrerInnen für den nächsten Kurs ausgebildet.

Auch die Gedenkbibliothek könnte ein Forum sein, in dem die NutzerInnen Wissen und Erfahrungen teilen sowie soziale und technische Bande knüpfen - in einem »vereinigten Jugoslawien«, das immer noch in den Erinnerungen und virtuell im Internet präsent ist.

 

Übersetzt von Vera Tollmann