Heft 4/2000 - Lektüre



Tom Holert (Hg.):

Imagineering

(Jahresring 47)

Köln (Oktagon Verlag) 2000 , S. 81

Text: Vera Tollmann


Das auf dem Cover leger durch die großen Titelbuchstaben »Imagineering« sichtbare Bild - möglicherweise fliegende Blüten - verheißt Jugendlichkeit und Frische - die Jugend einer neuen Wissenschaft und den aufgebrochenen Manifestationsdrang der internationalen Autoren und Autorinnen. Der Buchdeckel verspricht, was im Buch gehalten wird: Die Schablone »Imagineering« ermöglicht, flottierende Alltagsbilder in neuen, widerständigen Rahmen zu sehen, oder genauer: verschafft Einblick in visuelle Kultur als Politik der Sichtbarkeit. In acht Texten, gefolgt von jeweils einem Interview, wird auf Erkenntnisse aus der Kunstgeschichte, den Cultural Studies, neuen Medien, Psychologie, Politik und Soziologie zurückgegriffen - quasi cross-disziplinär, punktuell präzise nach visuellen Trends geforscht.

Den von W. J. T. Mitchell als »picturial turn« benannten Wandel hin zu einer visuell-dominierten Gesellschaft setzen die AutorInnen des diesen Herbst rechtzeitig zur Erhellung trüber Wintersonntage erschienenen Readers »Imagineering« schon als selbstverständlich voraus. Ziel des Buchs, so der herausgebende Kölner Kulturwissenschaftler Tom Holert, sei es vielmehr, den Begriff der »Sichtbarkeit« in einem entschieden politischen, historischen und kulturellen Sinn« zu bestimmen. Holert kennzeichnet den Entwicklungsstand der visuellen Kultur folgendermaßen: »die optimale Optimierung besteht darin, alles offen zu legen, das Für und Wider auszustellen, die Kulturkritik immer schon vorweggenommen und integriert zu haben« und beschließt das »Phänomen einer sich zunehmend reflexiv gebenden Medienkultur«.

Holert sieht die Bilder als »Kommunikationsbeschleuniger, als Evidenzmaschinen« - also als stellvertretende, kommunikative Argumente. Die um ihre »Bildfähigkeit« konkurrierenden Bilder folgen der neuen »Sichtbarkeit«: die wiederum bringt neue Jobs mit sich und verlässt sich momentan in der Personality-Branche auf Glamour als sicheres Mittel zur »Sichtbarkeit«. So bezeichnet Holert die »Vanity Fair«-Cover als »Bilder gesellschaftlicher Überlegenheit«.

»Angesagter« methodischer Leitfaden des Readers ist Foucault, dessen Erkenntnisse als »visueller Historiker« auf die neuen Räume einer konstruierten Sichtbarkeit übertragen werden wie etwa Shopping Malls, gated communities, Ferienclubs. Holert spricht beispielsweise von der eigens für Clintons Indienreise errichteten Photokulisse als »Clintonsche Dörfer«. John Rajchman schreibt in dem Text »Foucaults Kunst des Sehens«, dass »Sichtbarkeit« die »Sache eines positiven, materiellen, namenlosen Körpers von Praktiken« sei. »Ihre Existenz zeigt, dass wir in allem, was wir sehen, weit weniger frei sind als wir glauben, denn wir sehen nicht die Zwänge des Denkens in dem, was wir sehen können. Es zeigt jedoch auch, dass wir in viel höherem Maße frei sind als wir glauben, da das Element Sichtbarkeit auch etwas ist, was das Sehen auf historischen Wandel oder Veränderung öffnet.«

Filmwissenschaftlerin Lisa Parks prägt im Interview mit Tom Holert den Begriff des »orbitales Sehens« in Bezug auf die Distribution von Satellitenbildern und weist auf die notwendige »kritische Aneignung und Politisierung der privilegierten Blickpunkte« hin. Denn dem Machtgebrauch von Satellitenbildern von Seiten der Regierung, Militärs, etc. stellt Parks eine für sich nicht existente »globale Visualität« entgegen. Gemäß Parks stehen auch Satellitenbilder immer in kontextuellen Abhängigkeiten.

Der Sammelband baut viele Startbahnen zur Erkundung des heterogenen Verwirklichungsfeldes von Sichtbarkeiten in der Kunst und in den Medien, differenziert zwischen künstlerischer und nicht-künstlerischer Bildproduktion. Die »neuen Grenzen der Kunst« beschreibt Diedrich Diederichsens grundsätzlicher Aufsatz »Die Politik der Aufmerksamkeit«. Einerseits brauche die »neue Visualität« »keine Legitimität mehr aus dem Kunstbegriff«, andererseits könne Kunst dem Importierten ästhetische Gerechtigkeit widerfahren lassen, »das heißt seine Verfahren ausstellen und verfügbar machen«. Diese Leistung sei aber nur sinnvoll, »wenn zwischen einer allgemeinen Kultur und einer solchen Bilder-Kritik ein Kontinuum entstehen würde«.

In »Das Gespenst der Transparenz« der slowenischen Philosophin Renata Salecl geht es um eine Theorie, die den Zusammenhang zwischen Technologie, Psychologie und Ideologie erfasst. Den aktuellen Sichtbarkeitszwang in der Kunst und in den Medien analysiert Salecl so: »Allerdings hat dieses Offenlegen des Inneren und Zurschaustellen des Alltags nichts Subversives, sondern trifft genau die vorherrschende Ideologie. In unserer Gesellschaft finden sich zahlreiche Beispiele für diese Logik des >Es-gibt-kein-Geheimnis-mehr<«. Grund für dieses Phänomen ist laut Salecl der Wunsch nach einer Kontrolle unserer Ängste.

Von der Vereinnahmung der Bilder zu Gunsten einer Normalisierung von Homosexualität z. B. in deutschen Vorabendsoaps, schreibt Cristina Nord und betont, dass eine Sichtbarkeit nur sinnvoll sei, wenn »sie sich nicht mit den fest etablierten Zeichen begnügt«. Im Kunstkontext sagt Ilka Becker zu Collier Schorrs Fotos: »im bedeutungsleeren ennui ihrer Inszenierungen verbirgt sich ein jedem Subjekt eigenes Widerstandspotential, eine Offenheit für zukünftige Entwürfe und Handlungsweisen«. Hier scheint eine, wenn auch vage »subtile Neuverortung der visuellen Aufmerksamkeitsökonomie« stattzufinden, wie sie auch in der nicht-künstlerischen Bildproduktion erstrebenswert ist. Eine Tagline zum Reader könnte lauten: Wiedersehen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen von Wissen und Macht!

Eins ist sicher: Das ist sicherlich nicht der letzte deutschsprachige Visual Culture-Sammelband, der auf und unter Sofas rumliegt, da Holert und Terkessidis schon mit der Gründung des Institute for Studies in Visual Culture in Köln vorgesorgt haben.