Heft 4/2000 - Outside Europe


Anhang

Eine Stellungnahme der Atlas-Gruppe von Walid Raad über »The Dead Weight of a Quarrel Hangs«

The Atlas Group


Der besondere Umstand, den wir in »The Dead Weight of a Quarrel Hangs« untersuchen, ist der Libanesische Bürgerkrieg, aber nicht als bereits gegebene Abfolge bestimmter Ereignisse, Daten, Persönlichkeiten, Massaker und Invasionen, sondern vielmehr als Abstraktion, die in einer Vielzahl von Diskursen geschaffen wird. Wir legen auch besonderes Augenmerk auf die Diskurse über Videos, Fotografie, Dokumentarfilme, Nationalismus und Krieg. Wir gehen in dieser Untersuchung davon aus, dass »Der Libanesische Bürgerkrieg« keine selbstverständliche Episode, nicht unabänderlich Naturgegebenes ist. Dieser Krieg, oder vielmehr: diese Kriege kamen nicht durch miteinander verknüpfte, einheitliche oder bereits vorhandene Objekte zustande. Im Gegenteil, »Der Libanesische Bürgerkrieg« konstituiert sich aus verschiedenen Handlungen, Situationen, Personen und Umständen, von denen wir einige untersucht haben. Es ist dies nicht der Versuch, den Krieg auf das eine oder andere Geschehen, eine spezielle Person oder Zeit, diesen oder jenen Raum festzulegen, sondern wir stellen – und suchen die Antwort auf – folgende Frage: Wie schreibt man eine Geschichte des »Libanesischen Bürgerkriegs«?
»The Dead Weight of a Quarrel Hangs« beinhaltet eine Anzahl fotografischer und videografischer Dokumente wie zum Beispiel: Missing Lebanese Wars, Secrets in the Open Sea und Miraculous Beginnings. Wir betrachten diese Dokumente als hysterische Symptome, die imaginierte Ereignisse präsentieren, welche aus unschuldigem, alltäglichem Material konstruiert sind. Wie alle hysterischen Symptome spiegeln die in den Dokumenten aufgezeigten Ereignisse keine tatsächlichen Erinnerungen wider, sondern sind an kulturelle Phantasien geknüpft, welche auf Erinnerungen basieren. Die Dokumente in unserem Archiv zeigen nicht so sehr auf, »was passierte«, sondern »was vorstellbar ist, was gesagt werden kann, worauf ich mich verlassen kann, was rational erscheinen kann und was nicht, was denkbar und aussprechbar ist über Bürgerkriege«. Sie konzentrieren sich auf einige nicht untersuchte Auswirkungen von Kriegen, wie sie sich in fotografischen Reproduktionen manifestieren: Reproduktionen von Zielaufnahmen uneindeutiger Siege bei Pferderennen, fotografische Gruppenportraits von Frauen und Männern, die in libanesischen Zeitschriften erschienen sind. Die Fragen, die wir stellen wollen, sind folgende: Wie können wir die Erfahrung der libanesischen Bürgerkriege verstehbar machen? Mit diesen Fragen implizieren wir nicht nur das »wir« in »wie können wir verstehen?«, sondern auch das Konzept der »Erfahrung« der Kriege. Diese Frage ist kein Aufruf, sich mit den jeweiligen Erfahrungen des Krieges von Moslems, Sunniten, Drusen, Schiiten, Männern, Frauen, der Mittelklasse, der Arbeiterklasse auseinander zu setzen. All das sind ernsthafte Angelegenheiten, die einer ebenso ernsthaften Auseinandersetzung bedürfen und auch schon Gegenstand einiger Arbeiten waren, allerdings noch nicht ausreichend erforscht wurden. Mit den obigen Fragen geht es uns um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Konzept der »Erfahrung« der Kriege. Was aber meinen wir mit »Erfahrung der Kriege«? Welche bestimmten Vorstellungen von Erfahrung, welche Art der Datenaufnahme von dem, was in der Welt geschieht, können wir voraussetzen, wenn wir von der physischen, psychischen, wirtschaftlichen und politischen Gewalt der Bürgerkriege sprechen? Welche Vorstellung von Zeit beschwören wir? Welche erkenntnistheoretischen Beziehungen können wir zwischen dem Subjekt und dem Objekt dieses Wissens über Kriege herstellen? Wie können wir uns den Fakten des Krieges annähern, nicht in ihrer unverstandenen Faktizität, sondern durch komplizierte Vermittlungen, durch welche die Fakten erst ihre Unmittelbarkeit erlangen?

 

Übersetzt von Beatrix Kaiser-Gnan

 

The Atlas Group
Beirut/New York
2000
Walid Raad, The Dead Weight of a Quarrel Hangs.