Heft 4/2000 - Lektüre



Hannes Böhringer:

Auf der Suche nach Einfachheit

Eine Poetik

Berlin (Merve Verlag) 2000 , S. 81

Text: Martin Reiterer


»In gewisser Weise kann man die Kunst überhaupt als eine Kultur der Einfachheit begreifen. Die Kunst muss vereinfachen, absehen von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, wenn ihre Wiederholung nicht Verdoppelung sein soll.«

Hannes Böhringer, der an Kunsthochschulen Philosophie lehrt, bewegt sich schon seit mehr als fünfzehn Jahren »von der Philosophie zur Kunst« und »von der Kunst (wieder) zur Philosophie«. Seine Texte und Bücher sind gleichsam Filme, Filme über Begriffe. Seine Protagonisten sind maskenhafte Wesen mit einer erstaunlichen Verwandlungsfähigkeit. Mit der Kamera spürt Böhringer den Metamorphosen der Begriffe nach, ihrer Beweglichkeit, Dehnbarkeit und Schrumpffähigkeit. Die Dinge sind ihre Gegenspieler, und ihre Fähigkeit ist es, jene zu verkörpern. Daher sind Böhringers Filme zweispurig: Die Spur der Begriffe und die Spur der Dinge lassen sich miteinander verkoppeln, ineinander verschränken, sind aber eigenständig, verlaufen nach Möglichkeit unabhängig.

Böhringer zeigt, wie es zu begrifflichen Grenzziehungen kommt, er stellt die Schnitte nach, welche die Begriffe proteushaft verkürzen, legt die Stellen frei, an denen sie vernarben und sich mit anderen verknüpfen. Ebenso anschaulich führt er vor, wie die Begriffe an ihren Bedeutungsrändern sich verflüssigen, hin zu ihren Neben- und Gegenbegriffen. Die Termini werden im Fluss gezeigt, dieser Fluss jedoch ist kein Kontinuum, sondern wird immer wieder unterbrochen, durchschnitten.

Das Interesse an solchen Gratwanderungen, der Versuch, die Begriffe in dem Augenblick und dort einzufangen, wo sie kippen und plötzlich eine Kehrseite zutage fördern, bringt Böhringer auch auf die Spur der Einfachheit. Ausgehend von der Funktionsbeschreibung einzelner Kunstwerke (George Brechts »Piano Piece«, John Cages »Vortrag über nichts«, Gordon Matta-Clarks »Window Blow-Out«, Thomas Kapielskis Gadamer-Interpretation, Andy Warhols »Dollar Paintings« oder Eva-Maria Schöns »Der aktive Schatten«) geht Böhringer in sechs Abschnitten Begriffen der Einfachheit (Nichts Besonderes, Fast Nichts, Wirbel, Witz, Gefühl, Wiederholung) und ihren (Begriffs)Umfeldern nach.

Nicht immer die Kunstwerke, wohl aber ihre Bedingungen lassen sich begrifflich fassen. Auch das Nichtbegriffliche an ihnen (»fast nichts« - das »presque rien« des Barock) bedarf der Konstruktion. Mit der modernen Kunst wird der konstruktive Rahmen, der die Grenze zur Nicht-Kunst zieht, immer unscheinbarer, ohne dass der Anspruch der Kunst geringer würde. »Kunst ist es, durch Reduktion Komplexität zu gewinnen: Verwandlung von Mangel in Fülle.«

Durch die ihr eigene Radikalität (»Anders als die traditionelle Kunst will die moderne immer wieder von vorn beginnen. Sie will ursprünglich sein und radikal bleiben.«) ist die moderne Kunst ständig am Kippen. Um das Gewöhnliche, das Nichtbesondere des Alltags (»Ereignis«) durch ihre »ungerichtete Aufmerksamkeit« der Intentionalität zu entreißen, durchbricht oder berührt sie zumindest immer wieder die Grenze zum Leben, zum Alltag hin. Die Verflüssigung, die Reduktion, die Minimierung, die Zuspitzung ist selbst durch Übertreibung bedroht. »Das aber bringt die Einfachheit in die Gefahr, zu einfach, zu wenig komplex, einfach langweilig zu sein. Erst die innere Auszehrung der modernen Einfachheit ruft den postmodernen Widerspruch hervor, die Entgegensetzung von Einfachheit und Komplexität.«

Was an Böhringers Texten fasziniert, ist die sanfte, (er)finderische und dennoch bohrende Art, mit der er Verknüpfungen herstellt beziehungsweise aufzeigt, Begriffe der Neuplatoniker etwa und der antiken Stoiker, philosophische Begriffe und künstlerische Konzepte miteinander verbindet und somit verschüttete Beziehungen offen legt, darunter jene zwischen Kunst und Lebenskunst: Kunst selbst wird in der Moderne immer wieder strategisch, als Überlebenskunst, lebensrettend eingesetzt: Das Nichtbesondere, in seiner Unscheinbarkeit und Einfachheit reale Möglichkeit, weil es das Nächstliegende und gleichzeitig gewohnheitsmäßig Entfernteste, Unerwartetste ist, bietet beides: Es ist erreichbar, und es birgt die Überraschung (als Kunst), die Rettung (als Lebenskunst) in sich.