Heft 1/1999 - Artscribe


Life? or Theatre? The Work of Charlotte Salomon

22. Oktober 1998 bis 17. Januar 1999
Royal Academy of Arts / London

Text: Hemma Schmutz


»Uns beide wird man später noch einmal ansehen«, sagt Amadeus Daberlohn zu Charlotte Kann auf Blatt 366 des Singspiels »Leben? oder Theater?« der deutschen Malerin Charlotte Salomon (1917-43), das zwischen 1940 und 1942 im französischen Exil entstanden ist.

Und es ist wahr, daß die erzählte und gemalte Lebensgeschichte der 1943 in Auschwitz umgekommenen jüdischen Künstlerin, in der sie ihre Beziehung zu dem um vieles älteren verehrten Musikpädagogen Alfred Wolfsohn verarbeitet, eine Aufmerksamkeit auf sich zieht, die sich die ProtagonistInnen in dieser Form wohl nicht vorgestellt haben.

Ansehen, und zwar gebannt, aus mehreren Gründen: Ist es doch ein äußerst treffendes Dokument der Geschichte eines Volkes, das durch Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung ausgelöscht wurde, vergleichbar nur mit den Tagebüchern von Anne Frank. Zwar spielen politische Ereignisse, wie die Machtübernahme der Nazis, die »Reichskristallnacht« oder das Leben in den Konzentrationslagern auf den 769 Gouachen und 13 gemalten Textseiten der endgültigen Fassung des Singspiels eine untergeordnete Rolle. Es überwiegt die Darstellung zwischenmenschlicher Anziehungen und Konflikte - die Haßliebe zu ihrer Stiefmutter, einer begabten Sängerin, die Freundschaft und unglückliche Liebe zu Amadeus Daberlohn, dem Repetitor und Verehrer ihrer Stiefmutter Paulika Bimbam, die tiefe Beziehung zu ihrer Großmutter, deren Selbstmord sie trotz intensiver Bemühungen nicht verhindern konnte, und der Ablösungsprozeß vom einzigen in ihrem Umfeld noch verbliebenen Verwandten, dem Großvater Dr. Knarre. Trotzdem wird sichtbar, wie die politische Situation im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre die Lebenssituation eines durchschnittlich aufwachsenden, pubertierenden Mädchens auf einschneidende Weise strukturiert und dominiert. Die Vorbilder der Charaktere des Singspiels sind dem unmittelbaren Lebensumfeld von Charlotte Salomon im Berlin der dreißiger Jahre und in der Emigration in Frankreich zu Beginn der vierziger Jahre entnommen, und es ist für die BetrachterInnen nicht immer einfach in »Leben? oder Theater?« zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden.

Auch deshalb nicht, weil die Struktur der Arbeit durch die Anlehnung an filmische Methoden - zum Beispiel close ups oder long shots - die BetrachterInnen in einen Sog hineinzieht, was wie im Film die unmittelbare Identifikation mit den ProtagonistInnen forciert. Die Einordnung in ein tradiertes künstlerisches Genre ist bei »Leben? oder Theater?« nicht leicht zu treffen. Vielmehr ist die enge Verbindung von Text, Bild und musikalischer Unterlegung am ehesten vergleichbar mit einem Storyboard für einen Film, oder auch mit mittelalterlichen Bildergeschichten, mit Comics oder Fotoromanzen. In den ersten 211 Blättern basiert die Verbindung von Bild und Text auf der Überlagerung einer Gouache mit einem Textblatt auf Transparentpapier. In den übrigen 558 Blättern werden Text und Bild in einem Blatt verwoben, wobei der Text die Bilder umschreibt oder rahmt.

Neben der fraglos berührenden Geschichte selbst sind es aber auch die geschickt eingesetzte Methodik des filmischen Aufbaus und die verblüffende Varianz der bildnerischen Mittel, die den Blick anziehen. Die Arbeit ist voller Brüche. Raffiniert durchkomponierte und akribisch deskriptive, verschachtelte Bildräume mit verschiedenen Szenen auf einem Blatt werden abgelöst von in wenigen Strichen hingeworfenen Einzelszenen von höchster Expressivität in Farbwahl und Pinselführung. Eine überraschende Vielfalt der Stile wird zusammengehalten von einem Gerüst aus Vorspiel, Hauptteil und Epilog. Reine Textseiten wechseln sich ab mit inneren Monologen in Form von aneinandergereihten, fast identischen schematischen Körpern oder Köpfen mit begleitenden Texten.

»Weißt Du, Großpapa, ich habe das Gefühl, als ob man die ganze Welt wieder zusammensetzen müßte«, meint Charlotte Kann auf Blatt 549 von »Leben? oder Theater?«. Seine Antwort »Nun nimm Dir schon endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört«, wird nicht erfüllt. Charlotte Salomon schuf quasi in einer selbst geleiteten psychotherapeutischen Kur eine Arbeit, die zwar die Welt nicht mehr zusammensetzen konnte, aber in ihrer Komplexität und Einzigartigkeit den gebannten Blick auf sich zieht.